16.04.1999

Wem gehört die Mitte

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Wem gehört die Mitte

AUCH nachdem der ehemalige Kommunist Massimo D'Alema am 21. Oktober 1998 die Regierung gebildet hat, setzt die italienische Linke ihre politischen Spiele mit alter Vehemenz fort. Nach zahlreichen Regierungsauflösungen und –umbildungen verfügt D'Alema heute nur noch über eine Scheinmehrheit. Das Land steht vor einem Wahlkampfmarathon. Doch die ständigen Veränderungen in der Regierungszusammensetzung sowie die fortgesetzte Wirtschaftskrise demobilisieren die linken Stammwähler.

Von GUIDO MOLTEDO *

Daß die statistischen Daten nicht rosig ausfallen würden, darauf war Italien gefaßt. Doch die Zahlen, die das Istituto centrale di statistica (Istat) im März veröffentlichte, haben die Menschen schwer geschockt. Das Wachstum des Jahres 1998 ist mit seinen 1,4 Prozent wohl das niedrigste in der gesamten Europäischen Union.

Das ist ein weiterer harter Schlag für die Mitte-links-Regierung, insbesondere für Ministerpräsident Massimo D'Alema, den ersten ehemaligen Kommunisten, der in einem westlichen Land Regierungschef wurde. Kein Wunder also, wenn sich sein Image in den Medien verschlechtert. Die Journalisten, die ihn bisher als „intelligenten“, „gewieften“ „Politik-Profi“ beschrieben hatten, fragen sich jetzt: „Ist D'Alema wirklich so geschickt?“ So zum Beispiel Luigi La Spina, als er jüngst in La Stampa die schwindende Popularität des Chefs der Linksdemokraten (DS, ehemals KPI) kommentierte.1 Wie immer geht die Wirtschaftskrise mit einer Vertrauenskrise einher.

Und 1999 verspricht nicht besser zu werden als 1998. Die italienische Staatsbank prognostizierte ein schwaches Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent. Man weiß, was diese blanken Zahlen bedeuten: Rückgang der Binnennachfrage, keine Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dabei liegt im Mezzogiorno, im Süden des Landes, die Arbeitslosenzahl immer noch bei 23 Prozent der aktiven Bevölkerung. Schwacher Trost: Mit diesem Problem ist in Europa nicht allein Italien konfrontiert. Mindestens 15 Millionen Menschen in der Union sind – offiziell – ohne Arbeit. So stand auch beim Kongreß der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) am 1. und 2. März in Mailand diese Frage im Mittelpunkt aller Debatten und Dokumente. Doch trotz des Vorsatzes, gemeinsam zu handeln, muß sich derzeit – im Hinblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament am 13. Juni – jeder allein der Herausforderung stellen.

In Rom steht dabei allerdings mehr auf dem Spiel als nur das Schicksal der Mitte- links-Regierung und ihrer eigenartigen Parlamentsmehrheit. Es geht um die politische Landschaft Italiens in den kommenden Jahren. Die Europawahl wird einen Wahlkampfmarathon zum Abschluß bringen. Am 18. April werden die Italiener über die völlige Abschaffung des Verhältniswahlrechts im Wahlgesetz abstimmen2 , und eine Woche später tritt das italienische Parlament zur Wahl des neuen Präsidenten der Republik zusammen. Außerdem wird am 14. Juni, einen Tag nach der Europawahl, in rund 5000 Gemeinden gewählt.

Mitten in dieser Phase der „Übersättigung“ – um einen Begriff aus der Umgebung des derzeitigen Staatschefs Oscar Luigi Scalfaro aufzugreifen – zeigen sich vor allem in der linken Mitte die Vorboten eines regelrechten Erdbebens. Parteien lösen sich auf, neue werden gegründet, so daß die ohnehin schon in drei Teile zerbrochene Linke (wenn man nur die Gruppierungen kommunistischer Herkunft zählt) sich jetzt an einem historischen Scheideweg befindet. Entweder sie übernimmt das „amerikanische Modell“, das der Demokratischen Partei also, jener Light-Partei, die zu nicht viel mehr als einem Auffangbecken für Wählerstimmen dient, oder sie verfolgt, nach französischem und deutschem Beispiel, den Weg der europäischen Sozialdemokratie, mit einer starken Identität und mächtigen geschichtlichen Wurzeln. In beiden Fällen verspricht die Zusammenarbeit zwischen dem Partito di Rifondazione Communista (PRC)3 und den Linksdemokraten schwierig, wenn nicht unmöglich zu werden.

Verwerfungen im linken Spektrum

DAS heißt, die „italienische Transition“, der Übergang von der ersten zur zweiten Republik, ist noch nicht abgeschlossen.4 Man kann sogar von einer „endlosen Transition“ sprechen – so der Titel eines Essais des katholischen Hochschullehrers Gabriele De Rosa.5 Mit der Aufgabe der Verhältniswahl zugunsten des Systems der Persönlichkeitswahl und dem Übergang zur Präsidentialrepublik, der von einer Mehrheit der Linken trotz ihrer traditionellen Ablehnung des Präsidentialsystems unterstützt wird, hat sich an der Front der staatlichen Institutionen keine Stabilität eingestellt. Auch an der Parteienfront, die durch die Antimafiaaktionen „Mani pulite“, durch Korruptionsverfahren, das Verschwinden der großen historischen Kräfte (KPI, Christdemokraten, Sozialistische Partei) und die Entstehung neuer Gruppierungen schwer erschüttert wurde, gibt es keine Stabilität.

Im Parlament sind zur Zeit 48 Gruppen und Grüppchen vertreten, dazu kommen 141 Parlamentarier der „gemischten Fraktion“: Hier sammeln sich die Abgeordneten, die sich von ihren Formationen getrennt haben. Allerdings sind die Zahlen nicht gerade dauerhaft. Fast jede Woche wechseln Abgeordnete von einer Gruppe in eine andere – oder Neugründungen entstehen. Das heizt die heftige, weit verbreitete Antiparteienstimmung in Italien an, so daß die Referendumskampagne zu einer letzten Attacke gegen die politischen Parteien mutiert. Dabei wird allgemein vergessen, daß es in der so verschrienen Zeit des Verhältniswahlrechts nur sieben oder acht große Parteien gab.

Ausgelöst wurde diese Auflösungsspirale durch das Ende der Regierung von Romani Prodi am 9. Oktober 1998. Die Neokommunisten von Rifondazione hatten damals der Regierung ihre Unterstützung entzogen, offiziell, weil innerhalb des Bündnisses keine Einigung über den Haushalt zustande kam, in Wirklichkeit aber aus Angst, in der strapaziösen Regierungswirklichkeit ihre Identität und Geschlossenheit einzubüßen. Doch der tiefste Grund für die Krise lag in der unterschwelligen – seit dem ersten Tag des Olivenbaum-Bündnisses6 spürbaren – knallharten Konkurrenz zwischen Prodi und D'Alema. Hierin liegt die wahre Ursache für das Auseinanderbrechen des Bündnisses.

Die Konfrontation zwischen diesen beiden führenden Politikern rührt nicht nur von einem gewöhnlichen Machtkampf her. Sie speist sich aus zwei sehr unterschiedlichen Politikkonzepten. Aus Prodis Sicht ist das Olivenbaum-Projekt mit einem „dritten Weg“ à la Blair verbunden und sollte in einer demokratischen Partei münden, wohingegen D'Alema die Identität der einzelnen Parteien erhalten will und das Olivenbaum-Bündnis als eine rein wahltaktische Koalition versteht.

Nach dem Sturz der Regierung Prodi war man auf der Linken fest überzeugt, daß bei vorgezogenen Neuwahlen die skandalöse Rechte wieder an die Macht kommen würde: die Partei des „italienischen Murdoch“ Silvio Berlusconi und die des Postfaschisten Gianfranco Fini. Doch der Wunsch, diese Gefahr zu vermeiden, hat eine noch größere Gefahr nach sich gezogen: die einer Enttäuschung der linken Wählerschaft. Die undurchsichtigen Verhältnisse, aus denen die Regierung D'Alema hervorging, hat das Land noch nicht vergessen, und so sorgte jüngst, bei den Regionalwahlen in Rom im Dezember 1998, die ungewöhnlich geringe Wahlbeteiligung für einen Sieg des postfaschistischen Kandidaten Silvano Moffa.

Das war ein Alarmzeichen. Mit der drohenden „Gefahr von rechts“ konnte man also die Wähler der Regierungsparteien nicht mehr ausreichend mobilisieren. Sie waren nicht mehr bereit, alles zu schlucken, um das Tandem Berlusconi- Fini zu stoppen. Schlimmer noch: Sie flüchteten sich in Wahlenthaltung. „Selbst das legendäre, ewig treue postkommunistische Wählerreservoir mit seiner hohen Wahlbeteiligung scheint Vergangenheit“, seufzt Alessandro Ramazza, der Parteisekretär der Linksdemokraten in Bologna. Diese bilden mit 50000 Mitgliedern die größte lokale Parteisektion in Europa. Jetzt ist auch sie in eine manifeste Krise geraten.

Um das Vertrauen seiner Mitbürger zu gewinnen, hat D'Alema, seit er Ministerpräsident ist, immer häufiger gemäßigte Standpunkte vertreten, vor allem auf dem internationalen Parkett, als sei er auf der Suche nach Legitimation, um seine kommunistische Vergangenheit vergessen zu machen.

Zwei Ereignisse waren besonders bezeichnend: Im Januar 1999 besuchte er den Vatikan, im März die USA. Vor dem Vatikanbesuch gab es eine Kampagne der Medien, die D'Alemas Empfang bei Johannes Paul II. als Erleuchtung eines ehemaligen Kommunisten auf dem Wege nach Damaskus darstellte. Dank dieser „Bekehrung“ so las man, werde der Ministerpräsident sich endlich den Lieblingsthemen der katholischen Obrigkeit zuwenden, sich der „Gleichstellung“ und der öffentlichen Finanzierung der mehrheitlich katholischen Privatschulen gegenüber offen erweisen. Vor dem Treffen im Weißen Haus veröffentlichte der italienische Regierungschef einen Artikel in der International Herald Tribune über „Die Zukunft der Nato und das Engagement Italiens“7 , der angeblich in den Kreisen von Präsident Clinton äußerst geschätzt wurde. War es Zufall oder gut abgestimmte Provokation, daß ausgerechnet am Tage, da D'Alema in den USA eintraf, ein amerikanisches Militärgericht den Piloten Richard Ashby freisprach, der am 3. Februar 1998 das Kabel einer Seilbahn in Cavalese durchtrennt und den Tod von zwanzig Menschen verursacht hatte?

Der Rückblick auf die Zeit der Regierungsbildung sowie die ersten Monate der Regierung D'Alema machen deutlich, in welch heikler und prekärer Situation sich die Linke behaupten muß. Wenn die Europawahlen bestätigen, was eine Meinungsumfrage ergab, die nach Prodis Gründung der Partei der Demokraten durchgeführt wurde, dann ist die gegenwärtige Koalition am Ende. Mit 12 bis 16 Prozent würden Prodis Demokraten den Linksdemokraten auf den Fersen sitzen, und diese wären, auf 18 Prozent zurückfallend, nur noch die zweitgrößte Partei Italiens nach Forza Italia.8 Außerdem würde Prodis Partei zweifellos den Partito Popolare Italiano (PPI), den kleinen Erben der Christdemokratischen Partei, schlucken.

Eine derartige Entwicklung würde die grausame Tatsache unterstreichen, daß D'Alemas „neue linke Mitte“ nur noch eine Scheinmehrheit hat, da andere Kräfte ihr mit Erfolg das Terrain streitig machen. Schon jetzt zeichnet sich eine Auflösung des PPI ab, und die Linksdemokraten sind ins Wanken geraten. Selbst in den Städten und Regionen, in welchen sie schon immer stark waren (in den „roten Städten“ wie Bologna, Florenz, Perugia; in den „roten Regionen“ wie Emilia Romagna, Toskana, Umbrien), könnten sie heuer erstmals überrundet werden.

Das Referendum wird nun als ein letzter Ansturm gegen die „Parteienherrschaft“ dargestellt. Mit Ausnahme des PPI, der Neokommunisten von Rifondazione und Umberto Bossis Lega Nord sind alle Parteien für die Änderung des Wahlgesetzes. Doch die zu erwartende hohe Zahl von Jastimmen wird paradoxerweise als Sieg Prodis interpretiert. Und als Sieg seiner Verbündeten: Dazu gehören Antonio Di Pietro (“Held“ der Operation „Mani pulite“, der mittlerweile mit den Stimmen der PDS Senator geworden ist) und die Bürgermeister der großen Städte – Francesco Rutelli in Rom, Massimo Cacciari in Venedig, Enzo Bianco in Catania –, die aufgrund ihrer erfolgreichen Stadtverwaltungsarbeit (oder richtiger durch ihr gutes öffentliches Image) über hohe Popularität verfügen und eine eigene Partei gegründet haben: „Centocittà“ (Hundert Städte).

Die Demokraten, die aus dem Zusammenschluß von Prodi, Di Pietro und Centocittà entstanden sind, versuchen, Wähler aus der linken Mitte herüberzuziehen, ähnlich wie Forza Italia, die Partei von Silvio Berlusconi, die wie ein Pilz aus dem Vakuum der rechten Mitte hervorgesprossen ist. Der Vergleich stammt von Prodi selbst. Zum Symbol seiner neuen Partei hat er einen Esel gewählt, das Wahrzeichen der US-amerikanischen Demokratischen Partei. Deutlicher könnte man sich kaum von der europäischen Sozialdemokratie distanzieren.

Die Gründung der Demokratischen Partei hat die Linke buchstäblich in Panik versetzt. Prodis erbittertste Gegner, die Linksdemokraten und der PPI, sind seine engsten Verbündeten von einst. Das heißt nichts anderes, als daß die Mitte-links- Parteien derzeit ein schizophrenes Dasein führen: Während sie im Hinblick auf die Europawahl heftig konkurrieren, treten sie zu den Gemeindewahlen vereint an. Und als wäre das nicht genug, kämpft der PPI beim Referendum für das Verhältniswahlrecht, während D'Alemas Linksdemokraten und Prodis Demokraten dagegen sind. Für die Präsidentenwahl zu guter Letzt hat die linke Mitte bislang keinen gemeinsamen Kandidaten nominiert. Noch ist alles möglich, und es sind diverse Namen im Gespräch, u.a. D'Alema. Alles in allem ist die Stimmung gedrückt und undurchsichtig.

Gewiß eröffnet die Nominierung Romano Prodis zum EU-Kommissions-Präsidenten neue Perspektiven und überläßt auf innenpolitischer Ebene Massimo D'Alema das Feld. Doch lastet heute „auf der politischen Szene Italiens ein Eindruck von Zerfall und Auseinanderbrechen“, wie der Politologe Ernesto Galli della Loggia hervorhebt.9 Das Neuartige daran ist, daß all dies geschieht, während die Linke an der Macht ist. Zum erstenmal in der Geschichte des Landes.

dt. Sigrid Vagt

* Leitartikler der Tageszeitung il manifesto, Rom.

Fußnoten: 1 La Stampa, Turin, 2. März 1999. 2 Das derzeit gültige Wahlgesetz für die Wahl des Abgeordnetenhauses sieht eine Kombination von Persönlichkeitswahl und Verhältniswahl vor, wobei 25 Prozent der Abgeordneten nach dem Verhältniswahlsystem gewählt werden. 3 Der Partito di Rifondazione Comunista (PRC – Partei der kommunistischen Neugründung) ist eine der beiden Parteien, die aus der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) hervorgegangen sind. Die Mehrheit gründete 1991 den Partito Democratico della Sinistra (PDS – Demokratische Partei der Linken). 4 Vgl. Rossana Rossanda, „Ausnahmefall Italien“, Le Monde diplomatique, Dezember 1998. 5 Gabriele De Rosa, „La transizione infinita“, Bari (Laterza) 1997. 6 Das bei den Parlamentswahlen von 1996 erfolgreiche „Olivenbaum“-Bündnis umfaßt den PDS Massimo d'Alemas, die Grünen, den Partito Popolare Italiano (PPI) – der ebenfalls aus der Democrazia Cristiana hervorgegangen ist – und eine Fraktion des Partito Socialista (Socialisti Italiani). 7 The International Herald Tribune, Rom, 22. Januar 1999. 8 Bei den Parlamentswahlen im April 1996 hatte die Demokratische Partei der Linken 22 Prozent der Stimmen erhalten, Forza Italia dagegen 23,8 Prozent. 9 Ernesto Galli della Loggia, „Il medioevo della politica“, Corriere della Sera, Mailand, 25. Februar 1999.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von GUIDO MOLTEDO