Pathogenese des Gesundheitswahns
DER in den industrialisierten Ländern vorherrschende Gesundheitswahn hat pathologische Züge entwickelt. Die Gesundheitsversorgung schafft unablässig neue Behandlungsbedürfnisse. Aber mit wachsendem Angebot entwickeln die Menschen auch immer mehr neue Probleme, Nöte und Krankheiten. Man verlangt vom Fortschritt, dem körperlichen Leiden ein Ende zu setzen, den Erhalt jugendlicher Frische zu garantieren und das Leben ins Endlose zu verlängern. Dabei übersehen die Menschen beinahe, daß Alter, Schmerz un Tod zur condition humaine dazugehören.
Von IVAN ILLICH *
Eine Darstellung der Medizin unserer westlichen Welt hat unbedingt in Bologna zu beginnen. Hier vollzog sich die Trennung der „ars medendi et curandi“ von den Disziplinen der Theologie, der Philosophie und der Jurisprudenz; hier erlangte die medizinische Zunft, gestützt auf eine kleine Auswahl der Schriften von Galenus1 , ihre Souveränität über ein eigenständiges Wissensfeld jenseits von Aristoteles und Cicero. Und hier wurde eine Fragmentierung überwunden, die es in der islamischen Welt nie gegeben hat. Im Islam nämlich existiert der Titel des Hakim, der den Wissenschaftler, den Philosophen und den Heilkundigen in sich vereint.
In Bologna erlangte die Heilkunde nicht nur ihre universitäre Autonomie, hier wurde auch das protomedicato verbindlich eingeführt, eine Art Selbstkritik der ärztlichen Praxis. Damit war die Basis für ein höchst zwiespältiges Gesellschaftsprojekt gelegt, in dessen Verlauf allmählich jene Grenzen in Vergessenheit gerieten, innerhalb derer man das Leiden eher bekämpfen als ausschalten, den Tod eher akzeptieren als verdrängen sollte.
In diese prometheische2 Versuchung geriet die Medizin allerdings bereits in einem frühen Stadium. Noch vor Gründung der Universität Bologna im Jahre 1119 argumentierten jüdische Ärzte in Nordafrika dagegen, daß sich ihre arabischen Kollegen vor den Sterbenden zurückzogen. Es dauerte lange, bis dieser Grundsatz seine Gültigkeit verlor: Noch 1911, im Jahr der großen Reformen in der US- amerikanischen medizinischen Ausbildung, lehrte man die angehenden Ärzte, das „hippokratische Antlitz“ zu erkennen, also die Anzeichen dafür, daß man es nicht mit einem Patienten, sondern mit einem Sterbenden zu tun hatte.
Ein solches Realitätsdenken gehört heute der Vergangenheit an. Aber in Anbetracht der unzähligen Nichttoten und des modernisierten Elends, die der Fortschritt hervorgebracht hat, wird es Zeit, damit aufzuhören, eine Heilung von der „Krankheit Alter“ zu erhoffen. Vielmehr sollte man in die Medizin ein Realitätsdenken zurückbringen, das den technischen Fortschritt dem Gebot unterordnet, Schmerz und Sterben zu akzeptieren.
Wenn wir von der Gesundheit als Metapher sprechen, sind vorab zwei Punkte zu klären. Nicht nur der Begriff der Gesundheit hat einen historischen Kontext, sondern auch der Begriff der Metapher. Das erste versteht sich wohl von selbst; das zweite habe ich von dem Essayisten Northrop Frye3 gelernt. Die Metapher Gesundheit hat sehr unterschiedliche Bedeutungen: Bei den Griechen war die Gesundheit in der Göttin Hygieia4 verkörpert, bei den Frühchristen in der Göttin Hygia; bei den Christen des Mittelalters schließlich stand der Gekreuzigte für das Heilsversprechen. Doch in einer Welt, in der das instrumentelle Denken die Wissenschaft durchdrungen hat, bringt die Metapher ganz andere Bedürfnisse hervor. Wenn man davon ausgeht, daß die Gesundheit eine geschichtsgebundene, sich wandelnde Metapher ist, bleibt die Frage, ob man heute noch von einer gesellschaftlichen Metapher Gesundheit sprechen kann.
Mitte des 20. Jahrhunderts wurde unter „Streben nach Gesundheit“ noch etwas ganz anderes verstanden. Heutzutage ist ein Mensch, der Gesundheit möchte, vom allgemeinen Verständnis her ein Subsystem der Biosphäre, ein Immunsystem, das kontrolliert, geregelt und optimiert werden muß, und zwar als „ein Leben“. Die Frage, was „lebendig sein“ letztlich bedeutet, wird nicht gestellt. Indem das Individuum auf „Leben“ reduziert wird, stürzt es in ein Vakuum, an dem es zu ersticken droht. Will man 1999 über Gesundheit sprechen, muß man sich klarmachen, daß Streben nach Gesundheit dem Streben nach Heil entgegensteht, daß es eine gesellschaftliche Liturgie, ein das Individuum auslöschender Götzendienst ist.
1974 schrieb ich „Die Nemesis der Medizin“5. Dabei hatte ich die Medizin als Beispiel gewählt. Ich wollte mit dem Buch die Diskussion darüber fortsetzen, wie moderne Institutionen bestimmte Mythen hervorbringen: als Gewißheiten zelebrierende gesellschaftliche Liturgien. Auf dieselbe Weise hatte ich auch die Schule6 , den Verkehr und das Wohnen untersucht; ich wollte ihre verborgenen und unhintergehbaren Funktionen untersuchen, und zwar weniger das, was sie hervorbringen, als das, was sie verkünden: den Mythos des Homo educandus, den des Homo transportandus, also letztlich den Mythos des segmentierten Menschen.
Ich hatte die Medizin als Beispiel gewählt, um auf verschiedenen Ebenen die Kontraproduktivität sämtlicher Nachkriegsinstitutionen aufzuzeigen: auf technischer Ebene die therapeutische Synergie, die neue Krankheiten erzeugt; auf sozialer Ebene die Entwurzelung durch die Diagnostik, die den Kranken, den Geisteskranken, den Alten und sogar den langsam Verlöschenden nicht in Ruhe läßt; und vor allem auf kultureller Ebene jenes Fortschrittsversprechen, das eine Negation der condition humaine und eine Zurückweisung der Leidensfähigkeit bedeutet.
Abhören statt zuhören
IN der „Nemesis der Medizin“ schrieb ich einleitend, daß das Gesundheitswesen die Gesundheit bedroht. Fünfundzwanzig Jahre später kann ich diesen Satz aus zwei Gründen nicht mehr unterschreiben. Die Ärzte sind nicht mehr Herr über den Zustand der Biologie. Wenn es überhaupt noch einen Vertreter der ärztlichen Zunft unter den „Entscheidungsträgern“ gibt, so besteht seine Rolle darin, die Forderung des Industriesystems nach einer Anhebung des allgemeinen Gesundheitszustands zu legitimieren. Dabei ist die „Gesundheit“ keine Erfahrungs- und Empfindungsgröße mehr. „Gesundheit“ bezeichnet heute ein kybernetisches Optimum. Die Gesundheit wird gedacht als ein Gleichgewicht zwischen dem sozioökologischen Makrosystem und der Population seiner Subsysteme vom Typus Mensch. Ein Individuum aber, das sich dieser Optimierung unterwirft, negiert sich selbst.
Heute würde ich meine Argumentation wie folgt einleiten: „Das Streben nach Gesundheit ist zum entscheidenden krank machenden Faktor geworden.“ Denn heute haben wir es mit einer kontraproduktiven Verfassung des Gesundheitswesens zu tun, von der ich damals noch nichts ahnte.
Dieses Paradoxon tritt klar zutage, sobald man die Berichte über den Fortschritt der Gesundheitslage genauer untersucht, die sich durch eine schiefe Optik auszeichnen: Während das eine Auge auf die Rückläufigkeit der Mortalitätsraten und Krankheitsstatistiken starrt und diese als Ergebnis des medizinischen Fortschritts interpretiert, ist das zweite Auge auf die anthropologischen Untersuchungen gerichtet, die uns erzählen, wie es den Menschen wirklich geht.
Der Kontrast zwischen der vorgeblich objektiven und der subjektiven Gesundheit ist also nicht zu übersehen. Je größer das „Gesundheits“-Angebot ist, um so mehr klagen die Menschen über Probleme, Nöte und Krankheiten, wohingegen die „unterentwickelten Menschen“ ihre Lage problemlos akzeptieren. Auf die Frage, wie es ihnen geht, antworten sie: „Gut, den Umständen, dem Alter, meinem Karma entsprechend.“ Mehr noch: Je mehr das Überangebot an klinischer Versorgung auf politische Forderungen aus der Bevölkerung zurückgeht, um so stärker wird ein Mangel an Gesundheit empfunden. Mit anderen Worten, die Angst zeigt den Grad der Modernisierung und mehr noch der Politisierung an. Die gesellschaftliche Akzeptanz der „objektiven“ Diagnostik wirkt auf der subjektiven Ebene krank machend.
Gerade jene Ökonomen, die ein solidarisches soziales Wirtschaftsmodell verfechten, haben das gleiche Recht aller auf Gesundheit zum obersten Ziel erkoren. Entsprechend sehen sie sich gezwungen, für alle individuellen therapeutischen Maßnahmen finanzielle Leistungsbegrenzungen zu akzeptieren. Gerade sie liefern eine ethische Interpretation für die Neudefinition des Krankheitsbegriffs, die in der Medizin nun vollzogen wird. Diese Umdefinition bringt – in den Worten von Professor Sajay Samuel von der Universität von Bucknell – einen „Übergang vom physischen Körper zum fiskalischen Körper“ mit sich. Tatsächlich werden die Kriterien bei der Frage, ob und wie ein Patient behandelt werden kann und soll, zunehmend zu finanziellen Parametern.
Jahrhundertelang ist der Diagnostik eine eminent therapeutische Funktion zugekommen. Bei der Begegnung von Arzt und Patient stand das Reden im Vordergrund. Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die Arztvisite ein Gespräch. Der Patient erzählte und konnte damit rechnen, beim Arzt ein besonderes Gehör zu finden; er konnte noch von seinen Empfindungen und Wahrnehmungen erzählen, von den Schwankungen seines Befindens, den Veränderungen seiner Säfte, der Desorientierung seiner Sinne und von furchterregenden Gerinnungsprozessen. Liest man die Aufzeichnungen von Ärzten aus dem 16. und 17. Jahrhundert, so hat man bei jeder Notiz eine griechische Tragödie vor Augen. Die ärztliche Kunst war die des Zuhörens. Sie nahm die Rolle wahr, die Aristoteles in seiner Poetik dem Zuschauer zugedacht hatte. Das tragische Moment entsteht bei Aristoteles aus Satzmelodien,Stimmodulationen und Gesten, und nicht allein aus dem Wortlaut. Ähnlich mimetisch antwortete der Arzt dem Patienten. Und für den hatte diese mimetische Diagnostik eine therapeutische Funktion. Diese Resonanzbeziehung ging in der Folge verloren, das Zuhören wurde abgelöst durch das Abhören, die vorgegebene Ordnung durch eine konstruierte Ordnung – nicht nur in der Medizin.
Die Ethik der Werte ersetzt die Ethik von Gut und Böse, das gesicherte Wissen obsiegt über den Begriff der Wahrheit. In der Musik fällt der hörbare Wohlklang, der die kosmische Harmonie bezeugen konnte, der Akustik zum Opfer, einer Wissenschaft, die lehrt, wie sinusförmige Kurven vom Medium wahrgenommen werden.
Die Verwandlung des Arztes, der sich Klagen anhört, in einen Mediziner, der eine Krankheit diagnostiziert, wird nach 1945 vollends auf die Spitze getrieben. Dem Patienten wird beigebracht, sich selbst durch die medizinische Brille zu betrachten, sich im buchstäblichen Sinne einer Autopsie zu unterziehen: sich mit eigenen Augen zu betrachten. Diese Selbstvisualisierung bedeutet den Verzicht des Patienten darauf, sich überhaupt noch zu fühlen. Röntgenbilder, Tomographien und der Ultraschall der siebziger Jahre helfen ihm, sich mit jenen anatomischen Tafeln zu identifizieren, die in seiner Kindheit noch im Klassenzimmer hingen. Der Arztbesuch trägt damit bei zu einer Entkörperlichung des Ich.
Wer an der Wende zum nächsten Jahrtausend die Begriffe Gesundheit und Krankheit als gesellschaftliche Metaphern analysieren will, muß zur Kenntnis nehmen, daß diese durch das ärztliche Ritual vollzogene gedankliche Auto-Abstraktion bereits der Vergangenheit angehört. Heute liefert die Diagnostik kein Bild mehr, das sich als realistisch ausgibt, sondern nur noch ein Gewirr von Wahrscheinlichkeitskurven, die in der Summe ein Profil ergeben.
Die Diagnostik arbeitet nicht mehr mit dem Gesichtssinn. Vom Patienten wird heute eine kühle rechnerische Haltung erwartet. Die meisten Diagnosefaktoren beziehen sich nicht mehr auf ein je konkretes Individuum; jede Beobachtung integriert den Einzelfall in diese oder jene „Population“ und beschreibt eine Eventualität, ohne den einzelnen wirklich darstellen zu können. Die Medizin hat die Fähigkeit eingebüßt, zu entscheiden, was für einen konkreten Patienten das Beste ist. Was die Behandlung betrifft, so wird die Diagnose für den Patienten letzten Endes zum Pokerspiel.
Ich möchte hier als Beispiel die vorgeburtliche genetische Untersuchung anführen, mit der sich eine Kollegin und Forscherin, Silja Samerski von der Universität Tübingen, eingehend beschäftigt hat. Ich konnte kaum glauben, was da, nach Auskunft von einem Dutzend Protokollen, bestimmten Frauen in Deutschland zugemutet wird. Die Untersuchungen werden von einem Arzt vorgenommen, der eine vierjährige Fachausbildung zum Genetiker hat. Er enthält sich strikt jeder eigenen Meinung, um dem Schicksal eines Tübinger Kollegen zu entgehen, der 1997 in letzter Instanz zu lebenslangen Unterhaltszahlungen für ein mißgebildetes Kind verurteilt wurde: Er hatte den Fehler begangen, einer werdenden Mutter zu sagen, daß die Wahrscheinlichkeit einer solchen Fehlbildung sehr gering sei, statt sich auf die Bezifferung der Wahrscheinlichkeit zu beschränken.
Bei diesen Beratungsgesprächen erhält man Information über die Befruchtung sowie einen Überblick über die Mendelschen Gesetze7 , schließlich wird ein genetischer Familienstammbaum entworfen, aus dem sich dann eine Gefahrenliste ergibt. Das Gespräch endet mit einem Gang durch den Garten der „Mißgeburten“. Fragt die Frau, ob dieser oder jener Fall eintreten könne, antwortet der Arzt: „Das läßt sich nicht mit Sicherheit ausschließen.“ Mit Sicherheit allerdings hinterläßt eine solche Antwort ihre Spuren. Die Zeremonie hat unvermeidlich symbolische Wirkung: Sie zwingt die Schwangere, eine „Entscheidung“ zu treffen, indem sie sich selbst und ihr künftiges Kind mit einer Konfiguration aus Wahrscheinlichkeiten gleichsetzt.
Hier geht es nicht um das Problem einer Entscheidung für oder gegen eine Fortsetzung der Schwangerschaft, sondern darum, daß sich die Beratene (und auch ihr Kind) mit einem „Wahrscheinlichkeits“-Kalkül identifizieren muß: Ihre Entscheidung wird zu einer Art Lotteriespiel. Man zwingt sie so zu einem Entscheidungs-Oxymoron8 , stellt sie vor eine Wahl, die menschlich sein soll, in Wahrheit aber zur unmenschlichen numerischen Kästchenentscheidung wird. Es handelt sich hier nicht mehr um die Entkörperlichung des Ichs, sondern die Einheit des Individuums wird negiert. Der Patient wird zum Psycho-Pompos9 einer Liturgie, die ihn ins Reich der Statistik hinübergeleitet. Und all dies „auf der Suche nach Gesundheit“.
An diesem Punkt wird es unmöglich, die Gesundheit weiterhin als Metapher zu behandeln. Metaphern sind Brücken von einem semantischen Ufer zum anderen. Als Bilder haben sie es an sich, daß sie hinken. Doch es gehört zu ihrem Wesen, daß sie ein Licht auf den Ausgangspunkt des Brückenbogens werfen. Das aber ist nicht mehr der Fall, wenn Gesundheit nur noch als Risikooptimierung gilt. Schon der Ausgangspunkt akzeptiert weder den Körper noch das Ich. Beide haben sich im Streben nach Gesundheit aufgelöst. Wie kann man Angst noch körperlich erfahren, wenn man des Körpers beraubt ist? Wie kann man vermeiden, sich in eine Folge von selbstmörderischen Entscheidungen treiben zu lassen? Um mit einem Stoßgebet zu enden: „Laß uns nicht der Diagnostik anheimfallen, sondern erlöse uns von allen Übeln der Gesundheit.“
dt. Eveline Passet
* Wissenschaftlicher Publizist, Verfasser unter anderem von „Klarstellungen. Pamphlete und Polemiken“, aus dem Engl. v. Helmut Lindemann, 1996; „Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens“, aus dem Engl. v. Thomas Lindquist und Johannes Schwab, 1995; „Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit“, aus dem Engl. v. Ruth Kris- Rettenbeck und Barbara Duden (alle München, C. H. Beck); „Fortschrittsmythen“, aus dem Engl. v. Thomas Lindquist, Reinbek (Rowohlt) 1978.