16.04.1999

Transparenz statt Gleichheit, Netzzugang statt Freiheit

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Transparenz statt Gleichheit, Netzzugang statt Freiheit

ALLERORTEN rühmt man die vielfältigen Vorzüge des Internet: Das Netz fördere Solidarität und Entwicklung, es könne die weltweite soziale Ungleichheit abbauen. Ob diese Technologie aber tatsächlich der Demokratie dient, ist äußerst zweifelhaft. Denn Freiheit wird als Freiheit des Zugangs verstanden, was angesichts der Kosten für den Server Theorie bleibt, und Gleichheit als die Gleichheit der Nutzer, ohne Rücksicht auf Unterschiede im Ausbildungsniveau. Die Funktion des Internet, die Vermittlung, wir zu seiner Substanz. Die Kommunikation per e-mail ist nicht nur eine Zwischenform von schriftlicher und mündlicher Verständigung, hier vermischen sich auch Öffentlichkeit und privater Bereich. Virtualität heißt das neue Zauberwort, und wo das Politische zum Anhängsel des Technischen wird, spielen auch ökonomische Fragen keine Rolle mehr.

Von LUCIEN SFEZ *

Kommunikationstechnologie ist heute von zentraler Bedeutung, und ihr Einfluß macht sich allenthalben bemerkbar, angefangen beim Berufsethos der Journalisten bis hin zur Regulierung der Wirtschaft. Umgekehrt muß man feststellen, daß der Einfluß des Staats auf Regulierungsmechanismen ständig abnimmt, zugunsten der großen Industriekonzerne: Regulierung geschieht zunehmend durch den Markt. Manche Staaten versuchen, dieser Tendenz entgegenzuwirken, wie etwa die US-amerikanische Regierung in ihrem Rechtsstreit gegen Microsoft.

Es ist von entscheidender Bedeutung, daß in Zukunft wieder eine sinnorientierte Diskussion geführt wird. Denn derzeit werden zahlreiche Analysen veröffentlicht, die die Beschäftigung mit ökonomischen Fragen vermeiden und das Politische zum Anhängsel des Technischen machen. Das Politische wird somit zum bloßen Träger des Technischen, oder es mutiert sogar zur bloßen Technik.

Diese Analysen vertreten zwei unterschiedliche Ansichten: Die einen lehnen das Fernsehen und den Journalismus, so wie er heute betrieben wird, generell ab; die anderen hingegen geben sich als rückhaltlose Anhänger der „vielversprechenden“ Kommunikationsnetze.

Zur aktuellen Kritik am Fernsehen und am Austausch von Höflichkeiten unter Journalisten läßt sich nur bemerken, daß sie nicht neu ist. Wie die Journalisten sich gegenseitig die Bälle zuspielen, ist wohlbekannt und wurde bereits von Serge Halimi scharfsinnig analysiert1 .

Andere Untersuchungen ergehen sich in ebenso systematischen wie einseitigen Lobpreisungen der Kommunikationsnetze. Sie sprechen von einer veritablen Cyberkultur, einer wohligen Interaktivität zwischen Mensch und Maschine, aber auch zwischen allen Menschen, denn nun hätten alle einen gleichberechtigten Zugang zum Universalwissen, unabhängig von korrupten Journalisten, intellektuellen Dummschwätzern, eingebildeten Experten und anderen kulturellen Vermittlern. Endlich sei wirkliche Meinungsfreiheit möglich, und computergestützte Umfragen könnten endlich eine direkte Demokratie ermöglichen oder täten dies bereits.2

Um technische Neuerungen einzuführen, wird seit über dreißig Jahren die gleiche Argumentation gebraucht.3 So galt die Einführung des Fernsehens als „die Entstehung des globalen Dorfs“. Der Bildschirm würde ein Gemeinschaftsgefühl herstellen, hieß es, die Gefahr von Kriegen reduzieren, die Gräben zwischen Zivilisten und Militärs zuschütten und in „allen nichtindustrialisierten Ländern wie China, Indien und Afrika“ rasche Fortschritte herbeiführen.4 Soweit die Versprechungen der sechziger Jahre.

Ende der siebziger Jahre war es die Deregulierung der Telekommunikationsmärkte, die die Freiheit schlechthin und ein harmonisches Miteinander versprach – gegen den gefräßigen Staat, der alles und jeden zu verschlingen droht.5 In den achtziger Jahren wurden Videorekorder, Minitel und Kabelfernsehen mit Freudenschreien begrüßt. Endlich Kultur für alle!

In den neunziger Jahren gibt es nun Girlanden und Triumphbögen für das Internet und die neuen Datenautobahnen. US-Vizepräsident Al Gore bezeichnet sie als eine „universelle Dienstleistung, die allen Mitgliedern unserer Gesellschaften zugänglich sein wird und damit eine Art globale Konversation ermöglicht, in der jeder den Mund auftun kann. Die globale Infrastruktur der Kommunikation wird nicht mehr nur eine Metapher für eine funktionierende Demokratie sein, sie wird die Demokratie ganz real mit neuem Leben erfüllen, weil der Bürger an der Entscheidungsfindung beteiligt wird. Sie schafft neue Möglichkeiten für die Zusammenarbeit der Nationen. Ich sehe dies als neues Zeitalter athenischer Demokratie.“

Indem die neuen Kommunikationsmöglichkeiten den privaten Nutzern zugute kommen, werden Entwicklung und Solidarität gefördert und die weltweiten sozialen Unterschiede abgebaut. Nicholas Negroponte, Leiter des Media Lab am Massachussetts Institute of Technology (MIT), berichtet ebenso wie Microsoft- Gründer Bill Gates von riesigen Fortschritten auf den Gebieten Forschung, Lehre und Kunst. Viele Fragen habe man lösen können, oder man sei ihrer Lösung ein gutes Stück näher gekommen.6 Und französische Essayisten stimmen diesen Analysen blindlings zu, ohne die geringste kritische Distanz.

Stets wird in diesen Untersuchungen Vorher und Nachher miteinander verglichen, und zur Veranschaulichung zitiert man immer die gleichen Beispiele. Das Vorher ist eine dunkle Hölle der Unwissenheit, das Nachher vom Licht der Aufklärung durchflutet. Oft wird die Erfindung des Buchdrucks, der die Welt verändert habe, ins Feld geführt. Geflissentlich übersieht man dabei die bemerkenswerten Analysen von Elizabeth Eisenstein und Jack Goody. Die beiden Historiker haben gezeigt, daß eine Technik, um sich durchzusetzen und die Ordnung der Dinge zu verändern, einen komplizierten Prozeß gesellschaftlicher und politischer Vermittlung durchlaufen muß, in den Interessenkonflikte und symbolische Konflikte hineinspielen.7

All die bisherigen Untersuchungen, seien sie lobend oder kritisch, rechts oder links, erweisen sich somit als Vereinfachung eines weitaus komplexeren Zusammenhangs. Platitüden und Stereotype überbieten sich, und die Medien verbreiten diese vereinfachenden Darstellungen allerorten, auch wenn sie nicht immer selbst für die Simplifizierung verantwortlich sind. Jeder Versuch, das Phänomen „Kommunikationsnetz“ in seiner Komplexität zu durchdringen, muß zuallererst darauf bedacht sein, sich nicht ins Spiel der Medien verwickeln zu lassen und sich ein anderes Instrumentarium zuzulegen, um die Realität zu analysieren. Denn der Einfluß der Medien reicht so weit, daß auch ein Leser, der sich über ihre Mängel völlig im klaren, ihrer Praktiken völlig bewußt und Presse wie Fernsehen gegenüber kritisch eingestellt ist, seine Informationen gleichwohl aus ebendiesen Medien bezieht und insofern von ihnen abhängig bleibt. Er bewegt sich auf dem Niveau der medialen Tatsachendarstellung und beurteilt lediglich, inwiefern die Medien einen Sachverhalt richtig oder falsch, lücken- und lügenhaft präsentieren, aber er dringt nicht in die Tiefenstrukturen des Systems vor.

Latente Existenz

WENN wir uns den Sinn und die Zirkulation von Sinn aneignen wollen, müssen wir uns Zeit für Umwege nehmen, Zeit für langsames Voranschreiten, also Zeit für eine epistemologische Analyse. In unserem Fall bedeutet dies, daß man die Medien mit nichtmedialen Verfahren untersuchen muß. Auf dem Feld der Kenntnisse über wirtschaftliche Strukturen gibt es zwar einige Fortschritte, so daß Lösungen für die Regulierung der Finanzspekulation der großen internationalen Netze bereits vorstellbar sind. Eine kritische Analyse kann sich jedoch nicht auf den wirtschaftlichen Aspekt beschränken. Wir müssen zunächst versuchen, die Grundidee, das Konzept des Netzes zu umreißen, denn hier liegt der Schlüssel zum Ganzen.

Das Netz steht im Zentrum der Kommunikationstechnologien, es bildet dessen Hauptstruktur. Seine Bedeutung liegt in der traditionellen bis antiquierten Konnotation des Begriffs und der Vielfältigkeit seiner Anwendung in der Vergangenheit. Ohne im einzelnen die Genealogie des Netzes nachzeichnen zu wollen, sei erwähnt, daß es zur Jagd und zur Fischerei diente, Eingang in die Ornamentik fand und später in der Urbanistik als Metapher für städtische und in der Medizin für neuronale Strukturen fungierte. Der sternförmige Aufbau eines Netzes durch Maschen, ein Bild für Verbindungen, kehrt wieder im Telefonnetz mit seinen Vermittlungsstellen, das sich endlos über den Globus fortwebt und zum „Web“ zusammenschließt. Das Netz ist das Sinnbild unserer heutigen Gesellschaft schlechthin.

Indem es Reichtum und Fülle suggeriert, verspricht es dem Bürger das Blaue vom Himmel. Aber das konkrete Netz dient zum Beutefang: In der Gestalt des zum Symbol gewordenen „Internet“ sammelt es Information, wo immer es sie findet, und bietet die Möglichkeit, sie zu speichern und auszutauschen.

Nicht mehr die Größe des Netzes ist ausschlaggebend, sondern die Anzahl der Zugriffe auf seine Knotenpunkte, d.h. die Anzahl der Telefonverbindungen, sowie seine Virtualität im Sinn von Potentialität und latenter Existenz: Nur wenn die Benutzer damit arbeiten, existiert es.8 Dies verleitet zu der irrtümlichen Annahme, das Netz sei immateriell. Aber das Netz verändert den Bezug zu Raum und Zeit, denn der Zugriff auf die Information, d.h. die Verbindung, findet ohne Zeitverzögerung statt. Das Netz gilt als raum-zeitlicher Operator: Sämtliche Wartezeiten bei der Informationsbeschaffung und –übertragung, die bis vor kurzem noch ein Problem waren, entfallen nun. Doch das ist noch nicht alles. Das Netz ist zudem nichthierarchisch organisiert. Als kybernetischer Mechanismus zeichnet es sich wesentlich durch Interaktivität aus: Seine Flexibilität erlaubt die Verbindung heterogener Felder, so daß die Zuschaltung eines Teilnehmers nicht von einer bestimmten Position abhängt, sondern nur von seiner momentanen Handlung. Das Netz ist, wie Jean-Marc Offner sagt, ein „dezentralisierter Koordinator“. Alle diese Merkmale sind selbstverständlich als positiv zu bewerten.

Der Nutzen des Internet soll hier keineswegs in Abrede gestellt werden, aber es gilt, einige Argumente für das Internet zu widerlegen. So soll es im folgenden darum gehen, den eigentümlichen Status des Internet im Unterschied zu den herkömmlichen Kommunikationstechniken zu erfassen. Das Internet ist ein Mittler, es wird von seinen Verfechtern als Objekt- Subjekt, als Produzent einer wesentlichen Vermittlungsleistung gefeiert.9

Im allgemeinen unterscheidet man streng zwischen dem Geschriebenen und dem Gesprochenen; die gängige Lehre stellt dies als eine zeitliche Abfolge dar. Das gesprochene Wort sei durch die Schrift abgelöst worden, und die traditionellen Gesellschaften gingen in rationale Gesellschaften über, die durch die Weiterentwicklung der Technik und insbesondere der Kommunikationstechniken ständig verändert würden. Der sozialen Revolution durch den Buchdruck folge heute eine weitere Umwälzung durch die elektronische Datenverarbeitung.

Unter diesem Blickwinkel ist die augenblickliche Etappe nur die logische und revolutionäre Folge in einem Transformationsmechanismus, der die verschiedenen Gesellschaftsformen mit dem technologischen Wandel im Kommunikationsbereich verknüpft, da dieser die Wissensübermittlung gewährleiste. Die durch mündliche Überlieferung geprägte Kultur liege seit langem hinter uns, und nun seien wir dabei, uns auch von der Kultur des gedruckten Worts, ja von der Schrift überhaupt zu verabschieden.

Die Art, wie das Internet gebraucht wird, widerlegt diese Interpretation jedoch. Während beim Senden und Empfangen von e-mails die Schrift durchaus eine Rolle spielt, sind die Transferbedingungen jedoch die der mündlichen Kommunikation. Und zwar insofern, als die Form der Nachrichten (meist Auskünfte oder Informationsanfragen) eher einem Zwiegespräch mit spezifischem Konversations- Code ähnelt als einem Text, der sich an die Allgemeinheit wendet und dessen Sprachregeln (Grammatik, Syntax und Semantik) von anonymen Institutionen vorgeschrieben sind. Gleichzeitig ist der Informationsaustausch jedoch schriftlich fixiert, da das „private“ Gespräch in den Speicher der vermittelnden Instanz Computer geschrieben wird und dort als virtuell allgemein zugängliche Datei fortexistiert.

Das erste Gegensatzpaar „mündlich – schriftlich“, das hier zu einer Zwischenform wird, führt somit zu einem zweiten Gegensatzpaar „privat – öffentlich“, das ebenfalls prägend für die Struktur des Internet ist.

Über das Internet kann jeder mit jedem „sprechen“ (nicht „schreiben“), egal wie weit der andere entfernt sein mag. Es bietet die Möglichkeit des privaten Kontakts zwischen zwei Gesprächspartnern, zum anderen kann aber auch ein Newsgroup- Abonnent seine Nachrichten auf eine öffentliche Informationsquelle oder Homepage übertragen, zu der potentiell jeder Internetsurfer Zugang hat.

Je nach Standpunkt beschwören die Internet-Jünger den einen oder den anderen dieser Aspekte als das grundlegende Merkmal des Web. Mal steht das Miteinander und der Kontakt zwischen mehreren Individuen im Vordergrund, mal der (universelle) Zugang zu einem (universellen) Wissen. Beide Aspekte hängen jedoch eng miteinander zusammen.

Das Internet ist auch ein Mittler zwischen dem Allgemeinen und dem Universellen.10 Es handelt sich um einen ständigen Übergang vom Einzelnen zum Universellen, wobei Universalität keineswegs gleichbedeutend ist mit Allgemeinheit. Allgemeinheit stellt eine Summe von x Individuen dar, seien dies nun Gegenstände, Abstraktionen oder Menschen. Der Begriff zielt nicht auf das Gesamte, sondern auf die große Zahl. Allgemeinheit ist ein empirischer, relativer, kontingenter Terminus aus dem Bereich der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Statistik. Allgemeinheit ist auch ein zweckrationaler Begriff: wenn gezeigt werden soll, daß allgemeine Gültigkeit für einen bestimmten Zweck ein hinreichender Beweis sei. Bereits Aristoteles hat diese Kontingenz hervorgehoben, als er schrieb, eine Haltung, ein Glaube, ein Urteil, eine Strategie seien nur insofern wahr, „als dies möglich sein kann“.

Im Gegensatz dazu bezieht sich das Universelle auf eine nicht abgezählte Totalität, die an jedem Ort und zu jeder Zeit gültig ist, für jeden Gegenstand, der unter die Universalität des Urteils fällt. Die Aussage „alle Menschen sind sterblich“ bedeutet nicht, daß man nun alle Menschen einzeln abzählen müßte, sondern sie ist eine umfassende Globalaussage.

Doch wenn die Internet-Nutzer behaupten, sie könnten mit jedem sprechen und hätten Zugang zum gesamten Wissen, so läßt sich dies nur dahingehend verstehen, daß sie etwas Allgemeines zum Universellen mythologisieren. Eigentlich ist es nur eine Metapher.

An dieser Stelle nistet sich der Zweifel ein, ob das Internet wirklich geeignet ist, die Demokratie zu stärken, jene Demokratie, die durch Freiheit und Gleichheit gekennzeichnet ist.

Das Netz, so heißt es, sei ein Wesen mit einem Eigenleben – Wachstum, Sättigung und Tod –, engelgleich zwischen Himmel und Erde schwebend, zwischen der platt körperlichen, armselig irdischen Sinnenwelt und den erhabenen unendlichen Himmelsgefilden. Als ebenso materielles wie göttliches Wesen stelle es zwischen diesen beiden Welten beständig eine Verbindung her. Der Vergleich der „Internauten“ mit den „Astronauten“ drängt sich hier geradezu auf, ebenso wie der Bezug zum Sohn Gottes, der an beiden Naturen teilhat. Gewiß ist dies nur ein – vielleicht etwas überzogener – Nebenaspekt des Bildes vom heutigen Netz. Doch verweist er hintergründig auf ebenjene wesentliche Vermittlungsleistung, die offenbar das Hauptattribut darstellt. Zwar werden durch diese Vermittlungsleistung funktionell nur Verbindungen hergestellt, aber gerade diese durchaus nützliche Funktion, die die Funktionen traditioneller Netzwerke fortschreibt, ist zur Substanz geworden. Dabei manifestiert sich diese ungreifbare Substanz nur in actu – gerade so wie die Allgemeinheit virtuell Universalität ist, das geschriebene Wort virtuell ein gesprochenes, Privates virtuell Öffentliches, und umgekehrt.

Das viel gerühmte „Virtuelle“ tritt im allgemeinen Sprachgebrauch langsam an die Stelle von „Netz“, und erfährt daher dieselben semantischen Variationen und Verschiebungen. In der Tat erfüllt das Wort ebenso wie „Netz“ eine Brückenfunktion und dient zur Verschmelzung von Gegensätzlichem. Virtualität ist die eigentliche Chiffre des heutigen Netzes, wie es in Gestalt des Internet auftritt.

Es handelt sich hier um den letzten Abschnitt eines Übergangs von der Gesamtheit netzförmig organisierter Systeme hin zur Fetischisierung eines Teils, das vom Ganzen abgetrennt wurde. Das Internet wurde aus einem vielfach verzweigten und fein ausgewogenen Ensemble herausgelöst und stellt sich als Fetisch zur Schau. Als Fetisch, weil es als Teil für das Ganze steht und dessen Merkmale in „komprimierter“ Form verkörpert. Es ist klein, und also leicht zu bedienen und manipulierbar. Man kann es ständig verändern, es ist immer zugänglich, und da es tragbar ist, kann man es überall mit hinnehmen. So wird es zu einem Teil des Benutzers, der es als sein zweites Ich betrachtet.11 Der Fetisch steht für die Gesamtheit des Körpers, zu dem er gehört, und das mit einem zweiten Ich ausgestattete Individuum steht für die Gesamtheit aller Fetischträger, das heißt für die ganze Welt.

Denken will gelernt sein

ES wird behautet, das Netz könne an seine Nutzer die vier Kardinaltugenden unserer Zeit weitergeben: harmonisches Miteinander, Transparenz, Gleichheit (des Zugangs) und Freiheit (des Worts). Es wird als allgemeiner und universeller öffentlicher Raum dargestellt. Ist das eine neue Demokratie, wenn Brüderlichkeit durch harmonisches Miteinander ersetzt wird, Gleichheit durch Transparenz und Freiheit durch Netzzugang?

Das harmonische Miteinander erweist sich indes oft als ein unglaubliches Durcheinander, was noch angehen mag – aber auch die Qualität der meisten Texte über das Web ist sehr fragwürdig, ganz zu schweigen von den Wortwechseln der Nutzer.

Vor allem aber kann das Internet den unterschiedlichen Wissensstand der Benutzer nicht zu allgemeiner Gleichheit auffüllen. Ein indonesischer oder nigerianischer Wissenschaftler, dem es an Bibliotheken, ausgebildeten Assistenten und technischer Ausrüstung fehlt, wird trotz seines Internet-Zugangs nicht auf derselben Stufe stehen wie ein Forscher am Massachussetts Institute of Technology. Information ist nicht gleichbedeutend mit Wissen. Um adäquate Informationen zu finden, muß man die richtigen Fragen stellen, was wiederum ein bestimmtes Wissen voraussetzt.12 Hierarchielosigkeit ist in diesem Fall eine Illusion. Man mag eine Kapazität vom Institut Pasteur im Internet duzen können, doch dies ändert nichts daran, daß man auch weiterhin ein drittrangiger Forscher bleibt.

Aber nicht nur der unterschiedliche Wissensstand zeigt, daß von gleichen Zugangsmöglichkeiten und Transparenz keine Rede sein kann. Die Gebührenpflichtigkeit zahlreicher Datenbanken und die Vielzahl der Server machen darüber hinaus den unmittelbaren Zugriff unmöglich. Hinzu kommt, daß die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen sich so sehr voneinander abgrenzen und so spezialisiert sind, daß Wissenschaftler sich auf ein ganz bestimmtes Feld beschränken und nur sie dann noch in der Lage sind, die Bedeutung einer Information aus diesem Mikrofeld zu beurteilen. Und von den vergnüglichen, strategisch aber bedeutungslosen Plaudereien der zahllosen Chatter einmal abgesehen: Was für eine Redefreiheit hat man gegenüber einem Superspezialisten, der einem entweder mangels Interesse erst gar nicht antwortet oder aber klipp und klar zu verstehen gibt, daß man keine Ahnung habe.

Und was für eine Meinungsfreiheit soll das sein, die angeglich das Herzstück des interaktiven, spontanen, manchmal sogar schalkhaften Netzes bildet? Die Meinungsfreiheit ist untrennbar an die Gedankenfreiheit gebunden – an „selbst denken“, wie Kant forderte – und das setzt Anleitung voraus. Denn denken ist nicht angeboren, denken will gelernt sein, es folgt bestimmten Regeln und muß kultiviert werden. Mit der kommerziellen Meinungsfreiheit, wie sie die Welthandelsorganisation, die Europäische Union und die G-7-Länder vorschlagen, hat dies nicht das Geringste zu tun.13 Kommerzielle Meinungsfreiheit ist nichts als die Freiheit des Konsumenten; „selbst denken“ hingegen ist gleichbedeutend mit der freien Meinungsäußerung des Bürgers.

Auch der universelle öffentliche Raum ist in aller Munde – eine merkwürdige Öffentlichkeit, für die man bezahlen muß und zu der man nur via Server Zugang erhält. Und was für eine seltsame Öffentlichkeit, in der nur Privatgespräche geführt werden. Von der griechischen Agora trennen uns hier Welten. Denn hier werden nicht Gedanken formuliert und dem Volk zur Zustimmung oder Ablehnung vorgetragen, sondern es findet ein halb mündlicher, halb schriftlicher Austausch zwischen zwei oder mehreren Personen statt, der in keinem Fall Öffentlichkeit konstituiert. Ein universeller Raum ist dann öffentlich, wenn vor dem versammelten Volk (Agora) oder sämtlichen Volksvertretern (Abgeordnetenkammer) nach bestimmten Verfahren die Wahrheit des Gemeinwesens ermittelt wird. Das Allgemeine aber ist, wie gezeigt wurde, nicht das Universelle, und die Allgemeinheit des Zugangs, durch Gebührenpflicht und Zwischeninstanzen bereits beeinträchtigt und durch ungleiche Wissensverteilung vollends widerlegt, ist nicht gleichbedeutend mit Universalität. Universell ist vielmehr jedes Erörterungsverfahren, das auf einer allgemein verbindlichen Wahrheit gründet: auf der göttlichen Wahrheit des Gesetzes. Und an die Stelle der Wahrheit des Gesetzes – die eine politische Wahrheit ist – sucht man nunmehr eine technische Wahrheit zu setzen: die Wahrheit der Technologien des Geistes.

Im folgenden wird das Netz wieder in seinen praktisch-konzeptuellen Zusammenhang zurückversetzt. „Netz“ ist nicht der einzige Begriff, der die heutigen Diskurse und Verhaltensweisen prägt – er bezeichnet nur eine der Technologien des Geistes.14 Obwohl die kommunikationswissenschaftlichen Theorien durch die schwierige Begrifflichkeit nur schwer zugänglich sind, in einem engbegrenzten Territorium – dem Elfenbeinturm einiger weniger Gelehrter – ausgearbeitet und von der Allgemeinheit nicht wahrgenommen werden, bleiben sie doch nicht folgenlos. Die Ergebnisse dieser Forschungen dehnen sich aus, erobern den Markt der Geisteswissenschaften, werden durch die Sozialwissenschaften weiterverbreitet und überschwemmen die Literatur: Die Rede ist von den neuen Begrifflichkeiten, die durch die Technologien des Geistes entstehen.

Eine regelrechte Revolution in den Techniken des Denkens ist im Gange. Ursache dieser Umwälzung der habituellen Vernunft sind neben den Informations- und Kommunikationstheorien die neuen praktischen Möglichkeiten, die im Reich der Kommunikation so sehr gepriesen werden. Die zweiteiligen Schemata der rechtswissenschaftlichen Fakultät und die dreiteiligen der philosophischen Fakultät haben ausgedient. Diese Vorstellungen sind die Waffen der Regierenden von gestern, sie sind die letzten Überbleibsel einer mittelalterlichen Dogmatik, die heutzutage verurteilt wird – zu Unrecht, weil sie Deutungen und Interpretationen zuließ, das freie Spiel zwischen den wissenschaftlichen Instanzen erlaubte und mithin ein wenig Freiheit gestattete.15 Diese kanonischen Verfahren sind verschwunden, und in führenden Kreisen werden sie durch eine „neue“ Logik ersetzt, die sich aus vier Komponenten zusammensetzt: Netz, Paradox, Simulation und Interaktion. Man denkt in Netzbegriffen, in Begriffen eines paradoxen, simulierten, interaktiven Netzes. Diese Phraseologie bestimmt inzwischen sämtliche Diskurse und Vorgehensweisen.

Die verführerische Kraft des Netzes rührt von der Interaktivität her. Die allgemeine Interaktivität ist die des Netzes, sie ist im Netz enthalten, als Ideologie der Transparenz, der Hierarchielosigkeit, Gleichheit und Freiheit – in einem Netz allerdings, das paradoxerweise simuliert und universell interaktiv ist. Die Universalität indes ist eine bloße Behauptung, die Transparenz erweist sich als undurchsichtig, die Gleichheit (des Zugangs) als ausgesprochen ungleich.

Die Technologien des Geistes, die unmittelbar aus der Computertechnik hervorgehen, spielen eine eminent politische Rolle – und zwar vermittelt über die Ideologie, die, wie Paul Ricoeur ausführt16 , ein dreifaches Spiel der Verzerrung, Legitimation und Integration betreibt.

Die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten erklärt sich nicht nur aus der Wirtschaftsmacht der amerikanischen Konzerne und dem kulturellen Einfluß von Hollywood, obgleich diese Faktoren natürlich nicht zu vernachlässigen sind und ermöglichen, auf unterschiedlichen Ebenen Einfluß zu nehmen. Die eigentliche Macht aber geht vom „Amerikanismus“ aus – ein Begriff, den Pierre Musso bei Gramsci wiedergefunden hat. Amerikanismus heißt, daß in zunehmendem Maße unsere Verhaltensweisen in Europa von der amerikanischen Art zu denken, Unternehmen zu führen oder zu träumen durchdrungen werden. Pierre Musso nennt den Amerikanismus unserer heutigen Gesellschaft „commanagement“, die unentflechtbare Kombination von Kommunikation und Mangement.17 Die Führungsrolle der USA liegt mindestens ebenso stark in diesem Denken begründet wie in der Wirtschaft. Ökonomische Dominanz kommt ohne begriffliche Dominanz nicht aus. Was beweist, daß die Technologien des Geistes politische Technologien sind.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der der Universität Paris-I, Verfasser von „Critique de la communication“, Paris (Le Seuil) 1992.

Fußnoten: 1 Vgl. Serge Halimi, „Les Nouveaux Chiens de garde“, Paris (Liber – Raison d'agir) 1997. 2 Dazu „Internet, l'extase et l'effroi“, Manière de voir, Sondernummer, Oktober 1996. 3 Dazu Armand Mattelart, „Alles durch Dampf und Elektrizität“, Le Monde diplomatique, November 1995. 4 Marshall McLuhan, Quentin Fiore, „Krieg und Frieden im globalen Dorf“, aus dem Engl. v. Joachim Schulte, Düsseldorf/Wien (Econ) 1971. 5 Yves Stourzé, „LÉlectronique de pouvoir“, veröffentlicht in den achtziger Jahren, doch bereits in den siebziger Jahren entworfen. Stourzé wurde damals von Jacques Attali unterstützt. 6 Dazu Ingrid Carlander, „Das Media Lab – ein Fenster in die Zukunft“, Le Monde diplomatique, August 1996. 7 Elizabeth Eisenstein, „La Révolution de l'imprimé“, Paris (La Découverte) 1991; Jack Goody, „The domestication of the savage mind“, Cambridge University Press 1977. 8 Vgl. Jean-Marc Offner, „Réseux et ,large technical system': concepts complémentaires ou concurrents?“, Flux (La Documentation française), Nr. 26, Paris 1996. 9 Dazu Philippe Quéau, „Metaxu“, Paris (Champ Vallon) 1989; ders., „Le Virtuel“, Paris (Champ Vallon) 1993. 10 Vgl. die Untersuchung von Anne Cauquelin in: „L'art du lieu commun. Du bon usage de la doxa“, Paris (Le Seuil) Januar 1999. 11 Sherry Turkle, Die Wunschmaschine: der Computer als 2. Ich“, aus dem Engl. v. Nikolaus Hansen, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1986. 12 Zur Verwechslung von Information und Wissen vgl. Philippe Breton, „L'Utopie de la communication“, Paris (La Découverte) 1997; Lucien Sfez, „Information, savoir et communication“, Paris (Centre Galilée) 1994. 13 Dazu Armand Mattelart, „La Mondialisation de la communication“, Paris (PUF) 1996, S. 95. 14 Lucien Sfez, „Critique de la communication“, Paris (Le Seuil) 1988, dritte Auflage 1992, 3. Teil, Kapitel 1. 15 Pierre Legendre zeigt dies in seinem gesamten Werk. 16 Dazu Paul Ricur, „Idéologie et utopie“, Paris (Le Seuil) 1997. 17 Vgl. Pierre Musso, „Télécommunications et philosophie des réseaux“, Paris (PUF) 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von LUCIEN SFEZ