Inventur einer Verhandlungsmasse
WAS mag geschehen am 4. Mai 1999, wenn die Autonomieperiode in den palästinensischen Gebieten endet? PLO-Chef Arafat wird die Ausrufung eines unabhängigen Staates möglicherweise verschieben, doch die Probleme, für die bereits in den Verträgen keine Lösung gefunden wurde, bleiben weiter bestehen. Israel hat sich einiger Lasten der Besatzung entledigt; eine Instanz, um wegen Nichterfüllung der Verträge Klage zu führen, gibt es nicht.
Von ALAIN GRESH
4. Mai 1999: Vor einer enthusiastischen Menschenmenge proklamiert Präsident Jassir Arafat mit ergriffener Stimme die Geburt des palästinensischen Staates. Von mehr als 120 Staaten, vor allem des Südens, wird das neue Staatsgebilde anerkannt – und Palästina beeilt sich, die Aufnahme in die Vereinten Nationen zu beantragen. Benjamin Netanjahu rächt sich, indem er den Geltungsbereich israelischen Rechts auf sämtliche „Sicherheitszonen“ in „Judäa und Samaria“ ausweitet. Die Vereinigten Staaten (die Arafats Erklärung mißbilligen) und die Europäische Union (die sich darauf beschränkt, den Schritt zu bedauern, und betont, daß die israelische Regierung für die Krise mitverantwortlich sei) rufen beide Seiten zur Mäßigung und zur Rückkehr an den Verhandlungstisch auf.
Bis zu diesem Punkt gleichen sich die Szenarien, die in der israelischen Presse seit fast einem Jahr vorgestellt werden. Über die weitere Entwicklung gehen die Ansichten auseinander.1 Die einen sehen ein Blutbad kommen, heftige Kämpfe zwischen der palästinensischen Polizei und der israelischen Armee, die die großen Städte im Westjordanland zurückerobert; andere sind optimistischer und glauben sogar, die Krise werde die festgefahrenen Friedensverhandlungen wieder in Bewegung bringen.
Auch wenn die vorgezogenen Wahlen am 17. Mai in Israel – die wahrscheinlich erst nach einem zweiten Wahlgang, am 1. Juni, zur Bestimmung des nächsten Ministerpräsidenten führen werden – die Situation verkompliziert haben und den palästinensischen Präsidenten zweifellos dazu bewegen werden, seine Entscheidung um einige Wochen oder gar Monate aufzuschieben – am 4. Mai 1999 ist Ultimo: An diesem Tag endet die fünfjährige Übergangsperiode des palästinensischen Autonomiestatus, die in den Oslo-Verträgen festgelegt worden ist. Und der Fall, daß die Verhandlungen über den endgültigen Status scheitern, ist in den Verträgen nicht vorgesehen. Diese Rechtslücke gedenkt Jassir Arafat zu nutzen: Er besteht auf dem „Recht“, einen „palästinensischen Staat auf palästinensischem Boden“ aus der Taufe zu heben. In den vergangenen Monaten hat er noch höher gepokert und unablässig wiederholt, daß „der 4. Mai kein Tag wie jeder andere sein kann“.
Arafat sieht sich aus drei Gründen gehalten, diesen Weg einzuschlagen. Würde er einer Verlängerung der Übergangsperiode zur Autonomie zustimmen, so wäre das ein Eingeständnis, daß die Dauer dieser Zeit vom Zustandekommen eines Abkommens mit Israel abhängt – das so eine Art Vetorecht in bezug auf die Zukunft der besetzten Gebiete erhielte. Der israelische Außenminister Ariel Scharon hat im übrigen bereits einen Plan für eine neue „Übergangsphase“ vorgelegt, die so lange dauern soll, bis die offenen Fragen geklärt sind, mit anderen Worten auf unbestimmte Zeit. Und diese Probleme sind zahlreich und „unlösbar“, solange die Mehrheit der Israelis ihre jetzigen Standpunkte beibehält: die Flüchtlingsfrage, die Siedlungen, Jerusalem usw.2 Das Ganze läuft darauf hinaus, die augenblickliche Situation festzuschreiben.
Zum anderen muß Arafat auf die Stimmung in der eigenen Bevölkerung Rücksicht nehmen. Der Autonomiestatus hat die Erwartungen nicht erfüllt und wird zunehmend als Fortsetzung der Besatzung in anderer Form erlebt, und auch die Schwächen der Autonomiebehörde – Korruption, Willkürmaßnahmen, verfehlte Wirtschaftspolitik – haben Verärgerung ausgelöst. Noch unterstützt die Mehrheit den Friedensprozeß, doch das könnte sich rasch ändern.3 Die Ausrufung des Staates könnte die Palästinenser neu zusammenschweißen, vielleicht wäre sogar ein Teil der Opposition zu gewinnen.
Kein Datum ist unantastbar
DER dritte Grund, am 4. Mai 1999 ein deutliches Zeichen zu setzen, liegt in der Person von Arafat selbst: Der „Alte“, wie ihn seine Anhänger nennen, wird im August siebzig. Er möchte als Gründer des unabhängigen Staates Palästina in die Geschichte eingehen, und er weiß, daß seine Tage gezählt sind.
Jassir Arafat will also der Vorsehung nachhelfen. Er hofft auf internationale Anerkennung und möchte die israelische Regierung – wie immer sie aussehen mag – dazu bringen, endlich einer dauerhaften Friedensregelung zuzustimmen. In Oslo hat der palästinensische Führer am 5. Dezember 1998 eine wenig beachtete, aber zukunftsweisende Rede gehalten, in der er die Grundlinien einer „gerechten und für beide Seiten annehmbaren“ Zwei-Staaten-Lösung darlegte. Dieser Plan soll den Sicherheitsinteressen beider Seiten Rechnung tragen (Arafat versichert, daß die Palästinenser sich weder an Aufrüstungsstrategien noch an einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Israel beteiligen werden) und sieht für Jerusalem den Status einer offenen, ungeteilten Stadt vor. So sollen „dem palästinensischen wie dem israelischen Volk bessere Möglichkeiten gegeben werden, in jedem Teil Israels wie Palästinas zu leben, zu arbeiten und zu reisen, ohne daß damit die Souveränitätsrechte und die Gesetze in Frage gestellt würden“. Um das zu erreichen, müsse der Übergang von der „Logik des Krieges und der Konfrontation zur Logik des Friedens“ vollzogen werden.4
In dieser Rede kommt implizit auch die Enttäuschung über den „Oslo-Prozeß“ zum Ausdruck, der mit dem Händedruck zwischen Arafat und Rabin am 13. September 1993 eingeleitet wurde und als Beginn einer Friedenslogik gedacht war. Die Grundsatzerklärung über die Bestimmungen einer befristeten „Selbstverwaltung“ (self-government) hielt damals fest, daß die israelische Regierung und die PLO „darin übereinstimmen, daß es an der Zeit ist, einen jahrzehntelangen Konflikt zu beenden, die legitimen politischen Rechte beider Seiten anzuerkennen, sich zu bemühen, ein Zusammenleben in Frieden, Sicherheit und Würde zu versuchen und schließlich zu einer gerechten, dauerhaften und umfassenden Friedensregelung und zu einer historischen Aussöhnung zu kommen“.
Für eine Übergangsperiode von fünf Jahren wurden das Autonomiestatut und die palästinensische Autonomiebehörde eingerichtet, deren Rechtsakte für das Westjordanland und den Gasastreifen Geltung haben sollten. Die Lösung der heikelsten Probleme – vor allem das Flüchtlingsproblem, die Fragen der jüdischen Siedlungen und der Status von Jerusalem – verschob man auf die Abschlußverhandlungen. Zwei Jahre nach dem Beginn der „Übergangsperiode“, am 4. Mai 1996, sollten die Gespräche über den endgültigen Status des Westjordanlands, des Gasastreifens und Jerusalems beginnen.
Die Grundsatzerklärung spiegelte die Kräfteverhältnisse wider: Sie machte die Vormachtstellung der mit Israel verbündeten USA und die Ohnmacht der PLO nach dem Golfkrieg deutlich, zeigte aber auch, daß ein Teil der israelischen Gesellschaft nach Jahren der Intifada zu der Einsicht gekommen war, daß der Weg zum Frieden an einer Anerkennung der palästinensischen Ziele nicht vorbeiführen konnte. Für Israel bedeuteten die Vereinbarungen vom 13. September 1993 zugleich die historische Chance einer Integration in den Nahen Osten; der Friedensvertrag mit Jordanien von 1994 und die Aufnahme von diplomatischen Kontakten zu einer Reihe von arabischen Ländern waren dafür das deutlichste Zeichen.
Die israelische Regierung unter Führung der Arbeitspartei beharrte allerdings von Anfang an auf einer engen Auslegung des Abkommens. Daß der Zeitplan des Oslo-Prozesses nicht eingehalten wurde, rechtfertigte Jitzhak Rabin mit dem Verweis: „Kein Datum ist unantastbar.“ Israel hat zahlreiche Verpflichtungen nicht erfüllt: So ist es u.a. weder zur Schaffung eines Korridors zwischen Gasa und dem Westjordanland noch zur Freilassung der politischen Gefangenen der PLO oder zur Regelung des Rechts auf Rückkehr der Flüchtlinge von 1967 gekommen.5
Jeder Anschlag der Hamas diente Israel zur Rechtfertigung einseitiger Maßnahmen – so daß die islamistische Bewegung geradezu ein Vetorecht bei den Friedensgesprächen erhielt. Uri Savir, einer der wichtigsten israelischen Vertreter bei der Aushandlung der Oslo-Verträge, gibt heute zu, daß seine Regierung, indem sie den Terrorismus zur „entscheidenden Frage“ erklärte, die „Position von Attentätern und anderen Gegnern des Friedensprozesses gestärkt“ und ihnen bestätigt habe, „daß sie über eine furchtbare Waffe gegen den Frieden verfügen“. Savir ist der Meinung, man hätte dem israelischen Volk die Wahrheit sagen müssen: „Solange wir nicht wirklich Frieden geschlossen haben, wird der Terrorismus nicht aufhören. [Wir dürfen darum in unseren Bemühungen] auf keinen Fall nachlassen.“6
Im übrigen sollte man nicht vergessen, daß die Selbstmordanschläge der Hamas in Israel die Vergeltung für die Tat von Baruch Goldstein waren: Der jüdische Siedler hatte am 25. Februar 1994 in einer Moschee in Hebron das Feuer auf die Gläubigen eröffnet und neunundzwanzig Menschen getötet.
Immer häufiger wurden die „Autonomiegebiete“ abgeriegelt und die wirtschaftliche Zusammenarbeit damit unmöglich. Die Einschränkungen beim freien Verkehr von Personen und Waren behinderten den Handel, Zehntausende Palästinenser konnten nicht mehr in Israel zur Arbeit gehen. Der Lebensstandard der Mehrheit der Palästinenser sank, Arbeitslosigkeit und Armut nahmen zu. Die in Oslo in Gang gebrachten Mechanismen waren festgefahren.
Jedoch war kein Schlichtungsverfahren vereinbart worden, um festgefahrene Verhandlungen wieder in Gang zu bekommen. Ilan Halevi bemerkte dazu: „Der Vertrag sieht keine Instanz vor, die bei Verstößen einer der Parteien gegen Geist und Inhalt des Vertrages hätte angerufen werden können.“7 So konnte die israelische Regierung, ohne Nachteile befürchten zu müssen, ihre Verpflichtungen mißachten. Und die USA, die als einzige Macht in der Lage wären, Druck auszuüben, haben sich systematisch der Haltung Tel Avivs angeschlossen.
Daß Israel das Prinzip „Land gegen Frieden“ ablehnte, wurde auch in der Fortsetzung der Siedlungspolitik deutlich. Von 1993 bis 1996 wuchs die Zahl der Siedler im Westjordanland von 110000 auf 145000, im Gasastreifen stieg sie von 3000 auf 5500. Auch die Beschlagnahmung von Boden und der Ausbau der Infrastruktur gingen weiter. Anstatt sich aus dem gesamten Westjordanland zurückzuziehen (mit Ausnahme der Siedlungen, über deren Zukunft erst später entschieden werden sollte), setzte die Regierung Rabin eine geradezu kafkaeske Aufteilung des Gebiets in die Zonen A, B und C durch. Zone A bestand aus den großen Städten und wurde vollständig unter palästinensische Verwaltung gestellt – mit Ausnahme von Hebron, das einen „Sonderstatus“ erhielt. In der Zone B, die fast die Gesamtheit der 450 Dörfer im Westjordanland einschließt, war weiterhin die israelische Armee für die Sicherheit und den „Kampf gegen den Terrorismus“ zuständig und behielt das Recht, jederzeit dort einzugreifen, Häuser zu durchsuchen oder auch zu zerstören, Verhaftungen vorzunehmen usw. Die Zone C schließlich, die den überwiegenden Teil des Westjordanlands umfaßt, in der aber so gut wie keine Palästinenser leben, blieb besetztes Gebiet.
Uri Savir zufolge begnügte sich Rabin mit den Einschätzungen der Armee bezüglich der „Orte, die unverzichtbar für die Sicherheit sind“, und der „Notwendigkeit, die Siedlungen zu schützen“8 , und wollte auch nach Ablauf der Übergangsperiode nicht mehr als 50 Prozent des Westjordanlands an die Palästinenser abtreten. In den Wochen vor seiner Ermordung am 4. November 1995 war allerdings eine veränderte Haltung festzustellen: Rabin hatte begriffen, daß man die PLO als vollwertigen Partner behandeln mußte und die Friedenschancen nicht verpassen durfte. Doch da war es bereits zu spät.
Die israelische Rechte, von der nie mehr als Lippenbekenntnisse zu den Oslo- Verträgen zu hören waren, bekräftigte den harten Kurs, als sie im Mai 1996 an die Macht kam: Die Siedlungstätigkeit wurde verstärkt. Nach Angaben der Organisation „Frieden jetzt!“ hat die Einwohnerzahl der zehn größten Siedlungen in den ersten neun Monaten des Jahres 1998 um 5,9 Prozent (das Dreifache des normalen Bevölkerungswachstums) zugenommen – von 87331 auf 92584 Einwohner.9 Unter Benjamin Netanjahu ging es nicht mehr nur um Befestigung und Erweiterung der bestehenden Siedlungen, sondern es wurden neue gebaut. Die Siedler folgten den Aufrufen Ariel Scharons und nahmen die Anhöhen in Besitz, womit sie sogar die Vereinigten Staaten zu der Reaktion bewegten, diese Aktivitäten seien „sehr schädlich für die Friedensbemühungen“. Dennoch war Washington nicht bereit, sie für illegal zu erklären, wie dies die amerikanische Regierung in den achtziger Jahren noch getan hatte.10 Die Zahl der neuen Umgehungsstraßen, auf denen die Siedler nach Israel fahren können, ohne arabische Dörfer zu durchqueren, hat massiv zugenommen – das gesamte Westjordanland ist nun in dieses Netz eingeschnürt.
Am Ende der Autonomieperiode stehen also nur 10 Prozent des Westjordanlands unter palästinensischer Verwaltung – selbst wenn man die Zonen A und B zusammenrechnet, sind es kaum 30 Prozent – sowie zwei Drittel des Gasastreifens.11 Und was die Autonomiebehörde regiert, ist ein Archipel aus verstreuten Inselchen: Um von einer Enklave in die andere zu fahren, muß ein palästinensischer Bürger unzählige israelische Kontrollpunkte und Straßensperren passieren. Wer ins Ausland reisen will, ist völlig abhängig vom Wohlwollen der Besatzungsmacht. Selbst der Flughafen von Gasa, der im vergangenen Dezember mit großem Gepränge eingeweiht wurde, ist nichts weiter als eine Filiale des Ben-Gurion-Flughafens, die von israelischer Polizei überwacht wird, wie Suha Arafat, die Gattin des Präsidenten, einräumt.12 Die persönliche Bewegungsfreiheit, ein grundsätzliches Menschenrecht, ist so zu einem Privileg geworden, das nur wenige genießen.
Zankapfel Jerusalem
IN jeder Phase der Verhandlungen mußte Jassir Arafat neue Zugeständnisse machen, um wenigstens ein paar Brocken Land zu bekommen und dort die Autonomiebehörde einzurichten. Grundlage aller Gespräche ist inzwischen die Sicherheit (ausschließlich die israelische), während das Prinzip „Land gegen Frieden“ kaum noch eine Rolle spielt. Israel hat den Aufbau von Strukturen der Zusammenarbeit im Bereich der Wirtschaft und der Sicherheit genutzt, um einen Teil der palästinensischen Eliten an sich zu ketten – ihr Status, ihre Macht und ihre Privilegien sind nun abhängig von der Besatzungsmacht. Die CIA ist an der Aufstellung und Ausbildung der palästinensischen Polizei direkt beteiligt; sie hat zwei Zentren eingerichtet, in Gasa und in Ramallah. Damit kann sie die Rolle des „Königsmachers“ spielen, wenn es einmal um die Nachfolge Arafats gehen wird.
Am Ende der fünfjährigen Autonomieperiode läßt sich auch bewerten, welchen Nutzen die israelische Regierung aus der Situation zieht. Sie ist in den palästinensischen Gebieten nicht mehr für die Sicherheit verantwortlich – damit befaßt sich jetzt die palästinensische Polizei. Sie ist auch einen großen Teil der finanziellen Last der Besatzungspolitik losgeworden, denn nun leistet die internationale Gemeinschaft den Palästinensern Überlebenshilfe. Ferner konnten die Siedlungspolitik und die „Judaisierung“ von Ost-Jerusalem fortgesetzt werden. Zugleich ist es Israel gelungen, die diplomatische Isolierung zu durchbrechen – auch wenn Netanjahus wiederholte Vertragsbrüche (vor allem seine Weigerung, die Wye-Abkommen umzusetzen, die er selbst im Oktober 1998 unterzeichnet hatte) alle diplomatischen Fortschritte in der arabischen Welt gestoppt und auch die Beziehungen zwischen Washington und Tel Aviv erheblich beeinträchtigt haben.
Doch die Oslo-Verträge haben auch neue und zum Teil unumkehrbare Realitäten geschaffen. Die Existenz einer Palästinenserfrage wird auch in Israel und den USA nicht länger geleugnet, die PLO hat diplomatischen Rückhalt gewonnen. Und trotz der autokratischen Tendenzen sind unter der Ägide der Autonomiebehörde zahlreiche Institutionen auf palästinensischem Boden entstanden – staatliche Einrichtungen, ein Parlament, das im Januar 1996 gewählt wurde, und einige regierungsunabhängige Organisationen.
Nach fünf Jahren harter Verhandlungen sind die schwierigsten Probleme noch immer ungelöst. Vor allem die Flüchtlingsfrage: Noch immer warten einige Millionen „im Hinterhof des Vaterlands“ auf eine Entscheidung über ihr Schicksal. In Lager abgeschoben und in den Aufnahmeländern häufig diskriminiert, hoffen diese immer wieder vertriebenen Menschen auf ein Leben in stabilen Verhältnissen, und sie fordern ihr „Recht auf Rückkehr“, wie es in den Resolutionen der UN-Vollversammlung bekräftigt ist. Schwierig könnte auch die genaue Festlegung der Grenzen werden, da Israel nicht bereit ist, sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen. Doch besonders erbittert wird nach wie vor um den Zankapfel Jerusalem gestritten, die Heilige Stadt dreier Religionen. Israel hat die „wiedervereinigte“ Stadt zu seiner ewigen Hauptstadt erklärt und verfolgt eine Politik der Ansiedelung von Juden und Vertreibung der arabischen Bewohner. Bleibt das Problem der knappen und deshalb begehrten Wasserressourcen: diese Frage hätte während der Übergangsperiode angegangen werden müssen, wurde aber wegen ihrer Komplexität verschoben.
Obwohl die Palästinenser in der kommenden Phase in der schwächeren Position sein werden, können auch sie einige Trümpfe ausspielen. Da ist vor allem die demographische Entwicklung – irgendwann zwischen 2007 und 2013 werden die Palästinenser innerhalb der Grenzen des historischen Palästina die Bevölkerungsmehrheit stellen. Israel wird sich dann zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden müssen: Es muß die Koexistenz zweier eigenständiger, souveräner Staaten tolerieren oder die besetzten Gebiete behalten und ein Apartheidregime einrichten, oder aber es muß auf dem gesamten historischen Territorium Palästina die Errichtung eines Staates aller Bürger, arabischer wie jüdischer, akzeptieren und damit das Konzept eines jüdischen Staats aufgeben. Die Palästinenser ihrerseits können sich auf das Völkerrecht berufen. Was immer man von den Oslo-Verträgen halten mag, unter rechtlichen Aspekten haben sie keine Änderung der Situation in Jerusalem, dem Westjordanland und dem Gasastreifen bewirkt. Es handelt sich nach wie vor um widerrechtlich besetzte Gebiete, und die dort errichteten Siedlungen sind illegal. Israel besitzt keinerlei Souveränitätsansprüche auf dieses Land, sondern übt lediglich de facto die Macht aus.
Der Einfluß der internationalen Gemeinschaft
WAS wird also geschehen, am 4. Mai 1999? Mit Blick auf den Wahlkampf in Israel haben die Europäische Union und die Vereinigten Staaten Arafat inständig gedrängt, die Ausrufung des palästinensischen Staates zu verschieben, um nicht weiteres Wasser auf Netanjahus Mühlen zu leiten. Einige Führer der Arbeitspartei, etwa Jossi Beilin und der frühere General Oren Schahor, haben den Kompromißvorschlag gemacht, daß Israel das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat anerkennt, wenn diese bereit wären, die Übergangsperiode bis zum Jahr 2001 zu verlängern.
Und falls Arafat bei seinem Entschluß bleibt oder seine Umsetzung nur um ein paar Monate verschiebt – was wäre, „am Tag danach“, für die Palästinenser anders? Würde sich ihre Situation wirklich verändern? Asmi Bischara, arabischer Abgeordneter im israelischen Parlament, erwartet keine Vorteile daraus. Für ihn wäre die Unabhängigkeitserklärung nur eine Ablenkung vom Wesentlichen; sie hätte zur Folge, daß die Palästinenser alle Energie darauf verwendeten, von Israel und der internationalen Gemeinschaft die Anerkennung des neuen Staatsgebildes zu erlangen, anstatt sich darauf zu konzentrieren, „die Siedlungen zu beseitigen, alle 1967 besetzten Gebiete zurückzugewinnen und Jerusalem zu befreien“. Israel könnte ja auf die Idee kommen, diese Anerkennung irgendwann zu gewähren, um dafür grundlegende Zugeständnisse, etwa in der Frage des Rückkehrrechts der Flüchtlinge, zu erhalten.13 „Soll man den Palästinenserstaat noch einmal proklamieren?“ fragt sich Scheich Ahmed Jassin, der geistige Führer der Hamas-Bewegung. „Und wo? Gibt es denn ein befreites Gebiet, auf dem ein palästinensischer Staat ausgerufen werden könnte? Die Unabhängigkeitserklärung des palästinensischen Staats 1988 in Algier hat nichts bewirkt.“14 Und der palästinensische Intellektuelle Edward Said stellt resigniert fest: „Israel nimmt uns systematisch unser Land, und wir sehen zu und erklären nur: ,Sie haben es uns nicht genommen, wir betrachten dieses Land als unseren Staat.'“15
Tatsächlich wird viel von der internationalen Gemeinschaft abhängen. Nach dem Völkerrecht sind die Grundlagen eines gerechten und dauerhaften Friedens bereits festgelegt: Rückzug Israels aus den 1967 besetzten arabischen Gebieten, Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, das Recht Israels auf Frieden und Sicherheit innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen. Indem er einen Staat ausruft, hofft Jassir Arafat, die Vereinigten Staaten und die Europäische Union zu einem aktiven Eintreten für diese Ziele zu bewegen. Schließlich ist nicht zu leugnen, daß der „Oslo-Friedensprozeß“ an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen ist. Im Oktober 1991, kurz nach dem Golfkrieg, hatte die Konferenz von Madrid einen Wendepunkt in der Geschichte des Nahen Ostens bedeutet. Zum ersten Mal hatten die Hauptbeteiligten des arabisch- israelischen Konflikts versucht, die Grundlagen für eine Übereinkunft zu schaffen. Eine erneute Einberufung dieser Konferenz, unter der Schirmherrschaft von Washington, Moskau und Brüssel, könnte die Fundamente für einen umfassenden Frieden legen, der neben Israel und Palästina auch Syrien, den Libanon und die gesamte arabische Welt einschließen würde.
dt. Edgar Peinelt