Wie die Nato den Kalten Krieg überleben konnte
DER Krieg, den die Nato gegen Serbien begonnen hat – ein Krieg, den Rußland und China verurteilen und der außerhalb des Rahmens der Vereinten Nationen geführt wird – bestätigt die neue Rolle der Atlantischen Allianz. Exakt zum Zeitpunkt ihrer Osterweiterung greift die Organisation erstmals in ihrer Geschichte direkt in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates ein. Nachdem sich ihre ursprüngliche Aufgabe, der „sowjetischen Bedrohung“ entgegenzutreten, überlebt hat, ist die Atlantische Allanz he mehr denn je ein Instrument, das die amerikanische Hegemonie in Europa umsetzen soll.
Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *
Daß in diesem Monat April die Atlantische Allianz wie die Nato als ihre politische und militärische Organisation ihren 50. Geburtstag begehen, könnte den augenblicklichen Stand der internationalen Beziehungen eigentlich hinreichend kennzeichnen. Diese Allianz wurde zwar ursprünglich gegründet, um der realen oder angenommenen Bedrohung durch die Sowjetunion und das östliche Lager zu begegnen, doch sie hat das Verschwinden ihres Gegners auf unerwartete Weise überdauert: ganz so, als hätte die epochale Wende, die sich zwischen 1989 und 1991 vollzogen hat, an ihrer Notwendigkeit nichts geändert.
Die Allianz als bevorzugtes Instrument zur Umsetzung der amerikanischen Vorherrschaft im westlichen Lager blieb erhalten, und die amerikanische Politik hat dafür gesorgt, sie durch Anpassung an die veränderte Situation am Leben zu halten.
Von europäischer Seite war keinerlei Widerspruch gegen die Beibehaltung der Nato zu verzeichnen, sieht man von vereinzelten Proteststimmen aus Frankreich ab, die freilich kein Gehör fanden. Auf dem alten Kontinent waren die maßgeblichen politischen Kräfte im Gegenteil geschlossen für die Fortdauer des atlantischen Bündnissystems. Das gilt erst recht für die USA, wo niemand die Notwendigkeit der amerikanischen Führungsrolle in Frage stellte, noch die Bedeutung der Nato als Mittel, diese Rolle auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.
Einer der aufschlußreichsten Texte wurde von den Nato-Mitgliedstaaten schon anläßlich ihres Gipfeltreffens am 7. und 8. November 1991 in Rom verabschiedet. Er beinhaltet zwei Schlußfolgerungen aus dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts: „Die erste besagt, daß das neue politische Umfeld weder das Ziel noch die Sicherheitsaufgaben der Allianz berührt, sondern vielmehr deren fortdauernde Gültigkeit noch unterstreicht. Die zweite besagt, daß das neue Umfeld der Allianz sogar neue Chancen biete, ihre Strategie in den Rahmen eines erweiterten Sicherheitskonzepts zu stellen.“ Von da an war vorauszusehen, daß die Zukunft des atlantischen Bündnissystems und die Rolle Europas in erster Linie von strategischen Plänen abhingen, die in den Vereinigten Staaten beschlossen wurden.
Die Absicht der US-amerikanischen Führung bestand bei der Bush- wie bei der Clinton-Regierung übereinstimmend darin, den Rang der Vereinigten Staaten als unangefochtene Supermacht zu erhalten und zu verhindern, daß sich eine rivalisierende Macht etabliert, wie es die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft hatte. Die Amerikaner konnten zwar eine erneute Ost-West-Konfrontation ausschließen, wohl aber hatten sie mit der Entstehung von ausgedehnten Regionen der Unsicherheit und Instabilität zu rechnen. Die Grenzverschiebungen und der Sturz der etablierten Regime in einem geographischen Raum, der von der Adria bis nach China reicht, ließen zahlreiche Krisenherde und sogar bewaffnete Konflikte vorausahnen, deren Dimensionen vorab ebenso schwer einzuschätzen waren wie die Frage, ob man erfolgreich intervenieren könnte.
Für die amerikanische Strategie ergaben sich damit zunächst eine Reihe von neuen Hypothesen. Unter Nixon war man vom ursprünglichen Konzept der „zweieinhalb Konflikte“ (ein Krieg gegen die UdSSR, einer gegen China plus ein regionaler Konflikt) zur Annahme von „eineinhalb Konflikten“ (ein Krieg gegen die UdSSR oder gegen China plus ein regionaler Konflikt) übergegangen.1 Jetzt aber ergab sich ein neues Krisenspektrum, in dessen Rahmen vier Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen sind: erstens die Eventualität von zwei regionalen Konflikten mit golfkriegsähnlichen Dimensionen; zweitens eine sogenannte humanitäre Intervention großen Umfangs; drittens die Bereitstellung ausreichender militärischer Mittel entweder in den Krisengebieten selbst oder mittels Transportkapazitäten, die solche Mittel über große Entfernungen heranschaffen können; viertens der ständige Einsatz von Aufkärungs- und Frühwarnsystemen in einem Maße, das den erwarteten zahlenmäßig vervielfachten Krisenherden entspricht und zusätzlich noch die Folgen von „subversiven“ oder „terroristischen“ Aktionen einkalkuliert.
Ergebnis dieser Neuorientierung war eine „grundlegende Neubewertung“ (bottom-up review, wie die Amerikaner sagen) der Frage, wie die Streitkräfte auf die verschiedenen eventuellen Krisenschauplätze und die neuen Achsen amerikanischer Militäroperationen aufgeteilt werden. Gleichzeitig einigten sich die Generalstäbe der USA auf eine neue Doktrin, die sie als militärtechnische „Revolution“ bezeichnen. Der Begriff soll – in verbaler Übertreibung und mit Rückgriff auf teilweise utopische oder zumindest futuristische Begriffe – alle Fortschritte umfassen, die man bei der neuen Generation von Rüstungsprojekten in den unterschiedlichsten Bereichen erzielt hat, insbesondere hinsichtlich der Kommunikations- und Überwachungstechnik, der informationstechnischen Steuerung und Genauigkeit der konventionellen, „intelligenten“ Waffensysteme.2
Läßt man die strategischen Nuklearwaffen beiseite, die zur Abschreckung jeder eventuellen Bedrohung vitaler Interessen der Vereinigten Staaten bestimmt sind (wobei Rußland nicht mehr a priori als Feind gesehen wird), hat man die amerikanischen Streitkräfte demnach wie folgt aufgeteilt:
– eine „atlantische Streitmacht“, die von den Basen in Norfolk aus auf allen europäischen Schauplätzen, in der Mittelmeerregion, im Nahen Osten und am Golf operieren kann;
– eine auf Japan und Korea konzentrierte „pazifische Streitmacht“, deren Aufgaben darin bestehen, ein Gegengewicht zur konventionellen und nuklearen Schlagkraft Chinas zu bilden, die eingeschränkte militärische Schlagkraft Japans zu kompensieren, etwaige Krisen in den russischen Fernostgebieten zu kontrollieren und eventuelle Militäraktionen Nordkoreas (etwa den Einsatz von Raketen- oder Atomwaffen) zu vereiteln;
– eine „schnelle Eingreiftruppe“, die auf jedem Schauplatz intervenieren soll, den die amerikanische Strategie als vorrangig einstuft.
Diese neuen Konzeptionen hatten Veränderungen in den strategischen Konzepten und Strukturen der Nato-Streitmächte zur Folge. Hinfällig wurden damit alle Szenarien, die für den Konflikt mit der Sowjetunion und ihren Alliierten den eventuellen Einsatz von taktischen Nuklearwaffen als Verstärkung oder Ergänzung konventioneller Waffen im Sinne eines „abgestuften Gegenschlags“ vorgesehen hatten. Das gilt auch für den Plan, den General Bernard Rogers als Oberkommandierender der alliierten Streitkräfte in Europa (1979-1987) entwickelt hatte: Das Konzept von follow-on forces attack bedeutete weiträumige Vorstöße und Gegenoffensiven von Bodentruppen in der gesamten Tiefe des feindlichen Operationsgebietes. Ersetzt wurde die Rogers- Doktrin durch das von General John R. Galvin (einem Rogers-Nachfolger) konzipierte Konzept der joint precision interdiction, das präzisere Schläge vorsieht, die sich stärker auf die zunehmend diversifizierten Schauplätze konzentrieren.
Im Grunde basieren die neuen Szenarien vor allem auf der Annahme von militärischen Operationen außerhalb des Bündnisgebietes. Das aber erfordert eine andere Struktur der Nato-Streitkräfte, die in Zukunft aus zwei Komponenten bestehen sollen. Die erste ist eine schnelle Eingreiftruppe von mindestens 100000 Mann, die sich durch einen sehr viel stärkeren Integrationsgrad auszeichnet (die europäischen Kontingente sollen auf Brigadeebene integriert sein), für deren Deckung aus der Luft allerdings allein die Amerikaner zuständig sind. Die zweite Komponente ist eine Hauptverteidigungsstreitmacht, die sich aus sieben Panzerkorps mit insgesamt 500000 Soldaten aus allen Nato-Mitgliedstaaten zusammensetzt, verstärkt durch amerikanische Reservisten. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit zu Militäraktionen außerhalb der Nato, aber auch die zunehmende Integration der Streitkräfte, die beim Gipfeltreffen von Rom im November 1991 beschlossen wurde. Damals hieß es im Schlußkommuniqué, das kollektive Verteidigungspotential der Allianz werde „zunehmend auf der Bildung multinationaler Truppenverbände beruhen“.
Das Interesse am Zusammenhalt der Nato und der eigenen Vorherrschaft war das entscheidende Motiv, warum Washington die Entstehung eines europäischen, von der atlantischen Organisation unabhängigen Verteidigungssystems beharrlich verhindert hat. So gab es einen Vorschlag des französischen Staatspräsidenten Mitterrand, der eine Verteidigungsorganisation der europäischen Nato-Mitgliedstaaten vorsah, die zwar eigenverantwortlich handeln, aber mit der Nato assoziiert sein würde. Dieser von Deutschland vorsichtig unterstützte Vorschlag wurde auf der Konferenz von Rom von allen übrigen europäischen Partnern Frankreichs abgelehnt. Dennoch ist er nicht vom Tisch, denn er wäre durchaus innerhalb der Perspektive realisierbar, die im Maastrichter Vertrag vorgesehen ist. Dort wird im Absatz V – wenn auch ohne Festlegung von Fristen und Modalitäten – die Schaffung eines europäischen Verteidigungssystems anvisiert, das mit den Anforderungen der atlantischen Militärorganisation und deren Strategie „vereinbar“ sein müsse.
Um dieses Projekt durchzusetzen, erklärte sich der französische Staatspräsident Chirac damit einverstanden, es der Nato zu inkorporieren. Allerdings stellte sich heraus, daß das europäische Verteidigungssystem auf diese Weise in enge Abhängigkeit von den Mechanismen der militärischen Nordatlantikorganisation geraten mußte, von der sich die europäischen Partner Frankreichs ohnehin keineswegs absetzen wollten. Im Juni 1996 beschloß man deshalb in Berlin die Aufstellung multinationaler Eingreiftruppen (CJTF = combined joint task forces) im Rahmen der Nato, die unter europäischem Kommando stehen sollen, der Westeuropäischen Union (WEU) angeschlossen werden könnten und ohne amerikanische Beteiligung operieren würden. Diese CJTF dürfen jedoch nur nach vorheriger Zustimmung der Nato-Instanzen, d.h. de facto mit dem Placet Washingtons, aktiv werden. Außerdem sind sie auf die Infrastruktur und Logistik der Nato angewiesen und hängen insofern von der Hilfe ab, die das Bündnis zu leisten gewillt ist. Insofern können die europäischen Streitkräfte nur agieren, wenn die USA einverstanden sind und nicht selbst intervenieren wollen.
Jugoslawien als Testfall für globale Einsätze
DIE Sonderstellung innerhalb des Atlantischen Bündnisses, die Frankreich 1966 mit dem Austritt aus den integrierten Militärstrukturen bezogen hatte, spielt im übrigen eine immer geringere Rolle. Zwar sind die französischen Streitkräfte kein dauerhaft integrierter Teil der Nato, aber seit 1994, als die Beteiligung französischer Streitkräfte an Nato-Aktionen in Bosnien akut wurde, haben die Franzosen ihren Sitz im Rat der Verteidigungsminister und im Komitee der Generalstabschefs wieder eingenommen. Im Sinne der neuen Orientierung von Staatspräsident Chirac war Frankreich sogar zu einer vollständigen Reintegration bereit, stellte aber die Bedingung, das Oberkommando Süd müsse einem Europäer – also einem Italiener, Spanier oder Franzosen – zufallen. Das stieß jedoch auf den Widerstand der Vereinigten Staaten, die nicht die direkte Kontrolle eines Operationsbereichs abgeben wollten, der für ihre Verbindung mit den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten und der Golfregion von vitaler Bedeutung ist.
Die künftige Ausrichtung der französischen Verteidigungspolitik – jenseits der unveränderten Strategie der atomaren Abschreckung – ergibt sich deutlich aus einer Erklärung über ein „gemeinsames deutsch-französisches Sicherheits- und Verteidigungskonzept“, die Chirac und Kohl am 9. Dezember 1996 in Nürnberg abgaben. Die „transatlantische Partnerschaft mit den nordamerikanischen Staaten“ soll laut dieser Erklärung „auf eine neue, solide Basis gestellt werden“, und die uneingeschränkte Fortdauer der Allianz gilt als „unentbehrliche Garantie für die Stabilität und Sicherheit in Europa“3 .
Die Logik der politischen und strategischen Optionen Washingtons nach dem Ende des Kalten Krieges führte zur Ausweitung des geographischen Aktionsbereichs der Nato. Die amerikanische Politik zielte seit langem darauf ab, den geographischen Raum, in dem die Nato agieren kann, erheblich auszuweiten. Das war zuvor an der Opposition der europäischen Staaten gescheitert, die am stärksten darauf bedacht waren, sich nicht in Krisen oder Konflikte hineinziehen zu lassen, mit denen sie nichts zu tun haben wollten. Ein erster Schritt erfolgte anläßlich des Golfkriegs aufgrund der eigentlich unwahrscheinlichen Annahme, die Türkei könnte vom Irak angegriffen werden. Damals beschloß man, daß mehrere Nato-Mitgliedstaaten – Deutschland, Italien und Belgien – Luftwaffengeschwader in die Türkei entsenden sollten, deren Militärflugplätze von den USA für ihre Operationen auf irakischem Territorium genutzt wurden.
Von dem Moment an sah die deutsche Regierung davon ab, sich auf jene verfassungsrechtlichen Bedenken zu berufen, mit denen sie sich zuvor einen Out-of- area-Einsatz ihrer Streitkräfte verboten hatte. Und die französische Regierung schien vergessen zu haben, wie streng sie zuvor zwischen einer Beteiligung an der Allianz und einer eigenständigen französischen Politik überall in der Welt, wo die Nato nicht zuständig war, unterschieden hatte. Nach der Auflösung des Warschauer Paktes stand fest, daß sich die Atlantische Allianz künftig um die „Sicherheit“ in allen östlichen Ländern kümmern würde, ohne dafür genaue Grenzen festzulegen.
Dazu trug auch bei, daß mehrere ehemalige Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts den Wunsch äußerten, Beziehungen zur Nato aufzunehmen und ihr möglichst beizutreten. Damit wollten sie sich gegen eventuelle Gelüste Rußlands schützen, seinen Einflußbereich im Osten Europas wiederherzustellen. Die meisten Nato- Mitglieder reagierten sehr zurückhaltend oder sogar ablehnend: Sie wollten sich nicht in schwer kontrollierbare Krisen und Konflikte hineinziehen lassen.
Wahrscheinlich waren die Vereinigten Staaten von Anfang an entschlossen, diese Widerstände zu überwinden, doch mußten sie 1991 und 1992 noch Überzeugungsarbeit bei den Europäern leisten und Rücksicht auf Jelzins Reaktionen nehmen. Die erste Etappe ihrer geographischen Ausweitung besiegelte die Nato mit der Schaffung des Nordatlantischen Kooperationsrats (NACC – North Atlantic Cooperation Council).
Die offizielle Aufgabe des NACC war die Aufrechterhaltung der Sicherheit auf dem gesamten europäischen Kontinent; mit den osteuropäischen Länder, die dem Rat alsbald beitraten, umfaßt der NACC heute 38 Mitgliedstaaten. Nach seinen Gründungsstatuten ist er für Bosnien-Herzegowina, das Kosovo und andere mögliche Krisenherde im ehemaligen Jugoslawien zuständig, aber auch für die Konflikte im Kaukasus – in Abchasien, Ossetien und Inguschetien –, für Moldawien und selbst für den Bürgerkrieg in Tadschikistan, wie die Schlußerklärung der Tagung vom 18. Dezember 1992 festhält, die nicht zufällig im Brüsseler Sitz der Nato stattfand.
Die USA hatten jedoch ihren Plan einer direkten Erweiterung der Nato durch die Aufnahme neuer Mitglieder keineswegs aufgegeben. Zwar ließ der europäische Widerstand allmählich nach, doch Rußland beharrte auf seiner strikten Ablehnung. Jelzin selbst betrachtete die amerikanischen Bestrebungen als einen Ausdruck des Mißtrauens: Nachdem er die russische Außenpolitik fast vollständig den Leitlinien der amerikanischen Politik angepaßt hatte, sah er in der Verlagerung der Demarkationslinien des Kalten Kriegs nach Osten eine Mißachtung seiner bisherigen Bemühungen. So fiel seine Reaktion wesentlich schärfer aus als etwa bei der Auflösung ehemals sowjetischer Einflußsphären im Nahen Osten, in Mittelamerika oder in Afrika.
Die US-Regierung wollte die russische Gegnerschaft durch eine Geste abmildern: Am 27. Mai 1997 wurde in Paris ein ständiges Konsultationsforum zwischen Rußland und der Nato eingerichtet, durch das Rußland grundsätzlich an den Beratungen der Mitglieder der Atlantischen Allianz teilnehmen konnte. Doch der feierliche Rahmen war nur eine täuschende Kulisse: Für den Krisenfall und für alle wesentlichen Entscheidungen blieb es dabei, daß die Nato-Mitgliedstaaten allein beraten und unilateral handeln können, ohne daß sich Rußland dagegen wehren dürfte und ohne daß die Allianz auf die russischen Positionen und Interessen Rücksicht zu nehmen hätte. Zwar wurde die Stationierung „ausländischer“, das heißt westeuropäischer Truppen auf dem Territorium der zukünftigen Nato-Mitglieder ausgeschlossen, aber nichts kann die Allianz daran hindern, ihr militärisches Potential in Osteuropa im Krisenfall umzustrukturieren.
Die nächste Etappe der Erweiterung vollzog sich mit der Zulassung neuer Mitglieder, wobei sich die Nato deren Auswahl wie die Entscheidung über den Beitrittszeitpunkt vorbehielt. Mit diesem Schritt war ein Prozeß eingeleitet, dessen Folgen wohl nicht von allen Beteiligten ausreichend abgewogen wurden.
Die territoriale Integrität Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik wird von keiner Seite angezweifelt, aber ihr Beitritt zur Nato stellt unweigerlich einen Präzedenzfall dar. Die nächsten Beitrittskandidaten könnte andere Staaten sein, die nicht eine ähnliche politische und territoriale Stabilität aufweisen. Dies gilt etwa für die baltischen Länder, die am 27. Mai 1997 in Tallinn im Beisein der Präsidenten von Polen und der Ukraine gemeinsam ihren Wunsch nach einem Nato-Beitritt ausgedrückt haben und von denen Estland und Lettland einen starken russischen Bevölkerungsanteil aufweisen.
Inzwischen ist das Atlantische Bündnis in eine neue Phase seiner Geschichte eingetreten. Es entwickelt sich zu einem ständigen Interventionsinstrument für Krisen und Konflikte, womit es sowohl seine Existenz und wie auch sein Fortbestehen rechtfertigt. Den nötigen Anlaß bot die Krise im ehemaligen Jugoslawien, und rückblickend wird man vielleicht einmal sagen, daß hier die Nato zu ihrer historischen Rolle gefunden hat. Im Falle Bosniens hatte die amerikanische Diplomatie ein bislang undenkbares Zugeständnis erreicht: Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Nato beauftragt, mit ihren militärischen Mitteln die UN-Resolutionen umzusetzen und für die Realisierung der getroffenen Vereinbarungen zu sorgen. Auf diese Weise wurde die Nato zum „bewaffneten Arm“ der UNO und schlüpfte damit in die Rolle eines Garanten der internationalen Ordnung auch jenseits der geographischen Region, auf die sich der Nordatlantische Vertrag ursprünglich erstreckte. Seitdem hat die Nato in der Bosnienkrise vollständig die Stelle der UNO eingenommen.
Mit der Kosovokrise und dem Nato- Krieg gegen Serbien, bei dem die Vereinten Nationen völlig ausgeklammert sind, erfolgte dann ein weiterer Schritt. Jetzt greift die Nato erstmals direkt in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Landes ein, und das ohne UNO-Mandat und trotz der russischen und chinesischen Opposition. Damit übernimmt sie – unter eindeutiger Führung der Vereinigten Staaten – die Rolle einer Schutz- und Überwachungsmacht für Europa. Eine spektakulärere Art, den Jahrestag der Gründung der Nato zu begehen, hätte man sich schwerlich vorstellen können.
dt. Margrethe Schmeer
* Journalist, Verfasser insbesondere von „Le Dernier Empire. Le XXIe siècle sera-t-il américain?“, Paris (Grasset) 1996.