Die Arbeitslosen sind selber schuld
Von CORINE BARELLA *
NACH Angaben von Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union, wuchs die Zahl der Armen in Belgien im Zeitraum von 1988 bis 1993 um 20 Prozent und stieg damit von 9 auf 15 Prozent der Bevölkerung; betroffen waren 1993 7,8 Prozent der Beschäftigten, 33,4 Prozent der Arbeitslosen und 13,7 Prozent der Rentner.1 Die Separationsbestrebungen des Nordens könnten die Armut weiter verschärfen, insbesondere in Wallonien. Die frankophone Region wäre gezwungen, das Defizit ihres Sozialhaushalts zu verringern, was mit einer Verminderung der Arbeitseinkommen um 3,63 Prozent oder der Sozialleistungen um 11,3 Prozent verbunden wäre. Insgesamt werden von Spezialisten klare Einschnitte bei den Sozialbeihilfen in einer Größenordnung von 25 Prozent genannt.2
Im Verlauf von fünfzehn Jahren haben Unsicherheit und Ausgrenzung erschreckende Ausmaße angenommen. 1981 gingen 3638552 Personen einer (abhängigen oder selbständigen) Beschäftigung nach, und registriert waren 415555 Arbeitslose, die eine Unterstützung erhielten. 1997 ist die Zahl der Beschäftigten um 117448 gestiegen, doch das belgische Arbeitsamt, der Office national de l'emploi (ONEM), hat 1245842 Unterstützungszahlungen geleistet (für mindestens einen Tag und maximal ein Jahr). Zwischen 1991 und 1997 stellte der ONEM wegen „unnormal langer“ Beschäftigungslosigkeit die Zahlung von Leistungen an 149690 „Kohabitantinnen“ und 21165 „Kohabitanten“ ein, das heißt an Personen, die in einem Haushalt mit solchen Personen leben, die über ein Einkommen verfügen.3 Die Centres publics d'aide sociale (CPAS), jene Einrichtungen also, die eine Art Sozialhilfe gewähren, zahlten im Januar 1997 an 80020 Personen das sogenannte Minimaleinkommen (Minimex). Diese Zuspitzung der Situation ist die Folge jener strikten Sparpolitik, die seit 1982 ohne Unterbrechung betrieben wird, da die Regierung bestrebt war, das staatliche Defizit auf jene 3 Prozent zu beschränken, die vom Maastricht-Vertrag gefordert wurden.
Die Sozialversicherung garantiert jedem Arbeitnehmer, der seine Beschäftigung verliert, ein Ersatzeinkommen; dasselbe gilt für jene Jugendlichen, die noch nie eine Anstellung hatten, aber ein neun- oder zwölfmonatiges „Wartepraktikum“ absolviert haben. Theoretisch gibt es keine zeitliche Begrenzung für die Gewährung einer Arbeitslosenunterstützung; eine Ausnahme bilden hier nur die „Kohabitanten“, denen das Geld nach einer gewissen Zeit gestrichen werden kann. Die Höhe schwankt zwischen monatlich 13000 und 33000 belgischen Franc (das sind rund 620 bzw. 1570 D- Mark), je nach Status: Kohabitant, Alleinstehender, Familienvorstand, früher ausgeübte Tätigkeit. Die Unterstützungsleistungen sind gestaffelt, je nachdem, ob ein Erwerbsloser alleinstehend ist oder aber das Einkommen mit einer anderen Person teilt. Die Differenz zwischen der höchsten Arbeitslosenunterstützung und dem staatlich garantierten Mindesteinkommen (von rund 35000 bfr, also 1665 D-Mark) liegt faktisch bei null, was sowohl die Arbeitgeber wie die Gewerkschaften veranlaßt, dies die „Arbeitslosigkeitsfalle“ zu nennen.4
Der Kampf gegen „Profiteure“ – Alibi für einen systematischen Abbau sozialer Rechte im Zuge einer europäischen Harmonisierung nach unten – wurde in den neunziger Jahren zu einem Hauptziel. Ein Wust von administrativen Sanktionen, die unter dem Regierungsbündnis aus Sozialisten und Christlich-Sozialen verabschiedet wurden, hat das Netz sozialer Absicherung durch die Sozialversicherung empfindlich geschwächt, so daß einer von fünf abgestraften Arbeitslosen nun auf die Wohlfahrt angewiesen ist. Seit 1990 hat die ONEM zwischen ein- und zweihunderttausend Sanktionen verhängt, und zwar in stetig steigendem Maße. Die Arbeitsministerin Miet Smet und ihre Behörde betreiben eine regelrechte Jagd auf vermeintliche Betrüger und verletzen dabei die belgische Verfassung wie die Menschenrechte. Von ihren Kritikern zur „Ministerin für Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Ungleichheit“ umbenannt, hält Miet Smet nicht mit ihren Ansichten hinter dem Berg: „Es gibt drei Arten von Arbeitslosen: die Profiteure, Menschen in schwieriger Situation – wie alleinerziehende Mütter – und Unschuldige, das heißt Menschen, die wirklich Arbeit suchen, aber keine finden.“ Und sie fügt hinzu: „Ich weiß mit Bestimmtheit, daß die belgische Sanktionspolitik verglichen mit der geringen Motivation vieler Arbeitsloser noch sehr großzügig ist.“ Schließlich unterstreicht die „flämische eiserne Lady“: „Ich erhalte viele Klagen über Erwerbslose, die eine Arbeit ablehnen. Aber die Unternehmen melden diese Leute nicht dem ONEM. Sie haben Angst, weil das die Gewerkschaften gegen sie aufbringt. Deshalb müssen die Kontrollen intensiver und systematischer betrieben werden.“5
Thierry Detienne, Abgeordneter der grünen Partei Ecolo, bestätigt: „Der ONEM ebenso wie die Ausländerbehörde billigen die Auffassung, wonach Arbeitslose nicht arbeiten wollten. Man macht die Leute glauben, daß, wenn nicht sehr hart und böse durchgegriffen wird, alle Flüchtlinge der Welt nach Belgien einströmen. Die vermehrten Hausbesuche und die Schaffung lokaler Arbeitsämter sind nicht geeignet, den Sinn derjenigen zu ändern, die Arbeitslose und Profiteure in eins setzen. Wenn Menschen auf eine Logik einschwenken, die Sündenböcke sucht und benennt, so beruhigt man sie nicht, indem man ihnen recht gibt. Im Gegenteil bringt man sie dazu, noch weiter zu gehen.“6
Die Freiheit der Erwerbslosen und Minimex-Empfänger wird massiv eingeschränkt: Es kommt zu Verletzungen der Privatsphäre und illegalen Haussuchungen, sie werden – insbesondere über die lokalen Arbeitsämter (ALE) – zu Zwangsarbeit verpflichtet, man verbietet ihnen, das Land zu verlassen, ihre Verteidigungsrechte werden eingeschränkt und ihr Recht auf Zusammenschluß sowie ihre politischen Freiheiten beschnitten.
Die Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung oder der Wohlfahrt wird inzwischen als Grundeinkommen angerechnet im Rahmen von „verbilligten Beschäftigungen“, das sind Programme, bei denen die Arbeitgeber nur noch eine Aufstockung zu zahlen haben. Hieß es früher: „Keine Arbeit ohne Lohn“, so heißt die Formel heute: „Keine Unterstützung ohne Arbeit“. So gibt es bestimmte Gruppen Beschäftigungsloser, die über die ALE aufgefordert werden, zu einer Arbeit zu erscheinen, für die sie keinen richtigen Vertrag erhalten und also auch nicht die soziale Absicherung genießen – und das Ganze zu Niedrigstlohn: 150 bfr (7,27 D- Mark) pro Stunde. Die Folge davon: 1998 gab es 40000 arbeitende Arbeitslose in Belgien (gegenüber wenig mehr als 10000 im Jahre 1995).
Die Erwerbslosen werden als verantwortlich für ihre eigene Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt gebrandmarkt, während Sozialpläne, Konkurse und Unternehmensverlagerungen zunehmen. Im übrigen brachte Syndicats, die zweimal monatlich erscheinende Zeitschrift der belgischen Gewerkschaft Fédération générale du travail de Belgique (FGTB), einen Artikel zu den 13000 offenen Stellen, die von den beiden regionalen Arbeitsvermittlungsstellen in Brüssel (Orbem) und Wallonien (Forem) angeboten werden: Diesem Angebot stehen 320000 Arbeitssuchende gegenüber.7 „Die Arbeitgeber“, sagt Michel Nollet, FGTB-Vorsitzender, „haben nie ja zur Beschäftigung gesagt, sondern nur ja zur Reduzierung der Arbeitgeberkosten.“8 Und wenn man den Unternehmenschefs ein bißchen mehr auf die Finger sähe? Darauf erwidert Arbeitsministerin Miet Smet, daß sie es „nicht befürwortet, automatische Sanktionen gegen solche Unternehmen juristisch zu verankern, die ihren gesetzlichen Verpflichtungen hinsichtlich der Sozialversicherung nicht nachkommen. Eine solche Automatik verbietet nämlich jede Interpretationsmöglichkeit.“9
Alles, was ein Arbeitsloser macht, ob in seinem gesellschaftlichen Leben oder bei der Arbeitsuche, kann Sanktionen zur Folge haben. Denn der Ministerin ist es gelungen, in ihre Politik jene Organisationen einzubinden, die auf regionaler und kommunaler Ebene für Arbeitsvermittlung sowie Aus- und Weiterbildung zuständig sind. So kann es passieren, daß ein Erwerbsloser, der an einer Stellenausschreibung dieser Einrichtungen Interesse gezeigt, den Arbeitsplatz aber nicht bekommen hat, anschließend aufgefordert wird, beim ONEM zu erscheinen und sich zu rechtfertigen. Und alle, die sich um die gleiche Stelle beworben haben, müssen denselben Durchlauf hinter sich bringen. Je höher die Arbeitslosenunterstützung ist, um so größer ist die Gefahr, kontrolliert zu werden. Zahlreich sind auch die Kontrollmaßnahmen im Gefolge von Denunziation. Zu einer Welle von Empörung kam es in jüngster Zeit, nachdem Haussuchungen stattfanden, die dazu dienen sollten, die familiäre Situation der Arbeitslosen zu überprüfen. Für die Belgische Menschenrechtsliga (LBDH) wie den früheren – christlich-sozialen – Justizminister Stefaan De Clerck grenzt diese Praxis des ONEM an den Tatbestand des Hausfriedensbruchs und der Verletzung der Privatsphäre.
Um den wachsenden Protest einzudämmen, hat Miet Smet inzwischen eine Modifikation des Gesetzes vorgeschlagen, womit sie implizit das Vorliegen von Rechtsverletzungen zugibt. Trotz stürmischer Debatten in der Abgeordnetenkammer hatte letztlich doch eine Mehrheit einem Haussuchungsverfahren speziell für Arbeitslose zugestimmt.10 Die Belgische Menschenrechtsliga will wegen Diskriminierung Klage einreichen.11 Gegenüber der Kammerkommission für Soziale Angelegenheiten hat einzig die FGTB gefordert, das Gesetz zurückzuziehen; die größte Gewerkschaft des Landes, die Confédération des syndicats chrétiens (CSC) begrüßte das Gesetz. Für die unabhängigen Arbeitslosenverbände ist das Faß voll. Am 8. März dieses Jahres haben zwei von ihnen12 Miet Smet den Slogan entgegengeschleudert: „Wer Armut sät, wird Wut ernten!“ (Qui sème la misère récolte la colère)
dt. Eveline Passet
* Journalistin, Lüttich.