11.06.1999

Ein „Großer Sandschak“?

zurück

Ein „Großer Sandschak“?

IM Sandschak von Novi Pazar vollziehen sich derzeit große Migrationsbewegungen. Der Sandschak bildet das territoriale Verbindungsstück zwischen dem Kosovo und Bosnien-Herzegowina und ist zugleich eine Region von historischer Bedeutung. Seit den Balkankriegen von 1912 ist er zwischen Serbien und Montenegro aufgeteilt. Seine Bevölkerung besteht zu etwa 55 Prozent aus muslimischen Slawen, die sich neuerdings gerne als „Bosniaken“ bezeichnen1 .

Seitdem die Hauptstadt des Sandschak, das in Serbien gelegene Novi Pazar, von der Nato grausam bombardiert wurde, flüchten viele Bewohner des serbischen Teils nach Bosnien sowie in den montenegrinischen Teil des Sandschak. Aber auch die Bewohner des montenegrinischen Sandschak ziehen in Richtung Bosnien, während zahlreiche albanische Kosovo-Flüchtlinge sich in ihrer Region niederlassen.

1992, zu Beginn des Bosnienkrieges, war es auch im Sandschak zu einigen ethnischen Säuberungsaktionen gekommen, vor allem im serbischen Teil. Doch die politische Lage hatte sich anschließend wieder beruhigt. Die politische Klasse der Muslime im serbischen Sandschak ist extrem zersplittert, seitdem die Partei der Demokratischen Aktion (dieselbe SDA, die in Sarajevo an der Macht ist) sich hier in verschiedene rivalisierende Fraktionen aufgespalten hat, die sich gegenseitig beschuldigen, für Milosevic' Geheimdienst zu arbeiten. Im Herbst 1997 war der SDA- Vorsitzende im Sandschak, Suleiman Ugljanin, zum Bürgermeister von Novi Pazar gewählt worden, doch dann wurde er von oben seines Amtes enthoben und ins Gefängnis gesteckt.

Auf der montenegrinischen Seite wurde die SDA mit den Wahlen vom Mai 1998 praktisch von der politischen Bühne verdrängt, denn die Stimmen der Muslime gingen in den wichtigsten Gemeinden wie Bijelo Polje oder Rozaje an die von Milo Djukanovic geführte Koalition, der sie damit den Sieg gegen die Kräfte des alten Präsidenten Bulatovic sicherten.

DER Sandschak ist eine Gegend, die durch die Koexistenz zweier stark radikalisierter Gemeinschaften gekennzeichnet ist. Für die Serben gehört die Region zu der ehemaligen Raska, einem Kerngebiet des mittelalterlichen Serbenstaates, und die Muslime im Sandschak leben in der ständigen Furcht vor einer massiven ethnischen Säuberung. Diese Muslime, die in Sarajevo sehr stark vertreten sind – mehrere Leitungsmitglieder der bosnischen SDA kommen ursprünglich aus dem Sandschak – stehen nicht nur im Ruf, politische Extremisten zu sein, sie gelten auch als die Drahtzieher diverser illegaler Geschäfte. Es gibt Einschätzungen, wonach eine Situation eintreten kann, in der die Serben ihren Teil des Sandschak von seinen muslimischen Einwohnern „säubern“ werden, während der montenegrinische Sandschak zu einem „grünen Bergrücken“ werden könnte, der die beiden muslimischen Staaten des Balkan, Albanien und Bosnien, verbindet.

Der Sandschak ist seit alters her von großer strategischer Bedeutung. Nachdem Bosnien 1878 der Kontrolle Österreich-Ungarns unterstellt worden war, hatte Wien darauf bestanden, den Sandschak unter der Souveränität des Osmanischen Reiches zu lassen, damit Serbien und Montenegro keine gemeinsame Grenze hatten. In Zukunft könnte der Sandschak, oder zumindest der montenegrinische Teil, durchaus zu einer wichtigen Schmuggelroute werden, aber auch zum Einfallstor für Islamisten2 .

In Novi Pazar träumten Leute wie Ugljanin von einem „Großen Sandschak“, der aus einer Vereinigung mit dem muslimischen Teil Bosniens entstehen könnte. Die Idee klingt absurd, ist es aber durchaus nicht, wenn der Fall eintreten sollte, daß der staatliche Rahmen des heutigen Bosnien-Herzegowina auseinanderbricht.

JEAN-ARNAULT DÉRENS

Fußnoten: 1 Bosnijaci oder Bosniaken: Offizielle Bezeichnung für die slawischen Muslime, im Unterschied zu den Bosanci (Bosniern), die alle Einwohner Bosniens bezeichnen, also auch Serben und Kroaten. 2 Siehe Kiro Nikolovski, „Come nasce la dorsale verde“, Limes, Rom, Oktober 1998, S. 15-27.

Le Monde diplomatique vom 11.06.1999, von JEAN-ARNAULT DÉRENS