Nadelstreifen über der Uniform
DIE erdrückende Dominanz der Militärs im Lateinamerika der siebziger Jahre ist im Verlauf der letzten zwanzig Jahre stark zurückgegangen. Die Militärs traten den Rückzug an, als sie dem Druck der hochkomplex gewordenen Gesellschaften nicht mehr standhalten konnten und sich außerstande sahen, ihre Länder in die Weltwirtschaft zu integrieren. Doch nun sind sie diskret auf die politische Bühne zurückgekehrt. Einige von ihnen werden zwar für ihr damaliges Verhalten angeklagt, doch die meisten tragen jett neu Kleider und streben neue Funktionen an, die es ihnen ermöglichen sollen, weiterhin mächtige Akteure in Politik und Wirtschaft zu bleiben.
Von MARIANO AGUIRRE *
Während einige hohe Würdenträger der lateinamerikanischen Armeen vor Gericht stehen oder im Gefängnis sitzen, wurden in letzter Zeit in mehreren Ländern Offiziere auf demokratischem Weg in wichtige Ämter gewählt. In Guatemala, dem Land der 200000 Toten (siehe Seite 23), wurde der General a.D. und ehemalige Diktator Efrain Rios Montt im Dezember 1994 Parlamentspräsident und bereitet derzeit seine Präsidentschaftskandidatur für das nächste Jahr vor. In Kolumbien trat der ehemalige Oberkommandierende der Streitkräfte, General Harold Bedoya, bei den letzten Wahlen an – allerdings mit kümmerlichem Ergebnis. In Bolivien wurde 1997 mit General a.D. Hugo Banzer die Symbolfigur der Repression in den siebziger Jahre zum Staatspräsidenten gewählt.
Ein weiteres Beispiel ist Venezuela, wo Kommandant Hugo Chávez im Dezember 1998 zum Präsidenten gewählt wurde; 1992 hatte er einen Putschversuch angeführt, der mißlungen war. Bei seinem Amtsantritt am 2. Februar kündigte er an, er werde all diejenigen wieder in die Armee aufnehmen, die aufgrund des versuchten Staatsstreichs aus der Armee ausgeschlossen worden waren, und sprach im Zusammenhang mit den Toten von damals von „Märtyrern“. Chávez gehört nicht der Generation der siebziger Jahre an: Sein Putschversuch 1992 war eine populistische Initiative, die sich gegen die Strukturanpassungspläne des damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez und gegen die Auswirkungen der Globalisierung richtete. Sein Programm sieht eine starke Regierung vor, die mit dem traditionellen Zweiparteiensystem von Sozialdemokraten und Christsozialen bricht, sowie eine Intensivierung des Kampfs gegen Korruption und Neoliberalismus.
Zwischen diesen beiden Extremen – dem Offizier auf der Anklagebank und dem aufstrebenden Politiker – geistert das Gespenst der Paramilitärs herum. Die Söldner der Mächtigen, die Mörder, die in Argentinien, Kolumbien, El Salvador oder Guatemala die schmutzige Arbeit erledigt hatten, versteckten sich bisher hinter Bezeichnungen wie „Selbstverteidigungseinheiten von Córdoba und Urabá“ (Unidades de Autodefensa de Córdoba y Urabá) oder Kürzeln wie Triple A (Alianza Anticomunista Argentina, in den siebziger Jahren aktiv). Mittlerweile treten sie ganz offen auf und bestehen auf ihrer politischen Legitimität. So zum Beispiel der kolumbianische Paramilitär Carlos Castaño, der an den Friedensverhandlungen beteiligt werden möchte.1 Selbst im mexikanischen Chiapas beanspruchen diese Hilfstruppen des Staates oder der Großgrundbesitzer bei politischen Verhandlungen dasselbe Gewicht wie die Zapatisten.
Die lateinamerikanischen Militärs befinden sich in einer Phase der Neudefinition ihrer eigenen Rolle. Seit dem 19. Jahrhundert waren sie das tragende Element der entstehenden Nationalstaaten. Zunächst standen sie auf der Seite der Latifundisten und verbündeten sich dann mit den lokalen Bourgeoisien, um ihre Interessen zu verteidigen. In vielen Ländern, wie Mexiko, Brasilien, Argentinien, Peru oder Panama, hatten sie eine nationalpopulistische Phase, doch seit den sechziger Jahren dienten sie herrschenden Interessen und Werten. Unter technischer und ideologischer Anleitung der USA verbanden sie lokale Zielsetzungen mit einer universellen antikommunistischen Mission.
In Argentinien und Chile wenden sich die Opfer trotz der Begnadigungen und Gefälligkeitsgesetze, die bislang die Straflosigkeit der Militärs ermöglicht hatten, an die Justiz.2 In Argentinien werden juristische Gefechte ausgetragen, um Offiziere auf die Anklagebank zu bringen, die während des Bosnienkrieges illegal Rüstungsmaterial an Kroatien verkauft hatten, sowie an Ecuador, als dieses in einen Krieg mit Peru verwickelt war. Dies ist insofern besonders heikel, als Argentinien, genauso wie Uruguay und andere Länder der Region, an Friedensmissionen beteiligt war (auch in Jugoslawien). Trotz der zahlreichen institutionellen Hürden, die die Regierung von Carlos Menem mit Hilfe des Obersten Gerichtshofes und beider Parlamentskammern errichtet hat, bleibt die argentinische Justiz am Ball und weitet ihren Aktionsradius noch weiter aus: Es geht um die Kinder von „Verschwundenen“, um Anschuldigungen aus dem Ausland und jetzt auch um den Vorwurf des organisierten Antisemitismus während der Diktatur3 .
In Paraguay zwang die Affäre um den General a.D. Lino Oviedo im März 1999 Präsident Raúl Cubas zum Rücktritt. Oviedo war beschuldigt worden, einen Staatsstreich angezettelt zu haben, und war zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Doch Präsident Cubas als sein persönlicher Freund hatte ihn wieder auf freien Fuß setzen lassen und ihm seine politischen Rechte wiedergegeben. Als der Oberste Gerichtshof im Februar seine erneute Inhaftierung anordnete, versuchte Präsident Cubas, sich dieser Entscheidung zu widersetzen. General Oviedo befand sich bereits mitten im Wahlkampf und war auf dem besten Weg, in die Fußstapfen von Banzer und Chávez zu treten. Doch dann wurde Vizepräsident Luis Maria Argaña ermordet, ein Gegner General Oviedos. Alles schien auf einen bevorstehenden Staatsstreich hinzudeuten. Doch ein interner Pakt, der Anhängern von Exdiktator Alfredo Stroessner ebenso wie Repräsentanten der demokratischen Opposition den Weg zur Macht ebnete, sorgte – nebst dem Druck der USA, des Vatikans, Brasiliens und Argentiniens – letztendlich dafür, daß General Oviedo und Präsident Cubas ins Exil gingen.4
Die Bürger Lateinamerikas sind reichlich desillusioniert, was Demokratie anbelangt. Nicht nur Armut, Kriminalität und die Korruption der Eliten sind dafür verantwortlich, sondern auch die Austeritätsprogramme, denen sie im Namen der Globalisierung ausgesetzt sind. Dies hat die Wahlerfolge von Persönlichkeiten aus dem Militär begünstigt, die für eine Neuauflage des Nationalpopulismus stehen und die Ineffizienz ziviler Regierungen kritisieren. In Venezuela ergab eine Umfrage vor kurzem, daß 48 Prozent der Befragten mit dem Vorschlag Chávez', den Kongreß aufzulösen, einverstanden sind.5
„Da die Rechtssysteme so gut wie inexistent oder einfach zu korrupt sind, um Gesetz und Ordnung durchzusetzen, nehmen die Lateinamerikaner ihre Verteidigung selbst in die Hand. Die Tatsache, daß so viele ehemalige Offiziere zum Präsidentschaftswahlkampf antreten, hat nichts Überraschendes“, resümiert ein Bericht in Time.6 In der argentinischen Provinz Tucumán ist General Antonio D. Bussi zum Gouverneur gewählt worden, ein Mann, der während der letzten Diktatur traurige Berühmtheit erlangte, weil er dafür gesorgt hatte, daß Tucumán die Provinz mit den meisten „Verschwundenen“ war. Der rechtsextreme Putschist Oberstleutnant Aldo Rico wurde zum Bürgermeister des Bezirks La Matanza im Großraum Buenos Aires gewählt.
Der Preis für diese Art der „Beförderung“ sind Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte und Gesetzesverschärfungen im Namen der Kriminalitätsbekämpfung. Sie gefährden von Argentinien bis Trinidad-Tobago und von der Dominikanischen Republik bis Guatemala Freiräume, die ohnehin prekär sind.7
Die Militärs sind im Begriff, überall Machtenklaven zu schaffen, das heißt Staaten im Staat: Sie kontrollieren in den meisten Fällen Polizei und Geheimdienste. Sie bedienen nach wie vor die zivilen Interessen der Mächtigsten, doch sie nehmen im politischen System und in der Wirtschaft selber immer wichtigere Stellungen ein. Die fragilen demokratischen Regierungen sehen sich massivem Druck ausgesetzt. So erreicht die Armee, was sie will, ohne daß es nötig ist, die zivile Obrigkeit zu stürzen.8 Dieses Phänomen kann verschiedene Erscheinungsformen annehmen: In Chile hat sich ein militärischer Block in der Legislative eingenistet, so daß Abgeordnete und Senatoren keine Gesetze gegen den Willen der Streitkräfte verabschieden können.
In Peru haben die Militärs zuerst die Guerillabewegungen bekämpft und regieren seit 1992 mit einer Gruppe ziviler und militärischer Technokraten unter der Leitung des zivilen Staatsoberhaupts Alberto Fujimori. Der mächtige Geheimdienst Servicio de Inteligencia Nacional (SIN) mit General Vladimiro Montesinos an der Spitze steht im Zentrum der Macht. Fujimori kommt die Aufgabe zu, alle Korruptionsanklagen und Repressionsvorwürfe gegen die Armee abzublocken.
In Kolumbien, Ecuador, Guatemala und Chile besitzen die Militärs bedeutende Anteile der Erdölindustrie und des Hotelgewerbes sowie Immobilien, Fluggesellschaften usw.9 Die chilenische Armee war an der Weltmarktintegration des Landes aktiv beteiligt, und kassiert nun ganz legal 10 Prozent der Einkünfte aus dem Kupferexport. Ein ähnliches Gesetz sichert den ecuadorianischen Militärs für die nächsten fünzehn Jahre 15 Prozent des Erdölexporterlöses. In Argentinien versorgt die Regierung Menem die Armee von den höchsten Chargen bis zu den Unteroffizieren mit Arbeitsplätzen und Geld, damit sie nicht ihre Energie darauf verwenden, die Demokratie zu sabotieren. Die zentralamerikanischen Truppen besitzen ebenfalls wichtige Anteile an der Wirtschaft, die sie sich vor der Unterzeichnung der Friedensverträge und den Regierungswechseln der letzten Jahre noch schnell gesichert hatten.
Die Militärs begreifen sich nicht mehr so eindeutig wie früher als direkten Ersatz für eine zivile Regierung, aber dafür als politische Akteure, die ihre Prioritäten durchsetzen, sowie als eventuelle Notlösung für das Regime. Zudem merken die jungen Offiziere, daß nationale Entscheidungen in der Politik vom internationalen Kontext beeinflußt werden. Dem müssen sie sich trotz ihrer nationalen Interessen beugen und an geoökonomischen Projekten von strategischer Bedeutung mitarbeiten: An der Lateinamerikanischen Freihandelszone, dem Mercosur, dem Andenpakt, dem Zentralamerikanischen Gemeinsamen Markt, der Karibischen Gemeinschaft (Caricom) und der großen kontinentalen Free Trade Area of the Americas, die für das Jahr 2005 anvisiert ist. Dasselbe gilt für die Verteidigungs- und Sicherheitsabkommen, die zur Absicherung der ökonomischen und handelspolitischen Projekte notwendig sind.10
Alle diese Projekte setzen die Akzeptanz eines neoliberalen Modells voraus, das sich in einer Verschärfung der sozialen Widersprüche niederschlägt. Der größte Teil der produzierten Reichtümer liegt immer noch in den Händen von nur 20 Prozent der Lateinamerikaner.11
Hinzu kommt auch noch die Rolle der USA, die seit einem halben Jahrhundert das Leitbild der lateinamerikanischen Militärs sind. Bald wird der traditionelle „Hinterhof“ der größte Handelspartner der Vereinigten Staaten sein. Zugleich ist Lateinamerika für die USA eine Problemquelle, insbesondere wegen des Drogenexports und der Emigration12 – beides Kernbereiche des Konzeptes „kontinentaler Sicherheit“.
Obwohl die lateinamerikanischen Militärs nicht mehr in der School of Americas ausgebildet werden, nehmen sie doch noch an von den USA gesteuerten Ausbildungsprogrammen teil. 1998 wurden in neunzehn lateinamerikanischen und neun Karibikstaaten ungefähr 2700 Soldaten und Offiziere von US-amerikanischen Sondereinheiten eingesetzt, um die dortigen Streitkräfte in der Drogen- und Aufstandsbekämpfung zu schulen. Der größte Teil dieser Ausbildung wird über das Pentagon's Joint Combined Exchange Training Program abgewickelt.13 Über diese Programme und den Verkauf von Waffen trägt Washington zur Stärkung der Militärs bei und festigt ihre ohnehin gefährliche Stellung innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaften.
dt. Miriam Lang
* Leiter des Centro de Investigación para la Paz, Madrid, und Forscher am Transnational Institute in Amsterdam.