Kohabitation im Gottesstaat
Der vor zwei Jahren zum Präsidenten des Iran gewählte Mohammad Chatami hat verschiedene Länder der arabischen Welt besucht, darunter das Königreich Saudi-Arabien, den langjährigen Rivalen am Persischen/Arabischen Golf. Chatami hat mit diesen Reisen seine Absicht einer Erneuerung der Außenpolitik untermauert. Doch die zentralen Auseinandersetzungen zwischen Reformkräften und Konservativen laufen im Iran selbst ab und betreffen die Beziehung zwischen Islam und Politik. Der Ausgang dieses Kampfes wird icht nur die Zukunft des Iran maßgeblich bestimmen, sondern auch die gesamte muslimische Welt beeinflussen.
Von unserem Korrespondenten ERIC ROULEAU *
DIE Residenz von Großajatollah Hossein Ali Montaseri liegt im Zentrum der heiligen Stadt Qom. Montaseri ist der einflußreichste Geistliche des schiitischen Islam und wurde lange Zeit als designierter Nachfolger von Imam Chomeini an der Spitze der Islamischen Republik Iran gehandelt. Im allgemeinen empfängt er seine ausländischen Besucher mit großer Herzlichkeit, doch diesmal wurde ich an der Tür abgewiesen, was an sich ungewöhnlich ist. Der 77jährige Montaseri war 1989 in Ungnade gefallen, als er unter anderem die zahlreichen Hinrichtungen von politischen Gefangenen kritisierte. Vor achtzehn Monaten wurde er unter Hausarrest gestellt, weil er den theokratischen Charakter der Islamischen Republik und das Prinzip des Welajat-e Faqih (Die Statthalterschaft der Rechtsgelehrten) in Zweifel gezogen hatte, die Grundlage der iranischen Theokratie. Seiner Auffassung nach hat der „Wali-e Faqih“, der „religiöse Führer“ der Republik, keine göttliche Legitimität. Er solle auf demokratischem Wege mit einem zeitlich begrenzten, widerruflichen Mandat ausgestattet werden und im wesentlichen nur geistliche Aufgaben wahrnehmen. Überdies solle man mit diesem Amt lieber einen Laien betrauen, der wegen seiner theologischen Kenntnisse und menschlichen Fähigkeiten Achtung genießt, anstatt ein Mitglied des Klerus zu wählen, dem diese Vorzüge fehlen. Sein schwerstes „Verbrechen“ war allerdings, daß er dem derzeitigen Wali-e Faqih und Nachfolger Chomeinis, Ajatollah Ali Chamenei, die erforderlichen Qualitäten absprach.
Ajatollah Montaseri hat im hohen und niederen Klerus zahlreiche Anhänger, die vielfach radikaler sind als er selbst. Mindestens zwei weitere Ajatollahs stehen ebenso wie Montaseri unter Hausarrest. Andere wurden durch den angedrohten Entzug der staatlichen Unterstützungsgelder oder durch die Mörder der paramilitärischen Hisbollah (Partei Gottes) zum Schweigen gebracht. Auch der niedere Klerus, dem man in weiten Teilen eine Protesthaltung nachsagt, blieb von der Repression nicht verschont. Eine unbestimmte Zahl von Mullahs, die ihre abweichende Meinung offen kundtaten, wurden ihres religiösen Amts enthoben und sitzen im Gefängnis oder erwarten ihren baldigen Prozeß vor dem gefürchteten „Gericht für die Geistlichkeit“. Ihre Abkehr vom Islamverständnis der geistlichen Potentaten erklärt sich aus mehreren Gründen. Der niedere Klerus profitiert nicht von den staatlichen Vergünstigungen, die einer winzigen Schicht der schiitischen Hierarchie vorbehalten bleiben. Er leidet unter der allgemeinen Unbeliebtheit des Klerus in der Bevölkerung, die den geistlichen Stand insgesamt für die Verfehlungen des Regimes verantwortlich macht. Manche niedere Geistliche fordern gar, der Klerus solle sich völlig aus dem Staatsapparat zurückziehen und sich, wie vor der Revolution von 1979, erneut seiner moralischen, unter Umständen auch oppositionellen Aufgabe widmen.
Wer sich von den Heiligen Schriften entfernt
DIE Wahl des reformerisch orientierten Hodschatalislam Mohammad Chatami zum Staatspräsidenten im Mai 1997 verschaffte der Bewegung zusätzlichen Auftrieb. Das zeigt sich exemplarisch an der Haltung von Mohsen Kadivar. Bereits in früheren Gesprächen vertrat der 39jährige Mullah und Professor der Philosophie wenig orthodoxe Anschauungen, wollte jedoch nicht namentlich genannt werden. Vor zwei Jahren verließ er die Anonymität und wandelte sich zum politischen Aktivisten. In den neuen Publikationen der Opposition, die sich seither größere Freiheiten herausnehmen, veröffentlichte er unter seinem Namen polemische Kolumnen, in denen er die theokratische Natur des Welajat-e Faqih scharf kritisiert und die derzeitigen Machthaber beschuldigt, ähnlich totalitäre Praktiken anzuwenden wie zuvor die Monarchie. In Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau fordert er einen „Gesellschaftsvertrag“, der die Beziehungen zwischen Staat und Bürgern regelt. Die Grenze der Toleranz überschritt er mit seiner Forderung, die Attentatsserie auf Oppositionspolitiker im Dezember 1998 müsse „rückhaltlos aufgeklärt“ werden, wobei er andeutete, die Auftraggeber seien in den höheren Sphären des weltlichen oder religiösen Machtapparats zu suchen. Die Täter, die den Oppositionspolitiker Dariusch Foruhar, dessen Frau sowie zwei laizistische Schriftsteller ermordet haben, wurden verhaftet, doch die geheime Untersuchung ist noch immer nicht abgeschlossen. Im April dieses Jahres wurde Kadivar, der wiederholt die Veröffentlichung der Namen der Mörder forderte, vom „Gericht für die Geistlichkeit“ zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt.
Die konservativen Geistlichen bezeichnen ihre Gegner als „Revisionisten“, in ihrem Verständnis ein Schimpfwort. Die Dissidenten machen dagegen geltend, die Praxis des Idschtihad (die Interpretation der Heiligen Schriften) werde vom schiitischen Islam, dem im Iran die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung angehört, ausdrücklich anerkannt und gutgeheißen. Der Mudschtahid – jener Geistliche, der den Idschtihad ausübt – habe sogar das Recht, die Rechtsvorschriften neu zu interpretieren, da das islamische Recht prinzipiell kein starres Regelwerk sei. Unter Berufung auf dieses Privileg rechtfertigen manche Texte sogar die Trennung von Staat und Religion und fordern eine wenn nicht rechtliche, so zumindest doch faktische Laizität. Zahlreiche Theologen und Philosophen unter den islamischen Rechtsgelehrten unterstützen diese Forderung, aber sie bekennen sich nicht ausdrücklich dazu, um den Repressionsorganen keinen Vorwand zu liefern. Denn nach Ansicht der derzeitigen Machthaber negiert der Begriff der Laizität, der in den heiligen Büchern nicht vorkommt und im Persischen keine Entsprechung hat, sowohl den Islam wie auch die Verfassung der Islamischen Republik, ja die Revolution selbst.
Scheich Mohammad Schabistari, Professor für islamische Philosophie an der Universität Teheran, wird als Mudschtahid in der gesamten muslimischen Welt geschätzt und geachtet. Seine Zensoren bezeichnen ihn als „Liberalen“. Schlank und hochgewachsen, mit harmonischen Gesichtszügen und einem sorgfältig geschnittenen weißen Bartkollier, Hornbrille und weißem Turban, wählt der Theologe sorgsam seine Worte: „Der Islam kennt keinerlei staatliche Zwangsorgane. So legitim eine Regierung ist, die sich nach den höchsten Werten des Islam richtet, zumal in einem tiefgläubigen und traditionsverbundenen Land wie dem unseren, so unsinnig ist mit Blick auf die Heiligen Schriften die Rede von einem islamischen Staat. Das Welajat-e Faqih ist daher keine religiöse, sondern eine politische Institution. Unsere Verfassung, der ich mich als Bürger verpflichtet fühle, beinhaltet sowohl religiöse Rechtsvorschriften als auch die Bürgerpflichten. Diese Vermischung ist für viele unserer Probleme verantwortlich. Irgendwann werden wir uns aus diesem Widerspruch befreien und den Erfordernissen der Moderne anpassen müssen.“
Die Moderne ist eines der Schlüsselwörter der leidenschaftlich geführten öffentlichen Debatte. Auch der muslimische Philosoph Abdol Karim Sorusch, dessen Ideen seit Chatamis Wahl zum Staatspräsidenten „an der Macht sind“, wie es lapidar heißt, beruft sich auf die Moderne. Der kühne Neuerer, der im Klerus wie in der Zivilgesellschaft großen Einfluß besitzt, entfernt sich entschlossen von den Heiligen Schriften: „Wir müssen aufhören, uns vorzumachen, daß der Islam für alle Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft, wie etwa die Demokratie und die Menschenrechte, geeignete Lehren bereithält. Die religiösen Vorschriften des Propheten beziehen sich in erster Linie auf die Pflichten der Gläubigen, während die Demokratie die Rechte der Bürger garantiert. Wir, die Intellektuellen der Dritten Welt, haben die Aufgabe, beides miteinander in Einklang zu bringen.“
Auf die Frage, wie dies zu bewerkstelligen sei, meint er: „Ganz einfach, indem wir uns vorzustellen versuchen, wie der Prophet Stellung beziehen würde, wenn er auf die Erde zurückkehren und unter uns leben würde. Er jedenfalls wüßte zu unterscheiden zwischen den Grundprinzipien des Koran, deren Zahl sehr gering ist, und der Unmenge von historisch bedingten Urteilen, die der ganz anders gearteten Gesellschaft vor 1400 Jahren entsprachen.“ Nicht mehr zeitgemäß seien daher die Institutionen des „Gottesstaats“ wie das Welajat-e Faqih, die sogenannten islamischen Strafmaßnahmen, die Tötung Abtrünniger (eine Anspielung auf Salman Rushdie u.a.) die Ungleichheit von Mann und Frau sowie die Diskriminierung von Nichtmuslimen in einem muslimischen Staat.
Vor kurzem noch bewegte sich Abdol Karim Sorusch gemessenen Schritts im Bereich der Religion und hielt sich von der Politik fern. Es ist daher nicht verwunderlich, daß er nun seinen Philosophie-Lehrstuhl an der Universität verlor. In der Öffentlichkeit kann er nicht mehr das Wort ergreifen, ohne tätliche Angriffe der Hisbollahi befürchten zu müssen. Nur in Begleitung und mit dem Auto wagt er sich noch in die Stadt, und er spielt mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Dennoch hat er als Erfolgsautor allen Grund, zufrieden zu sein. Seine Bücher erreichen etwa zwei- bis dreimal so hohe Auflagen wie andere Werke im Durchschnitt. In der heiligen Stadt Qom, wo er im niederen Klerus und unter den Koranstudenten zahlreiche Anhänger hat, wird er mehr gelesen als im übrigen Land.
Die staatsbürgerlichen Grundrechte, ein Hauptanliegen des neuen Staatspräsidenten Mohammad Chatami, wurden seit seinem Amtsantritt beträchtlich ausgeweitet, insbesondere die Pressefreiheit. Im selben Maße verschärfte sich unter Federführung des „Wali-e Faqih“ Ajatollah Chamenei allerdings auch die staatliche Repression. Chatami gilt gegenüber seinem konservativen Gegenspieler Chamenei als Kopf der liberalen Opposition. Diese „Kohabitation nach iranischer Art“, bei der es um die Macht im Staat und vielleicht auch um die Zukunft der Islamischen Republik überhaupt geht, trägt Züge eines latenten Guerilla- oder Stellungskriegs, in dem die gegensätzlichen Auslegungen des Islam nur einen Aspekt bilden. Zentraler Austragungsort der Konfrontation sind die Medien. Während Rundfunk, Fernsehen und zahlreiche Publikationen von Konservativen dominiert werden, kämpfen eine Reihe von Tageszeitungen und Zeitschriften für eine Modernisierung.
Zwar vermeiden die Journalisten es, allzu sensible und überdies zweitrangige Themen wie das Alkoholverbot oder den Schleierzwang für Frauen aufzugreifen, doch verteidigen sie mit viel Mut die Prinzipien, die der neue Präsident in den Mittelpunkt seiner Wahlkampagne gestellt hatte: Rechtsstaatlichkeit, staatsbürgerliche Grundrechte, persönliche Freiheitsrechte, Pluralismus und Legalisierung sämtlicher Parteien, die die Verfassung prinzipiell anerkennen, auch wenn sie manche Regelungen, wie etwa die Funktionsweise des Welayat-e Faqih, kritisieren. Die Person des Wali-e Faqih allerdings, der als ebenso unfehlbar gilt wie der Papst, bleibt tabu. Die reformorientierte Presse aller Schattierungen – die dem Präsidenten nahestehenden Tageszeitungen Sobh-e Emrus und Chordad, die Tageszeitung der islamischen Linken Salaam, die Zeitung Neschat und die Monatszeitschrift Kian der unabhängigen Linken, das feministische Organ Sanan, die Tageszeitung Hamschahri der modernistischen Rechten – sie alle veröffentlichen die Schriften und Erklärungen der „revisionistischen“ Theologen und der konservativ, aber freiheitlich gesinnten Geistlichen.
Der Staat antwortet auf diese Herausforderung mit verschiedenen Mitteln. Er verbietet mißliebige Publikationen, die jedoch unter anderem Namen sogleich wieder herauskommen, und er verhaftet unbotmäßige Journalisten, die jedoch nach ihrer Freilassung sogleich wieder zum Angriff übergehen. In den Medien laufen Einschüchterungskampagnen. Daneben kommt es zu tätlichen Übergriffen und Morddrohungen durch anonyme Personen oder Scheinorganisationen. Wie das Geheimdienstministerium einräumen mußte, gehen einige Attentate auf das Konto ihrer Agenten, die jedoch aus eigenem Antrieb gehandelt hätten.
Umfassende Freiheiten, leider nur virtuell
DIE Zeit der Mörder sei vorbei, verkündete Mohammad Chatami jüngst in einer Rede, und sein Minister für Kultur und Religiöse Führung, Ataollah Mohadscherani, wird nicht müde zu wiederholen, daß „die Abschaffung der Zensur irreversibel ist“. Und in der Tat genehmigte er die Veröffentlichung zahlreicher literarischer und filmischer Werke, die politisch oder moralisch „nicht korrekt“ sind, mit Ausnahme derjenigen, die sinnliche Szenen enthalten. Darüber hinaus hat er die bekanntermaßen laizistische und linke Vereinigung der iranischen Schriftsteller, die unter der Republik wie unter der Monarchie stets verboten war, gleich nach deren offizieller Gründung im März dieses Jahres anerkannt. Als er sich deshalb wegen „antiislamischer“ Machenschaften vor dem Parlament verantworten mußte, entging er nur mit knapper Mehrheit seiner Absetzung: Viele Abgeordnete fürchteten zweifellos den Unmut der Öffentlichkeit.
Die Justiz ist einer der Hauptaustragungsorte der Auseinandersetzung. Sie fällt in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich des Wali-e Faqih und entzieht sich daher der Kontrolle durch die Legislative und die Exekutive. „Das Schwert der Gerechtigkeit liegt in der Hand unserer Gegner“, klagt Mohammad Atrianfar, Herausgeber der auflagenstärksten Tageszeitung, Hamschahri. Und dieses Schwert ist um so mehr zu fürchten, als der Herr in personam es führt. „Die Justiz ist wesentlich göttlicher Natur“, erklärt Assadollah Badamchian, einer der einflußreichen Führer des konservativen Lagers. „Die Justiz bezieht ihre Legitimität nicht vom Volk, sondern vom Islam“, präzisiert der oberste Richter, Ajatollah Mohammad Jasdi. Viele Gesetze enthalten regelrechte Gummiparagraphen, die sich nach Belieben drehen und wenden lassen. So hat etwa jeder das Recht auf Meinungsfreiheit, vorausgesetzt, er „verstößt nicht gegen den Islam“ und gebraucht es nicht, „um Verwirrung in den Köpfen anzurichten“.
Die geltenden Gesetze und die mit ihrer Anwendung betrauten Sondergerichte bieten der Justiz zahlreiche Handlungsmöglichkeiten. Das „Gericht für die Geistlichkeit“ und die „Revolutionstribunale“ gehören nach Ansicht der Opposition längst vergangenen Zeiten an. Ganz anderer Auffassung sind da die derzeitigen Machthaber. „Anders als diese Leute glauben, ist unsere Revolution eine permanente Revolution“, erklärt Dr. Hassan Ghaforifard, Mitglied des Parlamentspräsidiums: „Wir brauchen diese Gerichte, um unseren Kampf fortzuführen.“ Auf die Frage, gegen wen sich dieser Kampf richte, antwortet der den Konservativen nahestehende Parlamentarier ohne mit der Wimper zu zucken: „Wir haben die Pflicht, die inneren und äußeren Feinde der Republik zu bekämpfen, insbesondere die kulturelle Überfremdung durch den Westen.“ Der in den Vereinigten Staaten ausgebildete Nuklearphysiker berät Präsident Chatami in Fragen der Hochtechnologie – Kohabitation oblige! Obwohl er nach eigenem Bekunden ein Gegner Chatamis ist und bei den nächsten Präsidentschaftswahlen möglicherweise gegen ihn antreten wird, fühlt er sich ihm doch „seit langen Jahren freundschaftlich verbunden“.
„Die derzeitige Lage ist unhaltbar“, empört sich Said Hadscharian, einer der engsten Berater des Präsidenten. „Wir bewegen uns im Iran auf einem Minenfeld, ohne zu wissen, wo die Sprengsätze liegen, während die Bürger in der Türkei beispielsweise, wo ein ähnliches Regime wie bei uns herrscht, die gefährlichen Stellen kennen und meiden.“ Eine andere führende Persönlichkeit der islamischen Linken meint: „Mir wären begrenzte Freiheiten tausendmal lieber als unsere umfassenden, aber nur virtuellen Freiheiten.“ Unsere beiden Gesprächspartner gehören zu den Gründungsmitgliedern der Islamischen Partizipationspartei, eine der beiden legalisierten Reformparteien. Ihr Hauptziel ist die Entwicklung alternativer Machtinstanzen, die Entstehung unabhängiger Publikationen, freier Gewerkschaften und Berufsverbände und vor allem politischer Parteien, die in der Lage wären, Front zu machen gegen die rund fünfzig konservativen Gruppierungen, die keinerlei Zulassungsschwierigkeiten hatten.
Das Mehrparteienprinzip ist zwar in der Verfassung verankert, doch existiert ein Sonderausschuß, der den Geltungsbereich des betreffenden Artikels einschränken soll. Er beruft sich auf ein Gesetz, das alle Parteien verbietet, deren politische Ausrichtung „mit dem Islam unvereinbar“ ist. Demzufolge unterteilt der Ausschuß die Parteien in „chodi“ (wörtlich: die unseren) und „gheir chodi“ (die anderen). Zu letzteren gehören auch die Militante Muslimische Bewegung unter Leitung von Dr. Habibollah Peiman und die Iranische Freiheitspartei von Dr. Ebrahim Jasdi. Die beiden nicht zugelassenen, aber geduldeten Parteien beteiligten sich aktiv an der Revolution und machten sich bei der Ausarbeitung der Verfassung gegen das Welajat-e Faqih und für die Demokratie stark. Obwohl sie sich damit nicht durchsetzen konnten, leisteten sie den Eid auf die verabschiedete Verfassung – was allerdings nicht genügte, um sie zu „rehabilitieren“ – und traten in der Folgezeit für eine Verfassungsänderung im Sinn der Demokratie ein.
Nur halblegale Aktivitäten der beiden Parteien werden geduldet. Sie dürfen weder ein Parteibüro unterhalten noch öffentliche Veranstaltungen durchführen oder eine Zeitung herausgeben. Ihre offiziellen Pressemitteilungen und Erklärungen werden von den Regierungsmedien nicht zitiert, und ihre Aktivisten werden immer wieder tätlich angegriffen und unter verschiedenen Vorwänden verhaftet. „Wir leben nach wie vor in einem System, das große Ähnlichkeiten mit der Inquisition aufweist“, erklärt Dr. Jasdi, der in der ersten Regierung der Republik das Amt des Außenministers bekleidete. „Meine Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen im Mai 1997 wurde abgewiesen.“ Wie die anderen führenden Oppositionspolitiker ist Jasdi der Auffassung, daß nur die unterschiedslose Legalisierung aller politischen Parteien das labile Gleichgewicht stabilisieren und den öffentlichen Frieden wahren könne.
Nur dem obersten Herrn verantwortlich
INDES zeichnet sich die „Kohabitation nach iranischer Art“ eher durch ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Macht und Volkslegitimität aus. Über 70 Prozent der Bürger haben bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 1997 für Mohammad Chatami gestimmt, ein Plebiszit, das durch die Ergebnisse der Kommunal- und Bezirkswahlen im März dieses Jahres bestätigt wurde. Doch gegenüber dem Wali-e Faqih, der sich durch das schlechte Abschneiden seiner Anhänger bei den Wahlen in seinen Befugnissen in keiner Weise beeinträchtigt sieht, ist der Präsident praktisch machtlos. Verfassungsgemäß übt der Wali-e Faqih die ausschließliche Kontrolle über die rechtsprechende Gewalt, die Armee und die Revolutionswächter „Pasdaran“ (die Prätorianergarde des Regimes), über Hunderte Imame, die beim Freitagsgebet das Wort Gottes verkünden, sowie über die Medien und die großen regierungsnahen Tageszeitungen aus, deren Herausgeber von ihm ernannt werden. Darüber hinaus bestimmt und überwacht er die allgemeine Ausrichtung der Staatspolitik: Er bestätigt die Wahl des Staatspräsidenten und setzt ihn gegebenenfalls ab; er erklärt Krieg und schließt Frieden. In gewisser Weise steht er über den Gesetzen, da er als Deuter des Willens des Propheten und der zwölf heiligen Imame, die dem Propheten nachfolgten, niemandem Rechenschaft schuldig ist außer dem Herrn.1
Zum anderen verfügt er über die Finanzen der sogenannten karitativen Stiftungen, in Wirklichkeit weitverzweigte Holding-Gesellschaften, die unmittelbar nach der Revolution mit den konfiszierten Gütern der Schah-Familie gegründet wurden. Die erheblichen Einnahmen, die ihm daraus zufließen, dienen zur Finanzierung der Geistlichkeit und ihrer Institutionen – ein zusätzliches Mittel, um sie gefügig zu halten.
Angesichts dieses ungleichen Kräfteverhältnisses sieht die Bilanz der „Kohabitation“ für den Staatspräsidenten gar nicht so schlecht aus. Mohammad Chatami hat es zur Halbzeit seines vierjährigen Mandats geschafft, die Idee der Rechtsstaatlichkeit, des Mehrparteiensystems und des Regierungswechsels im Volk zu verankern. Er hat die Erweiterung der staatsbürgerlichen Grundrechte durchgesetzt und einige „sensible“ Ministerien wie das Innen- und das Kommunikations- und Kulturministerium mit seinen Gefolgsleuten besetzt. Er hat den Geheimdienstminister abgesetzt, nachdem dieser den „Schönheitsfehler“ der politischen Attentate vom Dezember 1998 einräumen mußte, und er hat der Verfassung zur Geltung verholfen, indem er die ersten Kommunal- und Bezirkswahlen seit Einführung der Republik durchsetzte.
Andererseits ist es ihm weder gelungen, die institutionelle Machtverteilung neu zu regeln und die Wirtschaft anzukurbeln, noch die soziale Lage zu verbessern oder seine Strategie der Normalisierung der internationalen Beziehungen des Iran, insbesondere zu den Vereinigten Staaten, durchzusetzen. Die Öffentlichkeit hat ihm dies aber nicht übelgenommen, zumindest dem Wahlerfolg seiner Anhänger bei den Bezirkswahlen nach zu urteilen. Sie bewies genügend staatsbürgerliche Reife, um die Grenzen seiner Macht zu ermessen, seine intellektuelle Ehrlichkeit zu würdigen und den Mut und die höfliche Bestimmtheit eines Mannes von Überzeugungen zu schätzen, der seinen Wahlversprechen, wenn auch mit tastender Vorsicht, treu geblieben ist. Und mag diese Programmatik dem Anschein nach auch bescheiden sein, für die demokratische Zukunft der Republik ist sie von grundlegender Bedeutung.
Demgegenüber gibt der im Klerus ebenso wie im Volk umstrittene Wali-e Faqih Ajatollah Ali Chamenei eine traurige Figur ab – was den Herausgeber der liberalen Tageszeitung Hamschahri zu folgendem Bild bewegt: „Die Reformbewegung ist wie eine mehrstufige Rakete. Die letzte Stufe ähnelt einem Atomkraftwerk. Ich spreche von der großartigen Unterstützung durch das Volk.“
Der doppelte Wahlsieg der Reformer bei den Präsidentschafts- und Kommunalwahlen ist Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. 75 Prozent der Bürger sind unter 34 Jahre alt und haben an der Revolution von 1979 daher nicht aktiv mitgewirkt. Sie wuchsen im Satelliten- und Internet-Zeitalter heran – in den Großstädten gibt es immer mehr Internetcafés. Sie orientieren sich an Europa und den USA und streben nach persönlicher Freiheit. Sie suchen, wie der Schriftsteller Mohammad Sadik al-Husseini erklärt, nach einer neuen Synthese der drei althergebrachten Bestandteile der iranischen Kultur: der „westlichen“, der „nationalen“ und der „islamischen“ Kultur. Waren die beiden ersten unter dem Einfluß des Chomeini-Regimes durch den Islam verschüttet, so stellt der ausländische Beobachter überrascht fest, daß sich die jungen Leute den strikt nationalen Werten des Iran heute weit stärker verbunden fühlen als ihrem muslimischen Erbe.2 Immer mehr Neugeborene erhalten zum Beispiel vorislamische Namen, und die Zahl der Schüler, die sich für den Arabischunterricht melden und also die vom Regime favorisierte Sprache des Koran erlernen wollen, sinkt rapide.
„Sittsam“ gekleidete Frauen kommen überall hin
FÜR diese Entwicklung lassen sich mindestens drei Gründe nennen: Die beschleunigte Urbanisierung verwandelt die durch Klan und Moschee vergemeinschaftete Landbevölkerung in Staatsbürger. Der Krieg mit dem Irak (1980-1988) verschaffte dem Patriotismus einen ungeheuren Auftrieb. Und die archaische Ideologie des islamischen Staats verliert zunehmend an Glaubwürdigkeit. Die Schandtaten der Regierenden, ihre Vernachlässigung der sozialen Angelegenheiten, die ungesetzliche Bereicherung der geistlichen Potentaten und der mit ihnen traditionell verbundenen Basar-Händler, die Verschlechterung der sozialen Lage – all dies trägt indirekt zur Stärkung des nationalen Zugehörigkeitsgefühls bei.
Paradoxerweise hat die Islamische Republik die Kräfte, die sie bedrohen, selbst auf den Plan gerufen beziehungsweise gestärkt. Aufgrund der jahrelangen Politik, Geburten nicht zu kontrollieren, hat sich die Bevölkerungsstruktur zugunsten der jüngeren Altersgruppen verschoben. Durch die großangelegte Alphabetisierungskampagne und die allgemeine Einführung des kostenlosen Unterrichts sank die Analphabetenrate auf ein Viertel des Anfangsniveaus und liegt nun bei 15 Prozent. Gleichzeitig verzehnfachte sich die Zahl der Hochschulabgänger auf über 4 Millionen, die 2 Millionen derzeitigen Studenten nicht mitgerechnet. Viele von ihnen sind arbeitslos.
Der Gipfel der Ironie ist jedoch, daß der obligatorische Schador und das „islamische“ Kopftuch die Emanzipation der Frau nicht so sehr bremsten als vielmehr vorantrieben. Die „islamische“ Kopfbedeckung ermöglichte vielen Mädchen aus traditionsverbundenen Familien den Besuch von Schule und Universität, was ihnen in der Zeit der Monarchie, als der Schleier verboten war, verwehrt wurde. Der Frauenanteil an den Studierenden ist von 25 Prozent zu Zeiten des Schahs auf nunmehr 50 Prozent angestiegen. „Sittsam“ gekleidet betraten die Frauen in der Islamischen Republik nun auch den Arbeitsmarkt, zumal ihr Verdienst eine unerläßliche Ergänzung des Familieneinkommens darstellt. Folglich fordern sie nun die völlige Gleichstellung mit dem Mann, insbesondere im Bereich des Erb- und Scheidungsrechts, und erheben damit Ansprüche, die den Verfechtern eines konservativen Islam als pure Gotteslästerung gelten. Beispiellos ist der Beschluß islamischer und laizistischer Frauenorganisationen, ein Aktionsbündnis zu bilden, um ihre Ziele gemeinsam zu verfolgen.3 „Uns ist bewußt geworden, daß die Verteidigung der Menschenrechte die Anerkennung der Frauenrechte voraussetzt“, bemerkt die Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin Schirin Ebadi.
So treten die Frauen, vor allem die jüngere Generation, als Speerspitze der Reformbewegung in Erscheinung. Neun Frauen haben bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihre Kandidatur eingereicht, ein weltweit wohl einmaliger Vorgang. Vielleicht wäre eine von ihnen sogar in das höchste Staatsamt gewählt worden, wenn die Vertreter des Wali-e Faqih nicht von vornherein alle Frauen von der Kandidatenliste gestrichen hätten. Bei den kürzlich stattgefundenen Kommunalwahlen fiel jedenfalls auf, daß in den großen urbanen Zentren zahlreiche Frauen ins Rathaus gewählt wurden, häufig mit einem höheren Stimmenanteil als ihre männlichen Amtskollegen. In der heiligen Stadt Qom zum Beispiel konnte sich eine „moderne“ Krankenschwester gegen mehrere konkurrierende Turbanträger durchsetzen. Und im Stadtrat von Teheran sitzt neben der Schwester von Mohsen Kadivar eine zweite Frau. Eine erstaunliche Entwicklung für eine traditionell patriarchale Gesellschaft, die – ein weiteres Paradox – immer noch tief geprägt ist vom Machismus.
Dem nächsten Showdown, den Parlamentswahlen im März 2000, sehen beide Lager mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Konservativen fürchten eine gravierende Niederlage, die den Anhängern von Chatami nach dem höchsten Staatsamt und den Gemeinderäten auch die gesetzgebende Körperschaft ausliefern würde. Die Reformkräfte fragen sich, ob diese Perspektive die Scharfmacher unter ihren Gegnern nicht zum Äußersten treiben werde. An dramatischen Szenarien mangelt es nicht. Der linksorientierte Journalist Akbar Gandschi etwa, bekannt für seine polemischen Artikel gegen den „islamischen Faschismus“, hält es für möglich, daß „zwei- bis dreihundert führende Intellektuelle des demokratischen Kampfes“ ermordet werden. Auch von einem bevorstehenden Staatsstreich ist die Rede, aber sehr überzeugend klingt die Befürchtung nicht.
Hodschatolislam Mohammad Ali al-Abtahi, Leiter des Präsidialamts und seit zwanzig Jahren treuer Weggefährte des Präsidenten, hält einen Staatsstreich für ganz und gar unwahrscheinlich: „Die Männer der Truppe, ob in der Armee oder bei den Pasdaran, sind Leute aus dem Volk, die sich unter keinen Umständen für einen Aufstand gegen den Präsidenten und die von ihm repräsentierte Rechtsstaatlichkeit hergeben würden.“ Vorsichtiger fügt er hinzu: „Jedenfalls sind die gesellschaftlichen Veränderungen – die erneute Würde der Iraner und die Freiheiten, die sich das Volk hart erkämpft hat – nicht mehr rückgängig zu machen.“
Dennoch ist die Strategie der Reformer für die Zeit bis zu den Parlamentswahlen von Vorsicht bestimmt. Unablässig wiederholen sie, daß sie mit der Verfassung völlig konform gehen und auch am Welajat-e Faqih nichts auszusetzen haben, vorausgesetzt, die „Regierung des Obersten Rechtsgelehrten“ läßt bei ihrer Amtsausübung Ehrlichkeit walten. Es fehlt jedoch der Hinweis, daß eine Verfassungsänderung angesichts der zahlreichen Sicherungen, die der Gesetzgeber eingebaut hat, praktisch unmöglich ist. Überzeugender wirkt in dieser Hinsicht Abbas Abdi, einer der Reformstrategen: „Wir bemühen uns, unsere Gegner davon zu überzeugen, daß ihre Zukunft in einer Demokratie mit geregelten Möglichkeiten des Regierungswechsels besser aufgehoben ist als in einer Diktatur. Der Oppositionspresse raten wir, ihren Eifer zu bremsen; der Regierung, das Reformtempo zu drosseln. Wir selbst widmen uns der Aufgabe, die unter Präsident Chatami verwirklichten Errungenschaften zu konsolidieren, die noch vor knapp zwei Jahren unvorstellbar gewesen wären.“
Folgt man den Erklärungen der realistischeren Führer der Konservativen, wird die Vernunft schließlich die Oberhand behalten: „Wir werden uns an die demokratischen Spielregeln halten, auch wenn wir im nächsten Parlament in der Minderheit sein sollten“, versichert Hassan Ghaforifard. Ähnlich äußert sich auch Hodschatolislam Nateq Nuri, Parlamentspräsident und glückloser Mitbewerber Chatamis bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Doch anschließend fährt er warnend fort: „Wir müssen wachsam bleiben, denn diese sogenannten Reformer wollen, anders als sie behaupten, nicht eine islamische Demokratie, sondern ein demokratisches System, nicht eine islamische, sondern eine laizistische Republik einführen.“
Chatami – ein iranischer Gorbatschow
DIE Anschuldigung ist nahezu unverhüllt: Das eigentliche Ziel der Anhänger des Präsidenten sei es, den Staat zu „entchomeinisieren“. Der Journalist Akbar Gandschi, einer der Oppositionsführer, weist dies weit von sich und stellt sogar eine Parallele her zwischen Chatami und Gorbatschow: „Das Ziel unseres Präsidenten ist ein ,Islam mit menschlichem Antlitz', genauso wie Gorbatschow das Überleben des Kommunismus sichern wollte, indem er ihn humanisierte. Ohne es zu wollen, brachten Gorbatschows Gegner, indem sie Gorbatschow eine Niederlage bereiteten, Jelzin an die Macht. Auch unsere Konservativen verstehen nicht, daß Chatami ihr letzter Mann ist und daß im Fall seiner Niederlage alle Islamisten, Reformkräfte wie Konservative, mit einem Mal verschwinden werden.“
Wenn dagegen, so hätte er abschließend vielleicht behaupten können, die Modernisierung des Islam gelingen sollte, würde der Iran gar zu einem festen Bezugspunkt, ja vielleicht sogar weltweit zum Vorbild für die anderen muslimischen Gemeinschaften.4
dt. Bodo Schulze
* Ehemaliger französischer Botschafter in Teheran.