11.06.1999

Gibt es ein Belgien nach den Wahlen?

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Gibt es ein Belgien nach den Wahlen?

AM 13. Juni 1999 wählen die Belgier neben den Abgeordneten zum Europaparlament auch ihre nationalen Parlamentsabgeordneten sowie die Mitglieder der Regional- und Gemeinschaftsräte. Nach den zahlreichen Skandalen und Krisen der jüngsten Vergangenheit wird der Ausgang dieser Wahlen mit besonderem Interesse erwartet, zumal er eine entscheidende Etappe auf dem Weg zu einer Trennung von Flamen und Wallonen bedeuten könnte. Nicht wenige Flamen sehen die Wallonen als einen „Klotz am Bein“, den sie gern los wären Doch sie werden sich gedulden müssen. Die Hinernisse sind zahlreich, und vor allem stellt sich auch die schwierige Frage, was aus Brüssel werden soll.

Von SERGE GOVAERT *

Wie es nach den Bundes-, Regional- und Europawahlen vom 13. Juni in Belgien weitergehen wird, hängt – wie so oft in diesem komplexen Land – zu einem guten Teil von der Zeitplanung ab. Der künftige Regierungschef, den der König am Tag nach dem Vorliegen der Wahlergebnisse zu ernennen hat, muß dann eine Parlamentsmehrheit innerhalb der beiden Sprachgemeinschaften finden. Das ist eine heikle Aufgabe, denn die belgischen Parteien sind (anders als in den meisten föderativen Staaten) nicht auf gesamtstaatlicher Ebene organisiert. Das Regierungsoberhaupt muß also mindestens vier Gruppierungen unter einen Hut bringen: zwei frankophone und zwei flämische.1

Parallel dazu können die regionalen Exekutiven – und in deren Gefolge auch die Räte der Gemeinschaften – sich unverzüglich konstituieren, wobei die Verhandlungen insofern einfacher verlaufen, als auf dieser Ebene weniger Parteien involviert sind (mit Ausnahme von Brüssel, wo allerdings die Vorabsprache zwischen den beiden Sprachgruppen eine Einigung erleichtert). Der König spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle: Die Entscheidung über die Ernennung der Präsidenten der Regional- und Gemeinschaftsräte treffen die Verantwortlichen eines jeden Lagers.2 Es ist gut möglich, daß die politischen Ziele der nach dem 14. Juni zustande kommenden Regierungen auf regionaler, kommunitärer und föderaler Ebene untereinander nicht vereinbar sind. Überdies könnte die Aufgabe des künftigen Premierministers noch dadurch erschwert werden, daß es auf beiden Seiten der Sprachgrenzen unterschiedliche Mehrheiten gibt.

Die derzeitige Regierungskoalition setzt sich aus vier Parteien zusammen: aus zwei sozialistischen und zwei christlich- sozialen, d.h. je einer flämischen und je einer wallonischen. Um die Konvergenzkriterien von Maastricht zu erfüllen, war diese Mitte-links-Regierung zu einer Spar-, ja Austeritätspolitik gezwungen, die schmerzhaft war. Zudem mußte sich der Staat aus bestimmten Schlüsselbereichen der Wirtschaft zurückziehen.3 Indes betont der linke Flügel der Regierung immer wieder, daß es ihm gelungen ist, wichtige soziale Errungenschaften zu bewahren und sogar auszubauen; dies gilt etwa für die Sozialversicherung, die nunmehr alle Berufsgruppen abdeckt.

Ebendiese Mitte-links-Regierung, die seit 1987 ununterbrochen im Amt ist (wobei ihr zwischen 1987 und 1991 noch die gemäßigten flämischen Nationalisten der Volksunie angehörten), geriet im Herbst 1996 in den Sog einer der schwersten Krisen, die das Königreich in den letzten zwanzig Jahren erschüttert haben. Die Dutroux-Affäre deckte die Schwächen eines Staates auf, der seit seiner Gründung im Jahre 1830 nie ein „starker Staat“ gewesen war. Seit seiner Unabhängigkeit wird das Land durch sich kreuzende Frontlinien zerrissen. Die verlaufen zunächst zwischen Katholiken und Laizisten, dann zwischen Arbeitgebern und Arbeiterschaft, schließlich zwischen frankophoner und flämischsprechender Bevölkerung. Und so kommen die zum Überleben der belgischen Gesellschaft notwendigen Kompromisse nur zustande um den Preis einer tiefen Kluft zwischen den Institutionen des Staates und den Bürgern.

Für die „weiße“ Bewegung – sie entstand aus der Demonstration am 20. Dezember 1996, als über 300000 Menschen auf die Straße gingen, die zeigen wollten, daß sie die Versäumnisse von Justiz und Polizei in der Folge der Dutroux-Affäre nicht auf sich beruhen lassen würden – liegt einer der Gründe für das Versagen des Staates in der Zuspitzung der Sprachenkonflikte.4

Ungleiche Verkehrsregeln

DIE derzeitige Regierung unter Jean- Luc Dehaene (von der flämischen christlich-sozialen Partei „Christelijke Volkspartij“, CVP) hütet sich im übrigen, „kommunitäre“ Debatten loszutreten. Dabei fehlt es nicht an Gelegenheiten. Da ist etwa das Problem der Gemeinden an der Peripherie von Brüssel, die auf flämischem Gebiet liegen, deren Bewohner aber überwiegend Französisch sprechen. Es steht erneut auf der Tagesordnung, nachdem der sozialistische flämische Innenminister Leo Peeters den städtischen Behörden eine höchst restriktive Interpretation jener „Spracherleichterungen“ oktroyiert hat, die ihren Bewohnern einzuräumen sind. Das flämische Parlament wiederum hat im März 1999 einen Katalog institutioneller Forderungen verabschiedet, den die frankophonen Parteien als unerträgliche Provokation empfanden. Jedesmal berief sich der Ministerpräsident, um seine Nichteinmischung zu rechtfertigen, auf das Prinzip der Gewaltenteilung (zwischen Judikative und Exekutive bzw. zwischen Bundesebene und nachgeordneten Körperschaften).

Die Konfrontation von Flamen und Frankophonen läuft seit mehreren Jahren nach einem Muster ab, das nur noch teilweise mit dem Problem der Sprache zu tun hat. Die Situation in Belgien stellt sich ähnlich wie in Italien dar: Ein reicher Norden steht einem bedürftigen Süden gegenüber (und seit kurzem auch einer bedürftigen Hauptstadtregion). Auch wenn das Bild noch etwas differenziert werden muß (das wallonische Brabant etwa ist eine wohlhabende Provinz, wohingegen Renault vor zwei Jahren eine seiner größten europäischen Fabriken im flandrischen Vilvoorde geschlossen hat), so stehen die grundlegenden Merkmale unverändert fest. In den flämischen politischen Parteien hat sich die Auffassung durchgesetzt, die Solidarität mit Wallonien und Brüssel habe „ihre Grenzen“; für die wallonischen politischen Parteien dagegen würde eine Aufkündigung dieser Solidarität (etwa die Auftrennung der Sozialversicherung) einen echten casus belli darstellen. Es ist also tatsächlich eine italienische Situation – mit dem verschärfenden Faktor, daß der Norden und der Süden nicht dieselbe Sprache sprechen.

Könnte man demnach behaupten, die Schwächen dieses krisengeschüttelten Staates seien nichts anderes als „Funktionsstörungen“ (wie die Parteien der Regierungsmehrheit häufig glauben machen wollten)? Die Komplotttheorie, die gewisse Mitglieder des inzwischen berühmt- berüchtigten Dutroux-Untersuchungsausschusses vertreten, ist gewiß wenig glaubhaft. Aber richtig ist zumindest, daß der Zerfall der öffentlichen Macht in Belgien zu allgemeiner Unzufriedenheit geführt hat und eine Festigung der Demokratie dringend geboten ist.

In Flandern und sogar in Brüssel wirkt sich die politische, soziale und wirtschaftliche Situation zugunsten des rechtsextremistischen Vlaams Blok aus, der sich selbst als Inkarnation der „nationalistischen flämischen Rechten“ sieht. Ein Redakteur der Literaturbeilage des Standaard, einer der CVP nahestehenden Tageszeitung, äußerte kürzlich seine Verwunderung darüber, daß sich die Politiker der flämischen Gemeinschaft von dieser Entwicklung überrascht zeigen: „Wer lang genug betont, wie wunderbar Flandern doch sei, daß die Situation hier wesentlich besser sei als anderswo und wie sehr uns die Frankophonen ein Klotz am Bein sind, der darf sich über diese wachsende Intoleranz nicht wundern. Wer sich so kleinlich und kindisch über Subventionen für bestimmte Kommunen aufregt, darf nicht jammern, wenn die Menschen sich gegenüber Ausländern genauso verhalten. Einfacher ausgedrückt: Wer den Flamen ständig sagt, wie großartig sie doch sind, soll sich nicht beklagen, wenn sie darüber intolerant werden.“5

Auf diesem fruchtbaren Boden kann der Vlaams Blok um so besser gedeihen, als er sich an einer demokratischen Bewegung der nationalen Emanzipation (der flämischen Bewegung) emporrankt, die einen guten Namen hat. In Brüssel profitiert er von der Komplexität der Institutionen, die der flämischsprachigen Minderheit ein überhöhtes politisches Gewicht verleiht, die aber auch dazu geführt hat, daß ganze Viertel der Hauptstadt sich selbst überlassen sind: Stadtteile ohne Finanzmittel, in denen überwiegend Sozialhilfeempfänger oder Familien mit niedrigen Einkommen wohnen und die mit einer Unzahl von wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen haben. So präsentiert sich der Vlaams Blok – dessen Liste zur Regionalwahl von einem gefeuerten Polizeikommissar angeführt wird – als Garant von Sicherheit und Ordnung und versucht, auch Wählerstimmen der frankophonen Belgier zu gewinnen.6

Mit einem erwarteten Stimmenanteil von 15 Prozent der flämischen Wählerschaft (1995 erreichte er rund 12 Prozent) ist der Vlaams Blok eine reale Bedrohung. Und dies um so mehr, als seine Gegner sich schwertun, eine wirkungsvolle gemeinsame Strategie gegen diesen politischen Gegner zu entwickeln. Aus Sicht der französischsprachigen Parteien ist der Vlaams Blok vor allem eine flämische Partei, aus Sicht der flämischen Parteien in erster Linie eine rechtsextreme Bewegung, deren Wählerschaft es zurückzuerobern gilt. Nur mit Mühe hat sich im Bundesparlament eine Mehrheit für ein Gesetz gefunden, das öffentliche Zuwendungen für politische Gruppierungen verbietet, die „ihre Ablehnung der Rechte und Freiheiten, die von der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert sind“, offen zum Ausdruck bringen. Nach diesem Gesetz werden außerdem Publikationen mit rassistischem Charakter der Strafgerichtsbarkeit unterstellt (statt wie bisher der Schwurgerichtsbarkeit). Der Vlaams Blok hat selbstverständlich lauthals einen Demokratieabbau beklagt. Und es ist durchaus nicht sicher, ob er nicht einen Teil der Bevölkerung von dieser Sicht der Dinge überzeugen kann.

Ansonsten sind die Parteien offenbar vor allem damit beschäftigt, ihre strategischen Positionen für die Verhandlungen abzustecken, die nach den Wahlen auf sie zukommen. Die Liberalen vom Parti réformateur libéral (PRL) haben Rückenwind. Nachdem sie 1987 ihre Macht auf Bundesebene eingebüßt haben, verdanken sie ihre 1995 erreichte Rückkehr ins politische Geschäft (allerdings nur in die Regierung von Brüssel) einem Zusammenschluß mit dem Front démocratique des Bruxellois francophones (FDF), einer in den sechziger Jahren entstandenen Gruppierung, die die Interessen der frankophonen Hauptstadtbewohner verteidigen will. Auf Initiative des FDF-Vorsitzenden Louis Michel versucht das PRL-FDF- Bündnis die unterschiedlichsten Personen unter sein Dach zu bringen. So hat man Listenplätze für Überläufer vom Parti social-chrétien (PSC) reserviert – darunter auch für dessen Exvorsitzenden Gérard Deprez (derzeitig Europaabgeordneter) –, aber auch für verschiedene Repräsentanten der „Zivilgesellschaft“.

Ein hartnäckiges Gerücht besagt, die Liberalen und die Sozialisten seien sich bereits einig, im Süden des Landes und in Brüssel eine gemeinsame Mehrheit anzustreben und darüber hinaus den frankophonen Flügel einer Regierungskoalition auf Bundesebene zu bilden. Louis Michel rechtfertigt diese Linie mit dem Argument, er wolle eine machtvolle Front gegen die flämischen Forderungen aufbauen. Zurückhaltender gibt sich der Vorsitzende des Parti socialiste (PS), Philippe Busquin. Aber die beiden frankophonen Parteien – die eine aus Wallonien, wo sie die Mehrheit stellt, die andere aus Brüssel – haben ein gemeinsames strategisches Interesse: Sie wollen den Wahlkampf vornehmlich gegen den Parti Social-Chrétien (PSC) führen. Der PRL hofft, den PSC so sehr schwächen zu können, daß er rein rechnerisch für eine Machtbeteiligung nicht mehr in Frage kommt. Dasselbe hofft auch der PS. Die Sozialisten rechnen zwar damit, von den Wählern abgestraft zu werden (vor allem wegen der Justizaffären, in die ehemalige PS-Führer verwickelt sind), gehen aber dennoch davon aus, daß sie stark genug bleiben, um für eine Regierungsbildung gebraucht zu werden.7

Die Liberalen setzen denn auch auf die Wähler in der Mitte oder sogar auf der Linken. Dabei ist für den PRL das Risiko gering, daß seine konservativen Wähler verschreckt und in die Arme der frankophonen Rechtsextremen getrieben werden könnten, denn die sind nur ein zerstrittener Haufen. Louis Michel befürwortet daher eine Besteuerung von Spekulationsgewinnen und lehnt „Geschenke an die Unternehmen“ ab. Was den PRL nicht daran hindert, sich für eine Entlastung der Arbeitskosten (also der von den Arbeitgebern zu erbringenden Leistungen) und für die Fortsetzung der Privatisierungen auszusprechen, die unter der bisherigen Regierung vorangetrieben wurden.

In Flandern ist die Parteienlandschaft offenbar stabiler. Die Koalition von Sozialisten und Christlich-Sozialen stand nie in Frage, obwohl sie im Regionalparlament nur über die Mehrheit von einer Stimme verfügt. Aber gerade dieser knappe Vorsprung dürfte in den letzten fünf Jahren dazu beigetragen haben, daß man die meisten Fehler vermieden hat, die die Koalition hätten gefährden können. Die flämischen Sozialisten, die übrigens permanent den belgischen Minister für Inneres stellen, haben in diesem Amt eine Entschiedenheit bewiesen, wie sie etwa in Frankreich der sozialistische Innenminister Chevènement zeigt; dagegen haben sie sich in wirtschaftlichen und sozialen Fragen bedeckt gehalten.

Der Vorsitzende der flämischen Partei Vlaamse Liberalen en Demokraten (VLD), Guy Verhofstadt – von 1985 bis 1987 stellvertretender Ministerpräsident und Verfechter eines harten „Thatcherismus“ –, hat trotz regelmäßiger Stimmenzuwächse den politischen Durchbruch nicht geschafft, die christlich-soziale CVP als wichtigsten politischen Faktor innerhalb der flämischen Volksgruppe abzulösen. Anders als in Wallonien (und bis zu einem gewissen Grad auch in Brüssel), wo die grüne Partei Ecolo eine bedeutende politische Kraft darstellt, sind die Grünen in Flandern kaum mehr als eine Hilfstruppe. Und schließlich sind die Differenzen zwischen der VLD und der flämischen Socialistische Partij (SP) so tief, daß keine der beiden Parteien eine künftige Regierung ohne die Christelijke Volkspartij (CVP) erwägen kann. Die CVP wird also nach der Wahl zweifellos die entscheidende Rolle spielen.

Die CVP ist allerdings, wie man weiß, ein von zahlreichen Gräben durchfurchtes politisches Gebilde. Es gelingt ihr kaum, all die divergierenden Interessen ihrer einzelnen Gruppierungen (Gewerkschafter, Landwirte, Umweltschützer) unter einen Hut zu bringen. Der frühere Ministerpräsident und bisherige Europaabgeordnete Wilfried Martens hat den zweiten Platz auf der Europawahl-Liste seiner Partei ausgeschlagen, weil er es unannehmbar fand, daß für den ersten Listenplatz die jetzige Arbeitsministerin Miet Smet nominiert wurde. Solche Episoden illustrieren – jenseits persönlicher Animositäten –, daß innerhalb der CVP das Kräftegleichgewicht höchst fragil ist und ständig neu ausgehandelt werden muß. Das gleiche gilt für die heikle Beziehung zwischen den Kräften, die die Reform des Staates vorantreiben wollen und dafür im flämischen Parlament eine Mehrheit haben, und den Kräften, die in diesem Punkt sehr zurückhaltend sind (wie der stellvertretende Ministerpräsident Herman Van Rompuy).

Was das Zusammenleben der Gemeinschaften betrifft, so verkünden die frankophonen Parteien (Grüne eingeschlossen) einhellig und mit dem Brustton der Überzeugung, daß sie für das Jahr 1999 jede neuerliche Debatte über dieses Thema ablehnen, oder jedenfalls auf keinen Fall selbst verlangen werden. Auf flämischer Seite ist eine „Einheitsfront“ im Hinblick auf künftige Diskussionen über das flämisch-wallonische Verhältnis noch in weiter Ferne, da die Parteien sich nicht auf gemeinsame Forderungen einigen konnten. Im flämischen Parlament haben sich bei einer entsprechenden Abstimmung im März 1999 die Grünen von Agalev (Anders Gaan Leven) sowie mehrere Sozialisten und sogar einige Brüsseler Christlich-Soziale der Stimme enthalten. War dies nur scheinheilige Taktik, wie einige Frankophone behaupten, die in der Regel keinen Unterschied zwischen „guten“ und „bösen“ Flamen machen? Höchst unwahrscheinlich.

Wer in den Wahlen vom 13. Juni die letzte Parlamentswahl des föderalen Belgien sehen will, oder zumindest die erste Etappe auf dem Weg zu einer unvermeidlichen Trennung, kann seine Einschätzung heute in fast allen politischen Streitfragen, den kleinen wie den großen, bestätigt sehen. So hat sich etwa die wallonische Regierung vor einigen Monaten geweigert, an Gefahrenstellen der Regionalstraßen Kameras anzubringen, die Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung registrieren sollten. Daraufhin wurden alle 38 Kameras in Flandern installiert. Das nahmen zwei Abgeordnete des Vlaams Blok zum Anlaß, eine Rechnung aufzumachen: Die in flagranti ertappten flämischen Autofahrer hätten den Staat um über 120 Millionen belgische Franc reicher gemacht, wogegen die wallonischen Autofahrer ungestraft davonkämen.8

Wann also wird man auseinandergehen? Manche tippen auf das Jahr 2002, wenn der Euro den belgischen Franc ersetzen wird. Vorsichtigere Auguren meinen, zuvor müßten die – sehr schwierig aufzuteilenden – Staatsschulden erheblich zurückgefahren sein, deshalb werde es erst zwischen 2015 und 2020 soweit sein.

Es stimmt zwar, daß sich der Konflikt zwischen Flamen und Frankophonen aus wirklichen oder vermeintlichen Differenzen speist, aber es wird dennoch schwierig sein, die nach wie vor gemeinsamen Bande – so dünn sie auch sein mögen – endgültig zu zerschneiden.9 So ist in keiner der beiden Gemeinschaften geklärt, wie das Verhältnis zur Hauptstadt des Landes aussehen soll, die offiziell zweisprachig ist, aber mehrheitlich von Frankophonen bewohnt wird. Manche sehen den europäischen Einigungsprozeß als die Chance, die „mittlere Ebene“ des Nationalstaates abzuschaffen – also die einzige Existenzgrundlage des Staates Belgien. Aber hat man dazu die Partnerstaaten innerhalb der EU befragt? Der Konsens, der sich in dieser Frage angeblich zwischen den verschiedenen politischen Eliten abzeichnet – ist er ernst gemeint oder nur ein taktisches Spiel, das die eine Seite als Drohung, die andere als bloße Vogelscheuche einsetzt?

dt. Eveline Passet

* Verwaltungsdirektor des Centre de recherches et d‘informations sociopolitique (Brüssel).

Fußnoten: 1 Belgien ist seit dem 18. Mai 1993 ein föderativer Staat. Er besteht zum einen aus den drei Regionen Flandern (5,8 Millionen Einwohner), Wallonien (3,2 Millionen Einwohner) und der Hauptstadtregion Brüssel (1 Million Einwohner), zum anderen aus drei Gemeinschaften: der flämischen, der französischen und der deutschsprachigen. In die Kompetenz der Regionen fallen insbesondere die Bereiche Wirtschaft, Arbeit und Handel, während unter anderem Bildung und Kulturelles Angelegenheiten der Gemeinschaften sind. (Im übrigen gibt es vier Sprachgebiete: das flämische oder niederländische, das französische, das zweisprachige und das deutschsprachige.) Siehe hierzu Bernard Remiche, „Schafft zwei, drei, viele Belgien!“, Le Monde diplomatique, Februar 1997, sowie Florence Beaugé, „La Belgique en ses habits fédéraux“, Le Monde diplomatique, Februar 1994. 2 Die Abgeordneten der Regionalparlamente wählen aus ihrer Mitte die Abgeordneten der Gemeinschaften (nämlich der französischen Gemeinschaft, die die französischsprachigen Einwohner Brüssels sowie die Wallonen repräsentiert, und der flämischen Gemeinschaft, der die Niederländisch sprechenden Einwohner Brüssels und die Flamen angehören). Diese wiederum ernennen schließlich die „Gemeinschaftssenatoren“, das sind jene Abgeordnete des Bundessenats, die nicht direkt gewählt werden. 3 Siehe Alain Tondeur, „L'intégration europeénne fragilise l'Etat belge“, Le Monde diplomatique, Juli 1992. 4 Siehe Jean-Marie Chauvier, „L'année blanche vire au gris“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997. 5 Joris Note, De Standaard der Letteren, Groot- Bijgaarden, 4. März 1999. 6 Siehe Serge Govaert, „Rechtsextremisten: Der Sprengkopf am Staate Belgien“, Le Monde diplomatique, Januar 1998. 7 Siehe Jean-Marie Chauvier, „Wo die linke nicht weiß, was die rechte wäscht“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996. 8 De Standaard, 9. April 1999. 9 Siehe Sergio Carrozzo, „Scheidung auf belgisch kommt immer teurer“, Le Monde diplomatique, September 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.06.1999, von SERGE GOVAERT