11.06.1999

Die UNO nach dem Krieg

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Die UNO nach dem Krieg

Von PHILIP S. GOLUB *

DIE politische Führung der Nato besteht darauf, daß Belgrad alle Bedingungen erfüllt, die von der „internationalen Gemeinschaft“ gestellt werden. Aber von welcher Gemeinschaft ist hier die Rede? Von den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen oder nur von der Nordatlantischen Allianz? In den offiziellen Verlautbarungen des Westens wird die Nato heute zunehmend behandelt wie eine der großen multilateralen Institutionen, und ihre Beschlüsse gelten als Ausdruck eines nicht näher bestimmten allgemeinen Willens. Welchen Zwecken diese Angleichung dient, ist unschwer zu erkennen, allemal wenn man unterstellt, daß einige das lästige multilaterale System gerne los wären – aber der Zerfall der berühmten „internationalen Gemeinschaft“ wird damit erst recht deutlich.

Daß die UNO in der Kosovokrise nicht zu Rate gezogen wurde, hat bei einigen Ländern, die gewillt sind, ihre Rolle im Weltgeschehen zu spielen, den alten Verdacht bestärkt, daß der Westen eine Vormachtstellung anstrebe. Das gilt natürlich für Rußland, aber auch für China, Indien, Vietnam und Südafrika. Alle diese Staaten, unter ihnen drei Atommächte, haben offen und zum Teil sehr heftig ihre Ablehnung der Nato-Angriffe zum Ausdruck gebracht und kritisiert, daß dieses Eingreifen nicht mit der UNO und dem Sicherheitsrat abgestimmt war.

Erweiterter Sicherheitsrat

SO hat die chinesische Führung, die während des Golfkriegs von 1991 eine zurückhaltende Position bezogen hatte, die Nato aufgefordert, „ihre militärischen Übergriffe sofort einzustellen“1 . Und die indische Regierung erklärte bereits am 25. März, daß „solche unilateralen Handlungen, die ohne formelle Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat ausgeführt werden, eine schwere Beeinträchtigung der Autorität der Vereinten Nationen insgesamt darstellen, selbst wenn sie im Rahmen regionaler Initiativen erfolgen“2 . In der Times of India hieß es Ende März in einem Artikel, der zweifellos die offizielle indische Position wiedergab: „Die Botschaft an die übrige Welt ist unmißverständlich: Die Vereinigten Staaten und ihr willfähriges Ausführungsorgan, die Nato, können heute gegen jede Nation militärisch vorgehen, die nicht über Langstreckenraketen und Atomwaffen verfügt.“3 Und auch der südafrikanische Präsident Mandela hat bei seinem Besuch in Ungarn Anfang Mai die Entscheidung der westlichen Führer, den Sicherheitsrat nicht einzubeziehen, als „unverantwortlich“ bezeichnet. Er verurteilte zwar mit Entschiedenheit die „Verbrechen des Regimes in Belgrad“, warf aber der Nato vor, „genau dasselbe wie Milosevic“ zu tun, indem sie „Zivilisten ermordet und in Jugoslawien Brücken und die Infrastruktur zerstört“4 .

Man darf diese Reaktionen nicht allein unter dem Aspekt der innenpolitischen Probleme dieser Länder betrachten. Natürlich befürchten Indien und China, daß hier ein Präzedenzfall geschaffen wird, was das internationale Eingreifen bei Konflikten angeht, die aus Selbstbestimmungsforderungen entstehen. China hat es mit Abspaltungstendenzen in Tibet und Sinkiang und mit der Taiwanfrage zu tun, und Indien mit dem Kaschmirproblem. Und daß Indonesien, immerhin die größte muslimische Nation der Welt, das Eingreifen der Nato mehr als zurückhaltend aufgenommen hat und darauf insistiert, daß die territoriale Integrität der Jugoslawischen Föderation gewahrt werden müsse, erklärt sich aus der Sorge um den gefährdeten Zusammenhalt des Inselstaats.5

Dennoch stellt sich, wie Nelson Mandela betont hat, bei dieser Ausgrenzung der UNO auch und vor allem die Frage nach den künftigen Regelungen innerhalb der Staatengemeinschaft, nach der Rolle der UNO bei der Verhinderung und Beilegung von Konflikten und nach der Stellung des Sicherheitsrats. Chinesen, Inder, Russen und Südafrikaner haben gemeinsam eine Lösung der Krise unter Führung der UNO anstelle der Nato gefordert.

Bemerkenswert ist, daß ähnliches auch für zahlreiche andere Länder gilt, darunter die traditionellen Verbündeten der USA in Ostasien. Dort wird zwar keine offene Kritik an der Nato geübt, aber diese Länder befürchten, daß sich ihre mächtigen Nachbarn in der Region künftig auf diesen Präzedenzfall berufen könnten, um unilaterale Interventionen zu rechtfertigen. So erklärt sich, warum „das Eingreifen der Nato in Japan, in Süd-Korea und auf den Philippinen (...) mit Unbehagen betrachtet wird“6 . Die von der Wirtschaftskrise geschwächten südostasiatischen Länder fürchten vor allem das Machtstreben Chinas. China ist durchaus nicht der einzige potentielle Kandidat für einseitige Interventionen, es gibt weltweit genug Mittelmächte, die ihre Einflußzonen haben.

Zu den großen Problemen, die sich nach diesem Krieg stellen, wird also die Frage der Erneuerung der UNO gehören: Wie kann man diese Institution, die an Glaubwürdigkeit verloren hat und kaum noch in der Lage ist, internationale Konflikte zu regeln, wieder zur entscheidenden Instanz machen? Dem Sicherheitsrat, dem institutionellen Kernstück der UNO, müßten künftig nicht mehr nur fünf, sondern wenigstens zehn ständige Mitglieder mit Vetorecht angehören, darunter Indien, Brasilien, Japan, Nigeria und Südafrika. Eine solche, längst überfällige Demokratisierung des Gremiums könnte die Gegebenheiten in der Weltorganisation deutlich verändern – sofern man davon ausgeht, daß die UNO überhaupt noch einen Sinn hat und die Maßnahmen des Sicherheitsrats nicht nur dazu gedacht sind, die Interessen der Mächtigen zu schützen.

dt. Edgar Peinelt

*Journalist

Fußnoten: 1 Xinhua (Peking) vom 6. Mai 1999. 2 Erklärung des indischen Außenministers am 25. März in Delhi. 3 Wiedergegeben in Françoise Chipaux, „L'Inde hostile aux frappes de l'OTAN“, Le Monde, 3. April 1999. Indien hat Mitte April eine weitere Mittelstreckenrakete zu Testzwecken abgefeuert. 4 Zit. n. Business Day (Johannesburg) vom 4. April 1999. 5 Siehe die Chronik von Hélène Da Costa, „Les réticences asiatiques“, Radio-France internationale (RFT), 5. April 1999. 6 Hélène Da Costa, „Le spectre de la Chine“, Radio-France internationale (RFT), 6. Mai 1999.

Le Monde diplomatique vom 11.06.1999, von PHILIP S. GOLUB