Preisgabe der Souveränität
Von IGNACIO RAMONET
DER Krieg zwischen der Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato) und der Bundesrepublik Jugoslawien hat eine neue Etappe in der Geschichte der internationalen Beziehungen eröffnet. Er kündigt eine neue Weltordnung an. Wir wußten bereits, daß im November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer der Kalte Krieg zu Ende ging, und wir wußten auch, daß die Nachkriegszeit mit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 zu einem Abschluß gekommen war. Heute wissen wir außerdem, daß die Kosovokrise ein Jahrzehnt (1991-1999) der Ungewißheiten, des Chaos und der tastenden Versuche im Bereich der internationalen Beziehungen abschließt; am Kosovokonflikt sind nun die weltpolitischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts ablesbar.
Die wirtschaftliche Globalisierung als die dominierende Dynamik unserer Zeit verlangte nach einem globalen strategischen Sicherheitskonzept; der Kosovokonflikt bietet die Gelegenheit, die Grundzüge dieses neuen Konzepts zu entwerfen. In der Tat erscheint dieser erste Krieg der Nato als sicherheitspolitischer Neubeginn. Die internationale Staatengemeinschaft hat damit unbekanntes Gebiet betreten, einen veritablen Sprung ins Ungewisse gewagt, der zweifellos viele angenehme Überraschungen, aber auch zahlreiche Fallstricke und Gefahren bereithält. Denn Ursachen, Durchführung und Ziele dieses Krieges unterscheiden sich grundlegend von allem, was wir aus bisherigen Konflikten dieser Art kennen.
URSACHEN. Als Ursache des Krieges hat die Nato, sich die Greueltaten des Belgrader Regimes im Kosovo zum Vorwand nehmend, humanitäre, moralische, ja sogar „zivilisationserhaltende“ Motive vorgetragen: So sprach zum Beispiel der französische Ministerpräsident Lionel Jospin von einem „Kampf für die Zivilisation“1 . Geschichte, Kultur und Politik, seit den Punischen Kriegen Ursache aller bewaffneten Konflikte, werden plötzlich als Erklärungsdimensionen hinfällig.2 Dies aber ist nicht nur eine militärische, sondern eigentlich eine mentale Revolution.
Im Namen humanitärer Einmischung, die inzwischen als höchstes moralisches Gebot gilt, zögerte die Nato nicht, zwei Grundprinzipien der internationalen Politik zu verletzen: die staatliche Souveränität und die Statuten der Vereinten Nationen.
Im Ancien régime lag die Souveränität in der Person des Königs „von Gottes Gnaden“. Unter dem Einfluß der Aufklärung übertrugen die Amerikanische (1776) und die Französische Revolution (1789) die Souveränität auf das Volk: „Der Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volk“, heißt es in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789 in Paris.
Dieser Grundsatz gilt seither in allen Demokratien. Er ermächtigt die jeweilige Regierung, alle innenpolitischen Konflikte nach Maßgabe der von ihr erlassenen Gesetze zu regeln, und schließt jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten aus. Am 24. März 1999 brach dieses zweihundert Jahre alte Prinzip auseinander. Das sei gut so, sagen manche Kommentatoren nicht ohne Grund, denn unter dem Deckmantel dieses Prinzips hätten in der Vergangenheit bereits diverse Regierungen gegen ihre Bürger mißbräuchlich Gewalt angewandt, und dem Verbot der Nichteinmischung folgend wäre einem bislang jeder Schutz der Opfer in fremden Ländern verwehrt gewesen. Im Falle Jugoslawiens argumentieren viele, daß Slobodan Milosevic trotz seiner formal demokratischen Legitimation ein Despot sei – er sei schließlich am 27. Mai vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt worden. Ein Despot jedoch beziehe seine Legitimität nicht vom Volke, und deshalb sei die staatliche Souveränität nichts anderes als ein rechtliches Konstrukt, das Slobodan Milosevic die Fortsetzung seiner Willkürherrschaft ermöglichen solle. Eine derartige Souveränität verdiene keinerlei Schutz, vor allem dann nicht, wenn der Despot systematisch die Menschenrechte verletzt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.
Selbst die souveränen, von allen großen Links- und Rechtsparteien getragenen Entscheidungen eines unstrittig demokratischen Staates wie Chile wurden kürzlich nicht respektiert. Das chilenische Parlament konnte nicht verhindern, daß der ehemalige Diktator des Landes, Augusto Pinochet, in Großbritannien verhaftet wurde und mit seiner Auslieferung nach Spanien zu rechnen hat, wo er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden könnte.
Desweiteren ist die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs im Gespräch, der für die unverjährbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig und durch keine Rechtsentscheidung eines souveränen Staats gebunden sein soll. Diesen jedoch haben die Vereinigten Staaten bisher abgelehnt.
Überdies untergräbt die Globalisierung durch die Aufweichung zwischenstaatlicher Grenzen und die Einebnung kultureller Unterschiede die Identität und Souveränität der einzelnen Staaten. Um mit Alain Joxe zu reden: „Die marktwirtschaftlich induzierte Herausbildung eines (amerikanisch dominierten) allumfassenden Empire zerstört die autonomen Regulierungsbefugnisse der traditionellen Staaten und führt zum Phänomen einer zunehmenden Balkanisierung und Libanisierung.“3
So stellt sich die Frage, worin die Souveränität eines Landes künftig bestehen wird. Sehen wir der Herausbildung eines weltweiten Systems „begrenzter Souveränitäten“ unter westlicher Vorherrschaft entgegen, dem Projekt vergleichbar, das die UdSSR unter Leonid Breschnew in den siebziger Jahren im sozialistischen Lager durchsetzen wollte? Müssen wir uns auf die Wiederauferstehung des „Protektorats“ gefaßt machen, jener juristischen Konstruktion aus Kolonialzeiten, die man 1991 schon für Somalia ins Auge gefaßt hatte, die man de facto derzeit in Bosnien und Albanien praktiziert und nach Beendigung des Krieges im Kosovo anwenden will?
Wird die Souveränität, nachdem sie von Gott auf die Nation übergegangen ist, fortan im Individuum hausen? Sehen wir mit dem Ende des Nationalstaats (Etat-nation) der Entstehung des „Individuumsstaats“ (Etat-individu) entgegen? Wird jedes Individuum nun mit den Machtattributen und –befugnissen ausgestattet, die bislang den Staaten vorbehalten waren? Die Globalisierung und ihre Ideologie, der Ultraliberalismus, könnten sich mit dieser Perspektive, die angesichts der neuen Kommunikations- und Informationstechnologien zumindest technisch durchaus vorstellbar wäre, gewiß anfreunden, ja, diese Perspektive auch befördern.
Was die UNO anbetrifft, so wurde die Bombardierung Jugoslawiens von der Nato im Alleingang beschlossen, ohne daß auch nur eine einzige Resolution des Sicherheitsrates sie ausdrücklich genehmigt hätte. Es ist das erste Mal in der Geschichte der letzten fünfzig Jahre, daß die UNO – das einzige internationale Form für Konfliktlösung und Friedenserhalt – bei einer solch schwerwiegenden Angelegenheit übergangen wurde.
Seit Beginn der neunziger Jahre mehrten sich die Anzeichen, daß die Vereinigten Staaten mit der bisherigen Rolle der UNO unzufrieden waren: Der damalige UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali wurde durch Kofi Annan ersetzt, der in Washington als willfährigeres Werkzeug galt. Das Dayton-Abkommen zu Bosnien und die israelisch-palästinensischen Vereinbarungen von Wye River wurden nicht unter Federführung der Vereinten Nationen, sondern unter der der Vereinigten Staaten unterzeichnet. Und die Bombardierung des Irak erfolgte gar im Alleingang, ohne jeden UN-Beschluß – um nur einige Beispiele zu nennen.
In der Tat deutet alles darauf hin, daß die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer derzeitigen Vormachtstellung nicht mehr gewillt sind, sich mit der UNO zu arrangieren und sich durch deren legalistische Verfahrensweisen zügeln zu lassen. Daran zeigt sich, daß sich die Vereinten Nationen samt ihrer Vorgängerorganisation (dem „Völkerbund“) nicht, wie bisher angenommen, einem zivilisatorischen Fortschritt verdankten, sondern dem Nebeneinander mehrerer Mächte vergleichbaren Formats, von denen zumindest militärisch keine der anderen eindeutig überlegen war. Dieses Mächtegleichgewicht ging mit dem Zerfall der Sowjetunion verloren. Erstmals seit zweihundert Jahren dominiert wieder ein einziges Land die ganze Welt auf geradezu erdrückende Weise – politisch und wirtschaftlich ebenso wie im militärischen, technologischen und kulturellen Bereich. Und dieses Land, die Vereinigten Staaten, sieht nicht ein, weshalb es seine Vorherrschaft teilen oder begrenzen sollte, da doch niemand – auch die Vereinten Nationen nicht – in der Lage wäre, sie wirklich in Frage zu stellen.
Die Verletzung des Prinzips staatlicher Souveränität und die Mißachtung der führenden Rolle der Vereinten Nationen – diese Schritte werfen, auch wenn sie im Namen des Humanitären erfolgten, eine Reihe von Fragen auf: Wie sind humanitäre Ziele und Gewaltanwendung miteinander zu vereinbaren? Kann es ethisch vertretbare Bombenangriffe geben – zumal wenn fehlgesteuerte Raketen unter der Zivilbevölkerung Hunderte Menschen umbringen? Kann man noch von einem „gerechten Krieg“ reden, wenn die militärische wie technologische Ungleichheit der Kontrahenten ins Unermeßliche steigt? Welche Moral rechtfertigt die Vernichtung der Serben zum Schutz der Kosovaren? Diese Fragen plagen das Bewußtsein der meisten sozialdemokratischen Staatschefs, die als Alt-68er, ehemalige Trotzkisten, Maoisten, Kommunisten, Pazifisten usw. der Love Generation und Flower-Power-Bewegung angehörten und damals „make love, not war“ riefen, antimilitaristische Songs trällerten (Donovans „Universal Soldier“ zum Beispiel) und gegen den Vietnamkrieg kämpften (der wohl nach den heute geltenden Kriterien eine „gerechte Sache“ gewesen sein muß).
Führende Grünen-Politiker haben große Mühe, ihre kriegstreiberische Gesinnung mit ihrem angestammten Umweltschutzgedanken zu vereinbaren. Denn sie müssen wohl oder übel konstatieren, daß der Krieg in Jugoslawien, wie jeder Krieg, an sich schon eine ökologische Katastrophe ist: Die Zerstörung von Erdölraffinerien setzt giftige Schwaden frei, die Bombardierung von Chemiefabriken verschmutzt die Gewässer und tötet die Fauna, Grafitbomben verbreiten krebserregende Staubpartikel, Geschosse mit einer Umhüllung aus abgereichertem Uran verseuchen die Umwelt mit Radioaktivität (siehe hierzu den Artikel von Christine Abdelkrim-Delanne auf Seite 9), Streubomben stoßen kurz vor dem Aufschlag Dutzende von „bomblets“ aus, die wie Antipersonenminen wirken (die Vereinigten Staaten haben das Verbotsabkommen von Ottawa nicht unterzeichnet), über der Adria abgeworfene Bomben bedrohen das Leben der Fischer – die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.
Andere fragen sich, weshalb die Nato nicht auch in anderen Ländern, wo Bevölkerungsgruppen massiv in Bedrängnis sind, aus humanitären Gründen eingreift: im südlichen Sudan zum Beispiel, oder in Sierra Leone, Liberia, Angola, Ost-Timor, Tibet usw. Wieder andere weisen darauf hin, daß in puncto humanitäre Aktion bisweilen mit zweierlei Maß gemessen wird. Im Irak etwa fliegen die Vereinigten Staaten und Großbritannien ohne jedes internationale Mandat tagtäglich Bombenangriffe, und während Frankreich, Rußland und China im Namen eben jener Humanität für eine Aufhebung des Wirtschaftsembargos plädieren, weigern sich die beiden anderen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats beharrlich, den entsprechenden Beschluß der UNO mitzutragen – und dies, obwohl das Embargo seit 1991 über eine Million unschuldige Menschen das Leben gekostet hat.
Manche Kommentatoren wenden ein, das Recht auf humanitäre Einmischung dürfe nicht allein den Stärkeren vorbehalten bleiben. Doch wie sollten die Schwächeren ein solches Recht in Anspruch nehmen? Ist es etwa vorstellbar, daß ein afrikanisches Land im Namen des Rechts auf Einmischung in einem amerikanischen Bundesstaat interveniert, um die Schwarzen zu schützen, deren Menschenrechte verletzt werden? Oder daß ein nordafrikanisches Land in einem europäischen Staat eingreift, weil Menschen maghrebinischer Herkunft dort systematisch diskriminiert würden?
Und wäre nicht auch ein Recht auf soziale Einmischung denkbar, wie dies verschiedentlich schon vorgeschlagen wurde? Ist es nicht ein Skandal, daß es in den EU-Ländern 50 Millionen Arme gibt? Stellt dies etwa keine grobe Menschenrechtsverletzung dar? Ist es hinnehmbar, daß weltweit jeder zweite Mensch mit weniger als 1,5 Euro (3 Mark) am Tag auskommen muß? Daß eine Milliarde Menschen in äußerster Armut mit weniger als 0,7 Euro (1,4 Mark) am Tag ihr Dasein fristen? Die 64 Millionen Dollar oder 59 Millionen Euro, welche die Nato Tag für Tag für die Bombardierung Jugoslawiens ausgibt, würden ausreichen, um 77 Millionen Menschen zu ernähren.
DURCHFÜHRUNG. Auch im Hinblick auf die Durchführung stellt der derzeitige Balkankrieg einen Krieg neuen Typs dar. Die Kriegsführung des Oberkommandierenden der Nato-Streitkräfte, Wesley Clark, unterscheidet sich von allem, was wir aus der Militärgeschichte kennen. Das Prinzip „null Tote“ ist oberste Handlungsmaxime geworden. Zwei Monate nach Beginn der Bombenangriffe hatte im Kriegsgeschehen nicht ein einziger Soldat der Allianz den Tod gefunden – ein beispielloser Vorgang.
Die bisherigen Materialverluste sollen kaum der Rede wert sein. Nach über 25000 Flugeinsätzen hat die Nato offenbar nur zwei Kampfflugzeuge verloren; Spezialeinheiten holten die Piloten unversehrt aus dem Feindesland heraus. General Clarks Plan, den „Krieg ohne Flugzeugverluste“4 zu führen, scheint aufzugehen. Kein einziges Kriegsschiff, kein Panzer, kein Hubschrauber wurde im Kampfeinsatz beschädigt.
Die materiellen Zerstörungen Jugoslawiens hingegen sind erheblich. Die militärische und industrielle Infrastruktur (einschließlich der Stromerzeugungsanlagen) ebenso wie das Hauptverkehrswegenetz (Brücken, Eisenbahnlinien und Autobahnen) wurde weitgehend vernichtet oder unbrauchbar gemacht. Sämtliche elektronischen Systeme werden systematisch gestört, die Telefonverbindungen ständig überwacht. Die Zahl der Toten in der serbischen Armee soll sich auf mehrere tausend belaufen. Nach Auffassung mancher amerikanischer Generäle ist das Land um mehr als zwanzig Jahre zurückgeworfen, ja, möglicherweise auf dem Stand nach Ende des Zweiten Weltkriegs angelangt. Fünfzig Jahre Wiederaufbau, das Arbeitsergebnis von zwei Generationen, wäre innerhalb weniger Wochen ausgelöscht.
Das militärische Kräfteverhältnis zwischen der Nato und Jugoslawien ist in der Tat so ungleich, daß von einem Krieg eigentlich gar nicht die Rede sein kann. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Strafaktion – eine Bestrafung, wie sie mit Ausnahme des Irak bisher noch kein Land zu spüren bekam. Die Strategie der Nato verurteilt Jugoslawien zur Passivität. Gegenüber den Streitkräften der Allianz, die in jedem Fall außerhalb seiner Reichweite liegen, ist das Land machtlos.
Indes haben wir es in Wirklichkeit mit zwei Kriegen zu tun: In dem einen Krieg – der, wie gesagt, eher eine Strafaktion ist –, tritt der Starke gegen den Schwachen an, die Nato gegen Jugoslawien, in dem anderen der Schwache gegen den Schwächsten, Serbien gegen die Kosovaren, die Streitkräfte Belgrads gegen die „Befreiungsarmee des Kosovo“, UÇK. Auf der einen Seite also ein mit allen elektronischen und technologischen Raffinessen geführter High-Tech-Krieg, auf der anderen Seite Massaker mit der Motorsäge, Massendeportationen, Vergewaltigungen, Hinrichtungen.
Eine Novität sind auch die ausdrücklichen Erklärungen der Nato, sie wolle niemanden töten, nicht einmal serbische Soldaten, geschweige denn Zivilisten. Ein Krieg der Waffen, der Maschinen soll es sein, fast schon ein Videospiel. Und jedesmal, wenn versehentlich Unschuldige zu Tode kommen, überschlägt sich die Allianz vor Reuebekundungen, macht sich Gewissensbisse, äußert ihr Bedauern und entschuldigt sich auf jede erdenkliche Weise.
Den Gegner in abstracto plattmachen, ja; in concreto einen Feind töten, nein. Oder, wie Umberto Eco schreibt: „Im Neo-Krieg verliert vor der Öffentlichkeit, wer zuviel tötet.“5 So lautet das neue Gesetz, das dieser Krieg vorschreibt. Und die Medien wachen darüber, daß es eingehalten wird. Daher ist es eines der Hauptziele der Konfliktparteien, die Medien zu manipulieren. In dieser Hinsicht hat sich gegenüber dem „Falkland-Modell“ von 1982, das man insbesondere im Golfkrieg in Aktion sehen konnte, nicht viel verändert.6 Die neue Informationspolitik wurde von der Nato bereits 1986 entwickelt und anhand der Erfahrungen im Golfkrieg weiter verbessert. Kurz gesagt verfolgt sie das Ziel, den Krieg unsichtbar zu machen und die Nato-Pressestelle zur Hauptinformationsquelle der Journalisten zu befördern. Letztere sind im Vergleich zum Golfkrieg zwar vorsichtiger geworden, aber immer gelingt es ihnen nicht, dieser neuen Form der demokratischen Zensur und leutseligen Propaganda auszuweichen. Zumal die traditionelle Zensur und die grobschlächtige Propaganda der anderen Seite der Wahrheit noch weniger ans Licht zu verhelfen vermag.
So bleibt den Medien seit zwei Monaten nichts anderes übrig, als ein zentrales, aber abwesendes Bild zu kommentieren: das Bild der Greueltaten der Belgrader Streitkräfte an der Zivilbevölkerung im Kosovo. An Augenzeugenberichten über diese Verbrechen mangelt es nicht, auch besteht kein Zweifel an ihrer Realität, aber kein Fotograf hat sie uns je gezeigt, kein Reporter sie je mit eigenen Augen gesehen.7 Welch durchschlagender Mißerfolg für die Medienmaschinerie, zumal für die audiovisuelle, die uns seit gut zehn Jahren davon zu überzeugen versucht, daß Information wesentlich im Miterleben des Geschehens bestehe.
Daher auch die polemischen Auseinandersetzungen zwischen den Verfechtern der „amtlichen Wahrheit“ der Nato und einigen wenigen Beobachtern vor Ort – Dissidenten und Ikonoklasten. So zögerte der britische Außenminister Robin Cook nicht, den Belgrader BBC-Korrespondenten John Simpson öffentlich zu attackieren und als „Milosevic-Komplizen“ zu beschimpfen, nur weil dieser darauf aufmerksam gemacht hat, daß es in Serbien durchaus auch demokratische Regimegegner gibt, daß Schulen zerstört werden und dergleichen mehr. Die britische Labour-Regierung ging sogar so weit, die BBC unter Druck zu setzen und die Abberufung des Journalisten zu verlangen. Der Korrespondent des italienischen Fernsehsenders RAI, Ennio Remondino, wurde wegen seiner harten Kritik an der Bombardierung Belgrads und des serbischen Fernsehgebäudes von manchen Kollegen, den Journalisten und Intellektuellen „in Uniform“, heftig attackiert und als „Milosevic-Agent“ betitelt. Und Régis Debray handelte sich in Frankreich mit seinem Kurzaufenthalt im Kosovo eine regelrechte Rufmordkampagne ein, weil seine in Le Monde veröffentlichten Beobachtungen nicht mit der „offiziellen Wahrheit“ übereinstimmen.
DIE ZIELE. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten verfolgen mit diesem Krieg je unterschiedliche Ziele, Zwecke und Absichten, die sie der Öffentlichkeit allerdings vorenthalten.
Die Europäische Union führt diesen Krieg aus strategischen Erwägungen. Doch das Verständnis dessen, was die strategische Bedeutung einer Region sei, hat sich seit einigen Jahren grundlegend gewandelt. Vormals war ein Gebiet „strategisch wichtig“, wenn es einen erheblichen militärischen Vorteil verschaffte – Zugang zum Meer, zu einem schiffbaren Fluß, einer strategischen Höhe, einer natürlichen Grenze usw. –, wenn es unentbehrliche natürliche Reichtümer barg – Erdöl und Erdgas, Kohle und Eisen, Wasser usw. – oder wenn es die Kontrolle lebenswichtiger Verbindungswege ermöglichte: Meerengen, Kanäle, Pässe, Täler usw.
Im Zeitalter der Kommunikationssatelliten, der Globalisierung und der informationsbasierten „neuen Ökonomie“ ist diese Konzeption der „strategischen Bedeutung“ weitgehend überholt. In diesem Sinn also ist das Kosovo von keinerlei strategischem Interesse. Eine Besatzungsmacht zöge daraus keinen militärischen Vorteil, käme nicht in den Besitz unentbehrlicher Rohstoffe, würde keine lebenswichtige Handelsstraße kontrollieren.
Worin also besteht für einen opulenten Staatenzusammenschluß wie die Europäische Union die strategische Bedeutung eines Territoriums? Im wesentlichen in seiner Eigenschaft als Exporteur von Problemen: politischem Chaos, chronischer Armut, illegalen Einwanderern, Kriminalität, Drogenmafia und dergleichen mehr. Unter diesem Blickwinkel sind seit dem Fall der Berliner Mauer zwei Regionen von allergrößter strategischer Bedeutung für Europa: der Maghreb und der Balkan.
Die Kosovokrise spitzte sich erst nach der Implosion Albaniens 1997 zu, als das Land im Chaos versank. Nun konnten sich die Kämpfer der UÇK zum einen leicht mit Waffen versorgen, zum anderen stand ihnen ein sicheres Rückzugsgebiet für ihre Operationen im Kosovo zur Verfügung. Der „Befreiungskampf“ um das umstrittene Gebiet drohte lang und grausam zu werden, zumal beide Kriegsgegner zum Äußersten entschlossen waren. Konnte es sich die Europäische Union leisten, fünf bis zehn Jahre lang mit einem solchen Konflikt vor ihrer Haustür zu leben? Und erst die vorhersehbaren Folgewirkungen in Makedonien und im übrigen Balkan! Würden nicht Zehntausende Flüchtlinge versuchen, über Italien in die anderen Länder der EU zu fliehen? Die Antwort auf diese Fragen sind die Bombenangriffe der Nato.
Die Vereinigten Staaten haben am Kosovo überhaupt kein strategisches Interesse, weder im traditionellen Sinn noch im aktuellen Verstand. Ihnen, die sich schon 1991 nur im Rückwärtsgang in der Balkankrise engagierten, liefert der Kosovokonflikt lediglich den idealen Vorwand, um endlich unter Dach und Fach zu bringen, was ihnen so sehr am Herzen liegt: die neue Legitimation der Nato. Das zur Zeit des Kalten Kriegs entstandene Verteidigungsbündnis richtete sich gegen einen ganz bestimmten Gegner: die Sowjetunion. Mit dem Verschwinden der UdSSR im Dezember 1991, dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten und der Auflösung des Warschauer Pakts hätte sich eigentlich auch die Nato auflösen und in Westeuropa durch eine eigenständige Verteidigungsorganisation ersetzt werden müssen (siehe dazu den Artikel von Bernard Cassen auf den Seiten 14 und 15). Da aber war Washington vor. Die Vereinigten Staaten wollen eine europäische Macht bleiben und haben daher alles Erdenkliche unternommen, um die Nato zu stärken und ihren Einflußbereich durch die Aufnahme von drei osteuropäischen Ländern – Polen, Tschechien und Ungarn – auszuweiten. „Es kann keinen Zweifel geben“, schreibt ein amerikanischer Militäranalytiker, „daß die Nato nur deshalb beibehalten wurde, weil sie den Vereinigten Staaten politischen Einfluß in Europa verschafft und die Entwicklung eines konkurrierenden europäischen Verteidigungssystems blockiert.“8
Die Kosovokrise bot den Vereinigten Staaten die Gelegenheit, das neue strategische Konzept der Nato noch vor seiner offiziellen Verabschiedung am 25. April 1999 in Washington in die Praxis umzusetzen.9 Das Ergebnis ist alles andere als überzeugend. Manche US-Offiziere fragen sich, ob es nicht effizienter gewesen wäre, wie im Golf mit UN-Mandat zu intervenieren, anstatt sich mit den unvermeidlichen Komplikationen herumzuschlagen, die die permanenten Konsultationen mit den anderen achtzehn Nato- Staaten mit sich bringen.10
Noch einfacher wäre es für die Vereinigten Staaten freilich, im Alleingang zu handeln. Ihre militärische Überlegenheit würde es ihnen gestatten. So könnten sie die globale Marktwirtschaft durch eine neue Weltordnung vervollständigen. Schockierende Aussichten? Nicht im geringsten, meint Admiral William J. Perry, Clintons ehemaliger Verteidigungsminister: „Da die Vereinigten Staaten das einzige Land mit globalen Interessen sind, sind sie von Natur aus zum Führer der internationalen Staatengemeinschaft bestimmt.“11
dt. Bodo Schulze
Fußnoten:
1 Le Monde, 22. Mai 1999. 2 Die drei Kriege zwischen Rom und Karthago im 3. und 4. Jahrhundert v. Chr. 3 Alain Joxe, „Le nouveau statut des alliances dans la stratégie américaine“, Cahiers d'études stratégiques 20, Paris, Frühjahr 1997. 4 International Herald Tribune, 18. Mai 1999. 5 Le Figaro, 3. Mai 1999. 6 Siehe Ignacio Ramonet, „La Tyrannie de la communication“, Paris (Galilée) 1999, das im Herbst auf deutsch erscheinen wird (“Die Kommunikationsfalle“, Zürich, Rotpunktverlag). 7 Vgl. William Branigin, „U.S. details serb terror in Kosovo“, International Herald Tribune, 12. Mai 1999. 8 Vgl. William Pfaff, „What good is Nato if America intends to go it alone?“, International Herald Tribune, 20. Mai 1999. 9 Der Wortlaut des „strategischen Konzepts der Nato“ findet sich unter http://www.nato.int/docu/ pr/1999/p99-065d.htm. 10 Vgl. William Pfaff, siehe Fn. 8. 11 William J. Perry, „La construction d'alliances par le leadership global et la dynamique d'enlargement“ (Vortrag vom 4. März 1996), Cahiers d'études stratégiques 20, Paris, Frühjahr 1997.