Keine europäische Verteidigung ohne europäische Außenpolitik
Es wäre naiv, die mangelnde Präsenz der Europäischen Union auf der internationalen Bühne – etwa im Kosovo – zu beklagen. Denn die überwiegende Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten hat sich explizit zu dem Ziel bekannt, auf keinen Fall einen gemeinschaftlichen Machtstatus anzustreben. Schon gar nicht im hochsensiblen Bereich der Verteidigung, deren Schlüsselgewalt man der Nato und somit Washington überantwortet hat.
Von BERNARD CASSEN
IM Kosovo wurden wir alle mit der Zukunft Europas konfrontiert, und diese Zukunft ist erschreckend“1 , sagte der britische Verteidigungsminister George Robertson. Hat ihn diese Einsicht veranlaßt, seinem deutschen Amtskollegen Rudolf Scharping beizupflichten, der am 10. Mai in Bremen die Idee einer „effizienten europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ ins Spiel brachte? Diese Formulierung findet sich in dem Bericht, den die Außen- und Verteidigungsminister der zehn Mitgliedstaaten der Westeuropäischen Union (WEU) dem Europäischen Rat vorgelegt haben. Dieser Bericht enthält als Novum den Vorschlag, die WEU schnellstens in die Europäische Union (EU) zu integrieren.
Auch Romano Prodi hatte noch vor seiner Wahl zum Präsident der EU-Kommission erklärt, ein europäisches Heer sei „der nächste logische Schritt“ auf dem Wege zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) der EU. Mit Blick auf London fügte er hinzu, die Länder, die eine Beteiligung an diesem Heer verweigerten, würden „in der neuen Weltgeschichte nur noch eine marginale Rolle spielen“. Sogleich ließ Tony Blair durch seinen Sprecher erklären, daß „für Großbritannien die Nato den Eckstein jeder Verteidigungsfähigkeit bilde und ein europäisches Heer nicht zur Debatte stehe“2 . Diese harsche Replik aus London verdeutlicht ein Grundproblem: Eine von den Verträgen von Maastricht und Amsterdam anvisierte europäische Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) bedeutet keineswegs eine europäische Verteidigung, und eine europäische Verteidigung beinhaltet nicht notwendig die Schaffung eines europäischen Heeres.
Zur Klärung der Thematik ist es angezeigt, sich die Geschichte der europäischen Verteidigungsprojekte ins Gedächtnis zu rufen. Erst dann wird man die Frage beanworten können, ob das jämmerliche Bild, das die Europäer derzeit im Kosovo abgeben, motivierend dazu beitragen kann, die EU beschleunigt als eigenständige Macht zu etablieren. Und wenn ja, aus welchen Gründen.
Im Gefolge des Zweiten Weltkriegs unterzeichneten 1948 fünf Staaten (Frankreich, Großbritannien, die Benelux-Länder) in Brüssel einen gemeinschaftlichen, ausdrücklich gegen Deutschland gerichteten Verteidigungsvertrag: die westliche Union. Kurz darauf machte es jedoch der Kalte Krieg unumgänglich, die westeuropäische Verteidigung im Nordatlantikpakt zu verankern, der 1949 in Washington abgeschlossen und – in Form der Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato) – mit einer mächtigen ständigen Struktur ausgestattet wurde. Alsbald stellte sich aber die Frage der Wiederbewaffnung Westdeutschlands in folgender Form: Wie konnte man deutsche Soldaten bekommen, ohne die Existenz einer deutschen Armee zuzulassen?
Die unter dem Druck Washingtons ersonnene Lösung war die Europäische Verteidigungsunion (EVU), die durch einen am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichneten Vertrag ins Leben gerufen wurde. Was immer einige Kandidaten für das Europaparlament im Vorfeld der anstehenden Wahlen im Fernsehen von sich geben: Europäisch war an der EVU lediglich die Fassade. Zwar entstand eine supranationale, integrierte Armee aus sechs Herkunftsländern. Und diese Länder waren dieselben, die 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet und damit die Europäische Wirtschaftsunion (EWG) gegründet haben. Es gehörte also Deutschland dazu, nicht aber Großbritannien, das seinen eigenen Verteidigungsapparat beibehielt. Aber diese Armee unterstand in Friedenszeiten dem Oberkommando der Nato, die sie nach Gutdünken einsetzen konnte – außer bei einem einstimmigen Veto der sechs Mitgliedstaaten3. Was für ein wunderbares „europäisches“ Heer!
Bekanntlich wurde das EVU-Projekt am 30. August 1954 vom französischen Parlament abgelehnt. Daraufhin entstand zwei Monate später aus der westlichen Union die Westeuropäische Union (WEU) durch Einbeziehung von Italien und der Bundesrepublik Deutschland. Letztere hatte inzwischen den vollen Status eines souveränen Staates erlangt und durfte ihre eigene Armee aufstellen. Bereits 1955 wurde die Bundesrepublik auch in die Nato aufgenommen. Die WEU4 versank in eine lange Phase der Lethargie, aus der sie erst in den achtziger Jahren erwachte, ohne auch nur im Ansatz eine Konkurrenz zur Nato darzustellen, da sie über keinerlei operative Strukturen verfügt. Die einzigen europäischen Streitkräfte, die nicht dem integrierten Oberbefehl der Nato unterstehen (mit Ausnahme der französischen Verbände, die de Gaulle 1966 dem Nato-Kommando entzog), sind die 1990 geschaffenen multinationalen Einheiten. Als „der WEU verantwortliche Streitkräfte“ fungieren: das Eurokorps (mit Beteiligung von Frankreich, Belgien, Deutschland, Spanien und Luxemburg), Eurofor als schnelle Eingreiftruppe und Euromar als luftgestützter Marineverband (Frankreich, Spanien, Italien und Portugal). Darüber hinaus unterhält die WEU seit 1992 einen Planungsstab und seit 1993 ein Satellitenzentrum in Torrejón (Spanien). Nicht gerade imposant.
Die WEU beschränkte sich bislang auf Polizeifunktionen (besonders bei der Verwaltung der Stadt Mostar und der Umsetzung eines gegen Exjugoslawien gerichteten Donau-Embargos). Dennoch ist sie die bislang einzige rein europäische Verteidigungsorganisation und bleibt insofern ein unumgänglicher Ausgangspunkt für alle Überlegungen über die Zukunft der Gasp.5 Das Schlüsselproblem, das sich in aller Schärfe bei der Aushandlung der Maastrichter und Amsterdamer Verträge stellte, liegt in den Beziehungen zwischen WEU, EU und Nato. Es kommt hinzu, daß die europäischen Partner an den drei genannten Institutionen jeweils unterschiedlich beteiligt sind.6
Vereinfachend kann man sagen, daß es stets zwei polar entgegengesetzte verteidigungspolitische Positionen gab, die auf widerstreitende Konzeptionen für ein Vereinigtes Europa zurückgehen. Da ist einerseits die Konzeption der europäischen Großmacht, „l'Europe européenne“ in der Sprache de Gaulles, die sich durch starke gemeinschaftliche politische Kräfte und Unabhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten definiert. Nach dieser Sichtweise, die seit vierzig Jahren von allen französischen Regierungen vertreten wird, ist die WEU berufen, zum „bewaffneten Arm“ der EU im Rahmen ihrer Gasp zu werden, und zwar unabhängig von der Nato. Das andere Konzept beruht auf der Idee eines auf die Dimension des Freihandels reduzierten Europa, die faktisch auch die USA einbezieht und weniger auf die Gemeinschaft abhebt als auf einen erweiterten Markt, der auf einer transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft beruht.7 Diese zweite Konzeption, die sich klag- und problemlos mit der untergeordneten Rolle Europas innerhalb der Nato abfindet, wird traditionsgemäß von Großbritannien vertreten und neuerdings von Tony Blair in karikaturistischer Übersteigerung. In Wirtschafts- und Handelsfragen artikulieren sich die gegensätzlichen Auffassungen in diversen Schattierungen, in Verteidigungsangelegenheiten hingegen prallen sie immer noch frontal aufeinander.
Diese beide Positionen finden sich auch in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam, deren gewundene Formulierungen den Versuch darstellen, beide unter einen Hut zu bringen: die WEU hervorzuheben8 und zugleich die notwendige Kompatibilität mit den Nato-Interessen zu betonen. Tatsächlich aber will außer Frankreich – und bedingt Spanien – keiner der fünfzehn Mitgliedstaaten eine „europäische Großmacht“, nicht einmal als europäischen Pfeiler der Nato.
Nicole Gnesotto bietet für die Ablehnung der „Europe européenne“ folgende scharfsinnige Erklärung: „Alle wollen lieber der Vorherrschaft eines mächtigen, aus der Geschichte zweier Weltkriege legitimierten Beschützers unterliegen, der sich auch noch 8000 Kilometer entfernt befindet, als sich in einer möglichen Gefolgschaftsverhältnis unter europäischer Führung wiederzufinden. Wobei sich dieses Bündnis aus mittelgroßen Mächten mit mehr oder minder dubioser Vergangenheit rekrutieren müßte, aus geographisch sehr nahen Ländern also, die ihre Führungsrolle kaum besser legitimieren können als andere.“9 Tatsächlich seien es heute eher die Vereinigten Staaten, die irgendwann den Wunsch nach einem etwas breiteren Handlungsspielraum verspüren könnten, ohne die Schalthebel zur Lenkung Europas aus der Hand zu geben: „Da es kein hinreichend durchorganisiertes und somit ernstzunehmendes europäisches Militärpotential gibt und erst recht keinen gemeinsamen europäischen Willen, aus der EU einen verantwortlichen strategischen Mitstreiter zu machen, sind die USA schließlich bei jeder Krise zur Intervention gezwungen (...). Je mächtiger Amerika ist, um so geringer seine Freiheit.“ Deshalb laufe „die Hypothese einer wachsenden strategischen Verantwortung der Europäer grundsätzlich den politischen Grundsatzinteressen der USA keineswegs zuwider. Und wenn Amerika den Willen hat ...“10
Wäre es nicht denkbar, daß man in Washington bedauert, die Nato im Krieg um den Kosovo als Hauptinstrument der US- Vorherrschaft in Europa in die hochriskante Lage gebracht zu haben, zum „Sieg“ um jeden Preis verdammt zu sein? Hätte nicht im Grunde die WEU – auf die amerikanische Logistik gestützt11 , aber mit rein europäischen Nato-Kontingenten – die grobe Arbeit inklusive einer Niederlage allein auf ihre Kappe nehmen können, ohne Washington einen größeren politischen Schaden zuzufügen?
Es ist kaum anzunehmen, daß Rudolf Scharping am 10. Mai in Bremen seinen Vorschlag zur Integration der WEU in die Europäische Union ohne die Zustimmung Madeleine Albrights vorgebracht hat. Diese Integration aber ist lediglich eine im Amsterdamer Vertrag (Absatz V, Artikel 17) erwähnte Eventualität. Daß man sich schon einen Monat nach Inkrafttreten dieses Vertrages (am 1. Mai 1999) mit der Umsetzung dieser fakultativen Klausel befaßt, zeugt von einer ansonsten in Kanzlerämtern eher unüblichen diplomatischen Beflissenheit.
Müssen die Europäer womöglich gegen ihren eigenen Willen europäisch werden, nur um ihrer Schutzmacht gefällig zu sein? Aber auch dann müßten sie noch herausfinden, welche gemeinsame Außenpolitik geeignet ist, einer einigermaßen erfolgreichen Verteidigungspolitik zuzuarbeiten, die sich allerdings auf den geographischen Umkreis beschränken würde, von dem größere oder kleinere Gefahren für Europa ausgehen und der ihnen natürlich von Washington zugewiesen wird. Und in der Außenpolitik decken sich die Meinungsdiskrepanzen logischerweise mit denen im Sicherheitsbereich: „Für die Mehrheit der EU-Länder läßt sich die Außenpolitik in drei Punkte fassen: Verteidigung der Menschenrechte, Schutz der eigenen Handelsinteressen, Beziehungen zu den Nachbarländern.“12 Während die von der Kommission geleitete gemeinschaftliche Politik für Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit eine globale Wirkung erzielt, hat die Außenpolitik, die dem Europäischen Rat untersteht und dadurch mit den beiden zuvor genannten Bereichen nur locker verknüpft ist, noch kaum Konturen entwickelt. Besonders für die Vereinigten Staaten bilden diese unterschiedlichen Bereiche bekanntermaßen ein Ganzes. Und wenn die fünfzehn EU- Mitglieder in einer bedeutenden Frage wie dem Palästinenserproblem eine gemeinsame Position entwickeln13 , so wird sie dann nicht mit dem gleichen Elan verfochten, mit dem jeder einzelne EU-Staat wie selbstverständlich seine nationalen außenpolitischen Interessen verficht.
Da der EU eine gemeinsame Sicht der Welt und ein gemeinsames Zielvorhaben fehlen, spielt sie auf der internationalen Bühne eine unscheinbare Rolle. Daran kann auch die Nominierung eines Hohen Repräsentanten der Gasp beim Kölner Gipfeltreffen wenig ändern. Damit bleibt für gewisse EU-Mitglieder – zumal Frankreich – nur ein geringer Spielraum, um ihre Version einer „Idee von Europa“ zum Ausdruck zu bringen.
dt. Margarethe Schmeer