Die Nouvelle vague des zentralasiatischen Kinos
Von PIERRE DAUM *
DAS Filmschaffen Zentralasiens ist in unseren Gegenden sehr wenig bekannt. Während man in Europa stolz seine „siebte Kunst“ präsentiert und sich das Interesse der Filmbranche neuerdings dem aufstrebenden Filmkontinent Asien zuwendet, erscheinen dem gewöhnlichen Kinogänger die Republiken im Südosten der ehemaligen Sowjetunion wie No-film-Länder. Dabei wird nur in Tadschikistan, wo seit sieben Jahren der Bürgerkrieg tobt, wirklich kein Film gedreht. In den vier anderen muslimischen Republiken werden regelmäßig Filme produziert: 1998 verzeichnete man vierzehn „Lang“-Filme, davon acht in Kasachstan, drei in Turkmenistan, zwei in Usbekistan und einen in Kirgisistan.
Ein Name hat es mittlerweile sogar zu internationalem Ansehen gebracht: das Werk von Daredjan Omirbajew – drei Spielfilme und zwei Dokumentarfilme – war letztes Jahr auf dem Filmfestival in Paris Gegenstand einer Retrospektive. Sein jüngster Film, „Killer“ (Kasachstan/Frankreich 1998) wurde bei seinem Erscheinen in Frankreich positiv aufgenommen. Die Handlung ist einfach. Ein junger Mann gerät, nachdem er den Mercedes eines Neureichen beschädigt hat, in immer größere Schulden, so daß er schließlich einwilligt, gegen Bezahlung einen Journalisten umzubringen. Ohne didaktische Schwere erzählt der Filmemacher mit dieser einfachen Geschichte von der wirtschaftlichen und moralischen Zerrüttung seines Landes.
Daredjan Omirbajew gehört zu einer kleinen Gruppe zentralasiatischer Produzenten, die mit dem Sozialistischen Realismus gebrochen haben. Sie begreifen Kunst nicht als ein Instrument zur Sinnnvermittlung, sondern als eine Aufforderung, neue Bedeutungen zu erforschen. Die zu diesem Ziele eingesetzte Reduktion der Mittel – sowohl in der Handlungsgestaltung als auch im Toneinsatz – erinnert an die frühen Filme von Jean Vigo oder François Truffaut.
Eine Reihe älterer Filme gehört in diesen Zusammenhang, etwa die „Biographie eines jungen Akkordeonisten“ von Satibaldi Narimbetow (1994), „Last Holidays“ von Amir Karakulow (beide Kasachstan 1995) oder auch „Kammi“ von Djanik Faizijew (Usbekistan 1992). Doch der bedeutendste ist der wunderbare Film „Beshkempir“ (“The Adopted Son“, 1998) von Aktan Abdikalikow. Die Geschichte spielt in einem kleinen kirgisischen Dorf; man hat Anteil an den Gesprächen der Frauen und an den phantasiereichen (und mitunter grausamen) Spielen der Kinder, die mit ihren ersten sexuellen Gefühlen beschäftigt sind. Einem Jungen liegt ein Geheimnis wie eine Last auf der Schulter, denn er weiß, daß er nicht das wirkliche Kind seiner Eltern ist, sondern ein beshkempir, ein Adoptivkind.
In diametralem Gegensatz zu diesem von der westlichen Kritik als Nouvelle vague betitelten Filmschaffen gehen die der sowjetischen Tradition entstammenden „historisch-ideologischen“ Filme weiter – doch in neuem Gewande. Wo früher die „Notwendigkeit des Kommunismus“ im Vordergrund stand, dominiert heute der Wunsch der neuen Staaten, sich eine starke, heldenhafte und ruhmreiche Vergangenheit zu konstruieren, wobei es darum geht, das Volk um tradierte gemeinsame Werte zu scharen, wie angestaubt diese auch sein mögen. Die in staatlichem Auftrag realisierten Filme verherrlichen die Wurzeln der „Nation“, was um so künstlicher ausfallen muß, da diese (zumeist nomadischen) Völker sich in der Vergangenheit immer miteinander vermengt hatten.
Zu den neuesten Produktionen dieser Strömung gehört „Die Jugend von Zhambul“ von Kanibek Kasimbekow (Kasachstan 1996), „Die vergangenen Tage“ von Melis Abzalow (Usbekistan 1998) oder „Die verbrannten Seelen“ von Bairam Abdullajew (Turkmenistan 1994). Auch „Toba“ von dem Turkmenen Khalmaned Kakabajew gehört zwar hierzu, hinterfragt die Vergangenheit jedoch stärker. Er zeigt eine Person, die sich an der Schwelle des Todes seiner Vergangenheit zuwendet und von einem einzigen Gefühl überwältigt wird: der Reue.1
VOR allem diese Filme früherer Parteimitglieder, die zu den glorreichen Sowjetzeiten bereits Dutzende Filme realisiert hatten, schlucken den Großteil der Subventionen. Denn in Zentralasien hat keine Erneuerung der Eliten stattgefunden, und noch immer ist die von Kumpanei und bürokratischer Korruption geprägte Generation an der Spitze der Macht. Daher gibt es bis heute in Zentralasien nur eine Handvoll junger Vertreter der Nouvelle vague, und auch das nur dank der ausländischen Koproduktionen (Frankreich, Rußland, Japan...)2
Die Nachwirkungen des alten Regimes sind leider nicht das einzige Hindernis in der Weiterentwicklung des zentralasiatischen Kinos. Armut, veraltete Kinosäle mit den immergleichen Maschinen und unbequemen Sitzen und der Fortschritt in der Tontechnik tun ein übriges. Da die Besucherzahlen ständig sinken, vermieten die Kinosaal-Besitzer ihre Räume an Auto- oder Computerfirmen. Schließlich will kein Privatinvestor sein Geld in einem Sektor verkommen lassen, der keine Rentabilität erhoffen läßt. Der Film „Titanic“ etwa hat in Zentralasien keinen Filmverleih gefunden, doch die Videokassetten wurden – zu einem Preis von weniger als fünf Dollar – auf den Märkten von Almaty, Dichek und Taschkent zu Tausenden abgesetzt, noch bevor er in Europa herausgekommen war. Zudem belasten die Folgen der russischen Finanzkrise vom 17. August 1998 auch die Koproduktionen.
Im Kasachstan finden nun erste Versuche statt, die Filmindustrie anzukurbeln: 1996 wurde ein Teil der Studios privatisiert und 1998 das internationale Filmfestival „Eurasia“ aus der Taufe gehoben. Aus Anlaß des ersten Festivals im letzten November wurden in Almaty und Astana, der neuen Hauptstadt des Landes, mehrere der Kinosäle renoviert. Durch diese Initiative, die einem alten Komsomol-Funktionär aus dem Umkreis von Präsident Nursultan Maserbajew übertragen wurde, versucht die Regierung sich ein neues internationales Image zu verschaffen und die Verheerungen des Aralsees in Vergessenheit zu bringen. Auch wenn dieses erste Filmfestival ein Erfolg war, steht eine Forsetzung bislang in den Sternen.
dt. Marie Luise Knott
* Journalist, Wien.