11.06.1999

HUMANITÄRE HILFE ZWISCHEN ALLEN FRONTEN

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HUMANITÄRE HILFE ZWISCHEN ALLEN FRONTEN

Die Illusion, daß etwas getan wird

Von JACKY MAMOU *

SEIT Beginn der Luftangriffe der Nato gegen die Republik Jugoslawien ist die Schwierigkeit, Krieg eindeutig von humanitärer Hilfe zu scheiden, deutlicher denn je zutage getreten; die Aussage des tschechischen Vorkämpfers für Menschenrechte, Václav Havel: „Die Bombardierung verfolgt keinerlei materielle Interessen, sondern hat ausschließlich humanitäre Gründe...“1 , belegt einmal mehr die allgemeine Verwirrung. Denn das Eingreifen der Nato hat weder eine Eskalation der ethnischen Säuberungen noch das Aufflammen nationalistischer Emotionen verhindert.

Ebenso uneindeutig ist die Tatsache, daß die Nato zwar zur Unterstützung der Geflüchteten Truppen nach Makedonien und Albanien entsendete, aber jede Aktion im Kosovo selbst strikt abgelehnt hat. Die Zivilbevölkerung, die zu Hunderttausenden von den serbischen Truppen mit brutalster Gewalt vertrieben wurde, erhielt vor Ort keinerlei Schutz und Hilfe. Einmal mehr hat so die „humanitäre“ Aktion der Nato- Truppen in den Nachbarländern im wesentlichen eins geschaffen: die Illusion, daß etwas getan wird.

Erklären kann man sich die katastrophale Lage im Kosovo nur unter Verweis darauf, daß lange Zeit über die Tatsachen hinweggesehen wurde und die internationale Gemeinschaft wider besseres Wissen auf Milosevic „gesetzt“ hat, obwohl das entschlossene gewaltsame Vorgehen des serbischen Regimes mit dem Ziel der ethnischen Säuberung überdeutlich erkennbar war. Laut UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) sind im Jahr 1998 im Kosovo mehr als dreihunderttausend Menschen von serbischen Kräften gewaltsam zur Flucht gezwungen worden. Die Zeugenaussagen der Deportierten belegen, daß Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Niederbrennen von Dörfern, organisierte Deportation und Plünderungen Teil einer langgeplanten, großangelegten Operation sind, die an die Greueltaten von Vukovar und Srebrenica erinnert. Seit längerem hatten im Kosovo arbeitende regierungsunabhängige Organisationen (NGOs) ausführlich darüber berichtet, doch die dort stationierten Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) taten so, als glaubten sie, durch ihre Präsenz den Horror auf ein für die Öffentlichkeit akzeptables Maß beschränken zu können. Dabei gab es in der ganzen Zeit weder einen Waffenstillstand noch Bewegungsfreiheit für die Bevölkerung oder Zugangserleichterungen für humanitäre Organisationen.

Wäre der jetzige Krieg wirklich ein „moralischer“ gewesen, hätte man doch als erstes im Kosovo selbst eine internationale Polizeitruppe für den Nahschutz der Zivilbevölkerung bereitstellen müssen – und das möglichst mit UNO-Mandat. Niemand will, daß die NGOs demnächst militärstrategisch agieren, doch sie sind besonders legitimiert, menschliche Prinzipien hochzuhalten. Schließlich sind es griechische „Ärzte ohne Grenzen“, die im Krankenhaus von Pristina im Bombenhagel arbeiten und deren Konvois überfallen werden. Es waren die NGOs, die gegen den Vorbehalt mehrerer Staaten die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs erkämpften. Die gleichen NGOs arbeiten zusammen mit den Ermittlern des Haager Gerichtshofs an der Vorbereitung der kommenden Prozesse zu den Verbrechen im Kosovo. Und diese Organisationen sind es auch, die in den vergessenen Konflikten überall auf der Welt, wo Zivilisten getötet werden, ihre Hilfsarbeiten fortsetzen, ohne daß auch nur ein Hahn danach krähte: in Afghanistan, Algerien, Kongo, Sierra Leone, Ost-Timor, Chiapas.

Der Kosovokrieg wirkt wie ein schlechtes Remake aller Greueltaten, die Zivilbevölkerungen im Krieg zu erleiden haben. Menschlich gesehen ist die Bilanz am Ende dieses Jahrhunderts unerträglich. Im Ersten Weltkrieg waren 5 Prozent der Opfer Zivilisten. Heute sind es mehr als 90 Prozent. Die Konflikte werden immer mörderischer, und bestenfalls werden Zivilisten heute von den gegnerischen Mächten für ihre Kriege instrumentalisiert, schlimmstenfalls stehen sie direkt im Schußfeld. Völkermorde, genozidäre Massaker2 , ethnische Säuberungen, Hungersnöte und Deportationen häufen sich.

Das erklärte Ziel der Extremisten in Ruanda war die Vernichtung der Tutsi und der gemäßigten Hutu. Und auch die von der serbischen Führung in Bosnien durchgeführten ethnischen Säuberungen zielten unverhüllt auf die Schaffung ethnisch gesäuberter Zonen überall dort, wo es serbische Bevölkerungsteile gab. In beiden Fällen herrschte auf seiten der Mörder der Wahn, daß das eigene Überleben nur durch Vernichtung der anderen gesichert werden könne.

Wo die Vernichtung der Zivilbevölkerung nicht direktes Kriegsziel ist, werden die Menschen im Kriegsverlauf zumeist instrumentalisiert; um dem Gegner die logistische Basis oder die Unterstützung durch die Bevölkerung zu nehmen, werden sie deportiert, ausgehungert und ausgeplündert. Im Tschetschenienkrieg bombardierte die russische Armee massiv zivile Zonen; und im Süden des Irak erzwang sich die Armee im Frühjahr 1991 die Zufahrt zu den – von Aufständischen eingenommenen – Städten, indem sie Zivilisten auf die Panzer setzte.

Dabei sollte man meinen, daß sich in den letzten fünfzig Jahren weltweit das humanitäre Recht weitgehend verankert hat. Zumal heute eine solide Rechtsgrundlage existiert, so daß theoretisch auch in Kriegszeiten der Schutz der Zivilbevölkerung gewährleistet ist. Doch wesentlich ist, daß die heutigen Konfliktparteien zunehmend ungreifbar sind. Selten handelt es sich um Konflikte zwischen einzelnen Nationen, vielmehr stehen sich oft (etwa im Kosovo und in Chiapas) eine nationale Armee und eine „Befreiungsfront“ gegenüber. In einzelnen Fällen hat der Niedergang des Staatsapparats und das Fehlen gewaltloser Regulationsmechanismen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Fraktionen eines Landes geführt – so in Somalia, Liberia und kürzlich in Sierra Leone. Außerdem sind vielfach verschiedene Kräfte mit äußerst unterschiedlichen Interessen beteiligt, wie in der Demokratischen Republik Kongo (ehemals Zaire), wo neben der nationalen Armee zahlreiche Gruppierungen, Milizen und Söldner im Dienste verschiedener politischer und ethnischer Parteien agieren und zudem noch reguläre Truppen der Nachbarländer mitmischen. Hier ist die Lage endgültig verworren. Neuerdings haben auch Mafias, Minen- und Erdölkonzerne sowie andere mächtige wirtschaftliche Interessengruppen Truppen angeheuert. Eine Privatisierung des Krieges droht.

Unter diesen komplexen, äußerst gefährlichen Rahmenbedingungen reduziert sich der Handlungsraum der humanitären Hilfe erheblich. Militärische, polizeiliche, administrative Hürden und äußerst mangelhafte Sicherheitsbedingungen erschweren die Hilfsaufgaben der NGOs derart, daß Schutz und Nahrungsversorgung nicht einmal minimal garantiert sind. Allzuoft gelingt es den Konfliktparteien sogar, die humanitäre Hilfe für die eigenen Kriegsinteressen zweckzuentfremden. So wurde in Somalia und im Südsudan den Hilfsorganisationen wechselweise der Zugang zu verschiedenen Zonen mal verwehrt, mal genehmigt, wodurch die Zivilbevölkerungen manipuliert, hin- und hergeschoben, lokalisiert und „angelockt“ wurden. In Zukunft wird man jede humanitäre Maßnahme im vorhinein daraufhin prüfen müssen, ob sie sich nicht irgendwann für die Menschen als Falle erweisen könnte.

So kommt es, daß die internationale Öffentlichkeit widersinnigerweise vor Schutzmaßnahmen zunehmend zurückschreckt. Seit der 1992 in Somalia durchgeführten Operation „Restore Hope“, die schlecht vorbereitet war und unklare Ziele verfolgte, ist die UNO äußerst vorsichtig geworden; dies geht bis zur Lähmung (wie in Bosnien und Ruanda) oder gar bis zu einer komplizenhaften Passivität wie in Kongo.

Aus diesem Grund versucht „Ärzte ohne Grenzen“ gemeinsam mit mehreren großen Nord- und Süd- Netzwerken der NGOs, einen Dialog zwischen Vertretern humanitärer Organisationen, Experten, Bürgern und Regierungschefs herzustellen. Eine erste internationale Konferenz4 soll eine Grundlage schaffen für eine zukünftige Zusammenarbeit und hierfür zunächst einmal konkrete und umsetzbare Lösungsvorschläge erarbeiten. Unter anderem soll im Rahmen der Vereinten Nationen eine Koordinationsstelle geschaffen werden, wo Vertreter von NGOs und internationalen Organisationen zusammen mit unabhängigen Persönlichkeiten und Vertretern einzelner Staaten die Krisengebiete beobachten und im Falle bedrohlicher Entwicklungen den Sicherheitsrat vorab alarmieren sollen. Wie man sieht, geht es darum, die humanitäre Diagnose von den politischen Entscheidungen zu trennen.

Um in dieser Richtung weiterzukommen, bedarf es einer starken Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die es ja bereits gibt. Die NGOs und Bürgerinitiativen werden zunehmend bedeutende Akteure der internationalen Politik. Die Kampagne zum Verbot der Antipersonenminen, die Verabschiedung der Internationalen Konvention von Ottawa und die Initiativen zur Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs in Rom sind Beispiele der wachsenden Kapazität der NGOs, aktiv zu werden und Einfluß auf politische Entscheidungen zu nehmen.

Langsam formiert sich eine vielstimmige Bewegung zum Schutze von Zivilbevölkerungen in Kriegssituationen. Vor kurzem hat Kanada dem Sicherheitsrat eine Resolution in diesem Sinne unterbreitet.5 Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, hat vorgeschlagen, daß die Zivilgesellschaft bei der Generalvollversammlung der Jahrhundertwende im Jahr 2000 ein Vorschlagsrecht erhält. Die Zivilgesellschaft wird zur aktiven und anerkannten Kraft in der internationalen Politik. Sie muß jetzt aktiv werden, um den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Entscheidungen zu rücken.

dt. Christiane Kayser

* Vorsitzender von Médecins du Monde (Ärzte ohne Grenzen), Paris.

Fußnoten: 1 Le Monde, 29. April 1999. 2 Der Begriff „genozidäre Massaker“ wurde zum ersten Mal von Yves Ternon verwendet, um Massaker zu bezeichnen, die die internationalen Institutionen nicht als Völkermord bezeichnen wollen. Vgl. Yves Ternon, „Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert“, aus d. Franz. v. Cornelia Langendorf. Hamburg (Hamburger Edition) 1996. 3 Insbesondere die vier Genfer Konventionen vom 12. August 1949 und die zwei Zusatzprotokolle von 1977. 4 Die Internationale Konferenz „Protéger les populations dans la guerre“, 2. und 3. Juli 1999, Grande Arche de la Defense, Paris. 5 Resolution Nr. 1025 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 12. Februar 1999.

Le Monde diplomatique vom 11.06.1999, von JACKY MAMOU