09.07.1999

Die Rückkehr der Nationen im postnationalen Zeitalter

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Die Rückkehr der Nationen im postnationalen Zeitalter

IN der Debatte darum, wer heute ein Anrecht auf das Kosovo hat, argumentieren serbische wie albanische Nationalisten mit historischen Ereignissen, die teils bis ins Mittelalter oder gar in die Antike zurückreichen. Niemand scheint zur Kenntnis zu nehmen, daß der Nationalstaat erst vor zweihundert Jahren entstand, ja „erfunden“ und gefestigt werden mußte, wozu man angelegentlich auch auf „ethnische Säuberungen“ zurückgriff. Die Zunahme nationalistischer Bewegungen im heutigen Europa zeigt zum einen, wie wenig das politische Denken den Anforderungen der Gegenwart gewachsen ist, und zum anderen, wie schwierig es heutzutage ist, neue kollektive Identitäten zu prägen, die mit einem neuen, wahrhaft politischen Projekt verknüpft sind.

Von ANNE-MARIE THIESSE *

„Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden einmal enden. Die europäische Konföderation wird wahrscheinlich an ihre Stelle treten.“1 Diese Vorhersage, die Ernest Renan vor mehr als hundert Jahre traf, könnte heute Wirklichkeit werden, wenn die politische Situation Europas am Ende dieses Jahrhunderts nicht so widersprüchlich wäre. Während die Europäische Union inzwischen konsolidiert ist und somit einer Überwindung des Nationalstaats nichts mehr im Wege stünde, gewinnen vielerorts nationalistische Bewegungen an Einfluß – nicht nur in den ehemals kommunistischen Ländern, sondern auch in westeuropäischen Staaten wie Spanien, Belgien und Großbritannien.

Der Erneuerungsidee der EU droht eine doppelte Gefahr: Zum einen steht der ausgeprägten nationalen Identität vieler Mitgliedstaaten keine starke europäische Identität gegenüber, zum anderen besteht die Tendenz zur Auflösung in Mikronationen. Wenn es bei den Europawahlen um die Alternative ging, ob wir in Zukunft ein supranationales Europa oder ein Europa der Nationalstaaten wollen, dann lauten die entscheidenden Fragen: Was muß (im ersten Fall) getan werden, damit ein „europäisches Volk“ entsteht, auf das sich die supranationale Souveränität gründen kann; und nach welchen Kriterien soll (im zweiten Fall) die Zahl und Zusammensetzung der die Union bildenden Nationalstaaten festgelegt werden?

Die Nationen sind viel jünger, als die offizielle Geschichtsschreibung glauben machen will. Vor der ideengeschichtlichen Revolution des 18. Jahrhunderts, die das Volk zum Souverän erhob, kann von Nation im modernen, also im politischen Sinn keine Rede sein. Unter Nation verstand man seither eine breite Gemeinschaft, die weder von einem gemeinsamen Monarchen noch von einer gemeinsamen Religions- oder Standeszugehörigkeit zusammengehalten wurde. Eine Nation ist unabhängig von den Wechselfällen der dynastischen oder militärischen Geschichte. Dieser ungeheuer subversive Gedanke, der den Weg ins demokratische Zeitalter ebnete, hat jedoch seinen Preis: Die Zukunft legitimiert sich fortan als Fortsetzung der Vergangenheit.

Um vom Europa der Fürsten zum Europa der Nationen überzugehen, mußten sehr verschiedenartige Bevölkerungsgruppen davon überzeugt werden, daß sie trotz ihrer offenkundigen Unterschiede eine gemeinsame Identität besaßen und daß diese Identität eine Basis für gemeinsame Interessen bildete. Das war durchaus nicht selbstverständlich. Daß ein preußischer Junker und ein bayerischer Handwerker, ein ungarischer Adliger und sein Bauer, ein Bürger aus Florenz und ein kalabresischer Schäfer eine gemeinsame Identität haben sollten, lag im Jahr 1800 mitnichten auf der Hand. Jedenfalls schien eine derartige Identität weit weniger garantiert zu sein als eine auf Zugehörigkeit zu einem Stand, zu einer Religion oder zu einem geographisch definierten Raum gründende Identität. Die Entstehung der Deutschen, der Ungarn oder der Italiener setzte daher das Postulat einer jeweils gemeinsamen Abstammung voraus, die sich von Generation zu Generation naturgemäß tradierte.

Es ist heute Usus, zwischen „französischem“ und „deutschem“ Nationenbegriff zu unterscheiden, wobei ersterer auf dem freien und vernunftbegründeten Beitritt der Individuen zu einem politischen Gemeinwesen basiert, während der zweite die determinierte Zugehörigkeit zu einem organischen Ganzen favorisiert. Im Zuge der Nationengründungen in Europa spielten jedoch beide Aspekte ineinander, wobei je nach politischem und gesellschaftlichem Kontext die Gewichtung der Aspekte variierte. In den französischen Schulen wurden die Schüler nicht nur in staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten unterwiesen, sondern man vermittelte ihnen die Geschichte ihres Landes als zweitausendjährige einheitliche Nationalgeschichte ohne Berücksichtigung jeglicher regionaler Eigenentwicklungen.

Charakteristische Landschaftsbilder und Wappentiere

PARADOXERWEISE also eint die Europäer heute vielleicht nichts so sehr wie die Tatsache, daß sich alle Vorfahren in den letzten zweihundert Jahren bemüht haben, sich eine je eigene nationale Identität zu kreieren; so unterschiedlich die Definitionen auch waren: Das Ziel war gleichartig. Die symbolischen und materiellen Grundelemente wahrer Nationen sind schnell aufgelistet: eine Geschichte, die die Kontinuität der Nation durch die Jahrhunderte bezeugt; eine Reihe von Nationalhelden, die die nationalen Werte inkarnieren; eine eigene Sprache; eigene Kulturdenkmäler, gemeinsame Bräuche und Orte des Gedenkens, eine charakteristische Landschaft, eine besondere Mentalität sowie vorzeigbare Identifikationselemente: Trachten, kulinarische Spezialitäten, ein Wappentier.

All jene Nationen, die in jüngster Zeit die politische Anerkennung erhalten haben, und besonders jene, die noch darum kämpfen, argumentieren just mit den obigen Grundelementen und beweisen so, daß die obige Liste der „Identitätsmerkmale“ sich als verbindlich durchgesetzt hat. Um 1800 jedoch lagen für die Kreation jener „vorgestellten Gemeinschaften“, wie Benedict Anderson sie nennt2 , nur erste Entwürfe vor. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten die europäischen Intellektuellen der verschiedenen Nationen durch wechselseitige Beobachtung, Nachahmung, Ideen- und Wissenstransfer jenes gemeinsame Modell der Identitätsbildung heraus. Aus diesem Handel mit Symbolen gingen die ersten liberal geprägten Nationalgeschichten, der Begriff der historischen Denkmäler, die Konzeption volkskundlicher Sammlungen und das Interesse für charakteristische Landschaftsbilder hervor.

Auch die Herausbildung der Nationalsprachen, die nach und nach die bunte Vielfalt regionaler Dialekte ersetzten, erfolgte im wesentlichen nach ein und demselben Verfahren. Für Nationen, die aufgrund politischer Entwicklungen zunächst ein Defizit an autochthonen Intellektuellen aufwiesen, gab es sogar „Identitätshilfe“: Deutsche, französische, englische und russische Gelehrte leisteten den jungen Balkanvölkern, die nach Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich strebten, bei der Begründung ihrer nationalen Identität argumentativen Beistand. Die Herausbildung eines südslawischen Kulturerbes und der serbokroatischen Sprache geschah unter tätiger Mithilfe österreichischer und deutscher Gelehrter – darunter dem bekannten Philologen Jacob Grimm. Der französische Gelehrte Claude Fauriel suchte kurz nach dem Massaker auf Chios (1822) zu beweisen, daß die modernen Griechen durchaus eine eigenständige nationale Identität besäßen und ihr Kulturerbe unzweifelhaft auf die Griechen der Antike zurückgehe. Ein derartiges Engagement der europäischen Intellektuellen mag befremdlich erscheinen, doch mindestens bis 1848 war der Kampf um den Nationalstaat und die Ausbildung einer nationalen Identität untrennbar verknüpft mit dem Kampf um Freiheit und Moderne, gegen den Absolutismus und die Überreste der Feudalherrschaft. Man erachtete jeden Fortschritt, wo immer er standfand, als Segen für alle.

Die Perspektive änderte sich, als der Kampf so gut wie gewonnen schien und die Forderungen nach unabhängigen Staaten auf nationaler Grundlage kurz vor ihrer Erfüllung standen. Denn nun tauchte ein konkretes Problem auf: Wie definierte man das Hoheitsgebiet einer Nation, wie ihre Grenzen? Im Unterschied zu König- und Kaiserreichen können sich Nationalstaaten nicht auf ein Recht des Eroberers berufen. Sie können ihre Gebietsansprüche lediglich damit rechtfertigen, daß bereits die Vorfahren diesen Boden besaßen. Keine Nation, die diese Bezeichnung verdient, präsentiert sich freiwillig als eine Nation, die ihre Nachbarnation angreift; sie beruft sich vielmehr – ob glücklos oder erfolgreich – auf ihr unveräußerliches Erbe und auf ihre Freiheitsrechte (weshalb Nationen ebensosehr ihrer Niederlagen wie ihrer Siege gedenken können).

Also bemüht man die Geschichte, die Ethnographie und die Philologie, um den nationalen Besitzanspruch auf dieses oder jenes Gebiet zu begründen, auf dem im Laufe der Zeit verschiedene Völker neben- oder nacheinander gelebt haben. Bezüglich der Kontroversen um die Neuaufteilung Europas nach dem Ersten Weltkrieg konstatierte der Anthropologe Marcel Mauss in den sechziger Jarhen irritiert: „Es ist fast schon komisch, wie auf der Friedenskonferenz fast unbekannte und kaum untersuchte Volksbräuche als Beweis dafür angeführt wurden, daß sich dieser oder jener Nationalstaat bis hierhin oder dorthin erstrecken müsse, weil sich dort noch eine bestimmte Häuserform oder ein merkwürdiger Brauch wiederfinde.“3 Die Konflikte sind um so komplizierter, als sich nach dem nationalen Prinzip schwerlich bestimmen läßt, ab wann ein Gebietsanspruch verjährt ist, weil der Besitz zu weit zurückliegt. Nur zu leicht sanktioniert man durch solche Daten in Regionen, die zwangsweise entvölkert wurden, letztlich die Eroberung durch eine fremde Armee oder das Eindringen eines fremden Volkes.

Die serbischen Nationalisten etwa beschuldigen die Albaner, sie hätten die Niederlage des Königreichs Serbien gegen die Osmanen genutzt, um sich im Kosovo niederzulassen. Die albanischen Nationalisten wenden dagegen ein, ihre eigenen Vorfahren, die als Gründer der albanischen Nation angeführten Illyrer, hätten das Land schon Jahrhunderte vor der Invasion der Slawen in den Balkan besiedelt. Im Wettbewerb um die ältesten Vorfahren erweiterte sich der Kreis der nationalistisch verwertbaren Wissenschaftsgebiete im 20. Jahrhundert gar um die Archäologie und die physische Anthropologie – so geschehen im Nahen Osten, in der Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern, oder im Streit um den rechtmäßigen Eigentümer Transsylvaniens. Die Rumänen reklamieren als Urahnen die Daker, die nach ihrer Niederlage gegen die Truppen des römischen Kaiserreichs romanisiert wurden und auf den Halbreliefs der Trajanssäule verewigt sind. In der Konstruktion der rumänischen Identität spielt der lateinische Ursprung der Sprache eine entscheidende Rolle; sie wurde von ihren slawischen Bestandteilen gesäubert und ab 1848 mit lateinischen Buchstaben geschrieben. Während die Rumänen darauf beharren, daß ihre Vorfahren das Gebiet einschließlich Transsylvaniens zweitausend Jahre hindurch in ununterbrochener Folge besaßen, bestreiten die Ungarn die Kontinuität zwischen Dakern und Rumänen und behaupten, die Ansiedelung von Rumänen sei erst mehrere Jahrhunderte nach der Niederlassung der ungarischen Vorfahren in Transsylvanien belegt. Der „Dakische Krieg“, der vor zweihundert Jahren begann, wird in akademischen Publikationen und im Internet fortgeführt.

Nach dem Ersten Weltkrieg entstand der Völkerbund, nach dem Zweiten Weltkrieg die UNO. Im einen wie im anderen Fall handelt es sich um einen Zusammenschluß von Nationen, nicht von Staaten, denn die Nation gilt im 20. Jahrhundert weltweit als einzige legitime Grundlage des Staates. Der Kampf gegen die europäischen Kolonialmächte wurde von nationalen Befreiungsbewegungen geführt, und jede sezessionistische Bestrebung innerhalb eines Staats beginnt mittlerweile mit dem Verweis auf die Existenz einer eigenständigen, unterdrückten Nation.

Indes taucht bei der Herausbildung der Nationalstaaten das wesentliche Problem auf, wie eine Übereinstimmung zwischen Staat und Nation zu bewerkstelligen ist. Das „Nationalitätenprinzip“, das seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig bemüht wird, um die politische Aufteilung eines geographischen Raums demokratisch zu legitimieren, ist eine schöne Formel der universalen Ethik, jedoch lenkt es von den wirtschaftlichen und militärischen Kräfteverhältnissen ab, die bei der Entstehung der Nationalstaaten eine wesentliche Rolle spielen. Und selbst wenn dieses Prinzip respektiert würde, wäre die wesentliche Frage noch immer nicht gelöst, denn jeder staatliche Raum ist a priori heterogen und umfaßt Bevölkerungsgruppen, die auf eine unterschiedliche nationale Zugehörigkeit verweisen können.

Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten, einen Staat national zu vereinheitlichen. Die brutalste Methode besteht in der Vertreibung der sogenannten nationalen Minderheiten. Die tragischen „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien sind das jüngste Beispiel dieses in unserem Jahrhundert so häufig angewandten Vorgehens. Man denke nur an den massiven „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg, an die Ausweisung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg – als Antwort auf die Eingliederung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ in Nazi-Deutschland – und vor allem an den Hitlerschen Plan eines „judenfreien“ Deutschlands. Auch die heutigen rechtsextremistischen Parteien stehen in dieser Tradition, wenn sie die Ausweisung der Arbeitsimmigranten als nationale Rettungsoperation propagieren.

Zur Homogenisierung der Nationalstaaten finden sich in der Geschichte auch andere Wege: zum Beispiel die Existenz unterschiedlicher Nationalitäten abzustreiten und der betroffenen Bevölkerung – im Zweifelsfall unter Ausübung von Zwang – das Gefühl einzureden, zu einem gemeinsamen Ganzen zu gehören. Als Druckmittel verweigerte man teilweise die grundlegendsten demokratischen Rechte – etwa im Falle der Magyarisierung der oberungarischen Slowaken in Österreich-Ungarn im Anschluß an den Ausgleich von 1867, oder im Falle der Unterdrückung der regionalen Autonomiebestrebungen im franquistischen Spanien, bzw. vor kurzer Zeit im Falle der „Zwangsbulgarisierung“ der türkischen Minderheit durch das dahinsiechende kommunistische Regime in Sofia, bei der die Menschen sogar zur Namensänderung gezwungen wurden.

In den demokratischen Staaten erfolgte die Eintrichterung des Nationalgedankens physisch weniger brutal, meist mittels langfristiger massenpädagogischer Maßnahmen. Dabei spielte die Schule eine zentrale Rolle, doch die Bemühungen um eine Homogenisierung durchtränkten auch den Alltag der Menschen, die Arbeit wie die Freizeit (insbesondere den Sport). In steigendem Maße wurde im 20. Jahrhundert die kollektive Identität in öffentlichen Feierlichkeiten inszeniert. Doch auch wenn die Homogenisierung die Vielfalt nicht verleugnet, schafft sie doch eine hierarchische Abstufung der Integration: Alles, was auf gesamtstaatlicher Ebene stattfindet, fällt in den Zuständigkeitsbereich der Nation, während jede lokale Besonderheit Sinn und Legitimität nur in lokalem Rahmen stiftet.

Als im 19. Jahrhundert in der Bretagne oder im südfranzösischen Okzitanien Ansätze einer eigenständigen nationalen Identität entworfen wurden, lehnte man sich eng an das gemeinsame europäische Modell an (Kodifizierung der Sprache, Behauptung einer kontinuierlichen und eigenständigen Nationalgeschichte, Aufwertung von Kultur- und Geschichtsdenkmälern). Da der wirtschaftliche, politische und soziale Kontext jedoch wenig Aussicht auf Erfolg verhieß, wurden die entsprechenden Charakteristika als schätzenswerte, jedoch untergeordnete Bestandteile der nationalen (französischen) Identität integriert.4 Die Gewalt, die bei dieser Art der Homogenisierung ausgeübt wird, ist eher eine symbolische, da die lokalen Identitäten nicht ausgerottet, sondern degradiert werden. Daß diese Form der Gewalt am Ausgang des 20. Jahrhunderts mitunter als „kultureller Völkermord“ angeprangert wird, der auf Wiedergutmachung dränge, zeugt in erster Linie von einer allgemeinen Vertrauenskrise in die Fähigkeit der bestehenden Nationalstaaten, die Rechte der Bürger zu sichern.

Die Nation war als laizistische Bruderschaft entworfen worden, die beschützende Instanz, Garant demokratischer Rechtsansprüche und zugleich höchstes Ideal sein sollte, dem man nötigenfalls auch sein Leben opferte. Im Zuge der industriellen Revolution, deren Anfänge in die Geburtsstunde des Nationenprinzips fielen, sind jedoch neue soziale Gruppen und konkurrierende politische Vorstellungen entstanden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine neue kollektive Identität geschaffen: der klassenbezogene Internationalismus als Gegenstück zur klassenübergreifenden Nationenidee. Aus diesem Antagonismus, der eine der Hauptachsen der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts bildet, ist die Nation offenbar als Siegerin hervorgegangen. Dies zeugt zweifellos vom Scheitern der verschiedenen Versuche, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsweise zu ersetzen. Es zeigt jedoch auch, welche Kraft die Idee der nationalen Solidargemeinschaft besitzt, da sie dem einzelnen einen Platz sichert, der nicht ausschließlich durch seinen wirtschaftlichen Status bestimmt ist.

Die demokratischen Nationalstaaten bildeten den Rahmen, in dem neue, von der öffentlichen Gewalt garantierte Bürgerrechte erlangt und eine gewisse Umverteilung des Reichtums gefordert werden konnten. Nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, da die Globalisierung des Kapitalismus dem Staat die Kontrolle über Produktion und Verteilung des Reichtums streitig macht, erscheint die Nation als Zufluchtsort, ihr mögliches Verschwinden bedroht scheinbar sowohl den sozialen Zusammenhalt wie die Existenzgrundlage der Ärmsten.

Während der Nationalismus in Europa durch die in seinem Namen begangenen Massaker in den beiden Weltkriegen in Verruf geriet, findet er seit kurzem wieder neue Anhänger. In den Mikronationalismen, die momentan innerhalb der bestehenden Nationalstaaten aufleben, artikuliert sich der Glaube, daß eine auf einem „authentischeren“ Nationalverständnis basierende staatliche Neugründung die Interessen und Rechte der Bürger in Zukunft besser wird schützen können, zumal wenn die betreffende Mikronation auf ihrem Territorium über ein starkes Wirtschaftspotential verfügt. Das Recht der Nationen auf staatliche Selbständigkeit, dem bisher nur wenig Beachtung geschenkt wurde, könnte gerade auf dem Alten Kontinent eine ungeahnte Zahl kleiner Nationen und nationaler Minderheiten hervorbringen: Heutzutage ist der Bauplan für nationale Identitäten hinreichend verfeinert, um rasch umgesetzt werden zu können, wie in Italien Umberto Bossis Erfindung der Region „Padanien“ zeigt.

Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks mußte in den Staaten Osteuropas eiligst ein neues soziales Band geknüpft werden – die Grundlage für eine Zivilgesellschaft, für ein neues Verständnis von Gemeinwohl und zur Legitimation der Staatsgewalt. Hierbei bot es sich an, auf den Nationengedanken zurückzugreifen, der eine demokratische Entwicklung zu eröffnen schien. Doch es erwies sich, daß derlei Ideen ebensogut als Flucht nach vorne einsetzbar sind, da die nationalistischen Haßgefühle das Wirtschaftsfiasko, die kriminelle Durchsetzung des öffentlichen Lebens ebenso wie die dramatische Verarmung der Bevölkerung kaschierten. Die kommunistischen Regime hatten diese Katastrophe in den letzten Jahrzehnten ihrer Herrschaft unmittelbar befördert, indem sie die Forderungen nach Demokratisierung durch das Schüren nationalistischer Leidenschaften unterdrückten, weshalb Ceausescus Rumänien und Enver Hoxhas Albanien zunehmend als nationalkommunistische Regime bezeichnet wurden.5

Auch die Nationen sind nichts Ewiges, und vielleicht offenbart die derzeitige Erstarkung des Nationalismus in erster Linie den zeitlichen Rückstand des Politischen gegenüber dem Ökonomischen. Die Nation in ihrer modernen Bedeutung entstand im Zuge eines tiefgreifenden wirtschaftlichen und technologischen Wandels. Sie hielt eine Gesellschaft zusammen, die im vollständigen Wandel begriffen war, und sie erlaubte es dieser Gesellschaft, sich im Politischen und Sozialen so neu zu organisieren, daß sie dem Wandel gewachsen war. Für den derzeitigen Wandel ist die Nation zweifellos kein angemessenes Konstrukt, was nicht weiter tragisch ist, solange eine neue Kraft entsteht, die die Gesellschaften zusammenhält und eine demokratische Verfaßtheit garantiert. Denn Demokratie ist im Wirtschaftsleben der Zukunft keineswegs automatisch impliziert. Wir alle hoffen, daß die Unterwerfung unter die Kräfte des Markts nicht unser unausweichliches Schicksal ist. Die Geschichte der Nationen aber zeigt, daß die Herausbildung einer kollektiven Identität eines aktiven Engagements und einer politischen Idee bedarf.

dt. Bodo Schulze

* Autorin von „La création des identités nationales: Europe XVIIIe-XXe siècle“, Paris (Le Seuil) 1999.

Fußnoten: 1 Ernest Renan, „Was ist eine Nation?“, Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne, Hamburg (Europäische Verlags-Anstalt) 1996. 2 Benedict Anderson, „Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts“, Frankfurt/Main (Campus) 1996. „Vorgestellte Gemeinschaft“ meint hier, daß nicht jeder jeden kennt, im Gegensatz z.B. zu den dörflichen Face-to-Face-Kontakten. 3 Marcel Mauss, „Nations, nationalités, internationalisme“, Ouvres, Paris 1969. 4 Vgl. Anne-Marie Thiesse, „Ils apprenaient la France. L'exaltation des régions dans le discours patriotique“, Paris (Editions de la maison des sciences de l'homme) 1997. 5 Vgl. Pierre und Bruno Cabanes, „Passions albanaises, de Berisha au Kosovo“, Paris (Odile Jacob) 1999; Catherine Durandin, „Histoire des Roumains“, Paris (Fayard) 1995, S. 8.

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von ANNE-MARIE THIESSE