Ein nuklearer Schatten über Kaschmir
SEIT Indien und Pakistan im Mai 1998 offiziell den Status von Atommächten erlangt haben, stellt sich die Frage, ob das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden südasiatischen Großmächten funktionieren wird. Es ist schwer zu definieren, wo in einem konventionellen Konflikt die Schwelle für die Entscheidung liegen würde, das nukleare Feuer zu entfesseln. Angesichts der heftigen Spannungen in Kaschmir sind diese Fragen neu aufgeworfen worden. Der militärische Konflikt erscheint um so bedrohlichr, als zwei schwache Regierungen gegeneinander antreten, die beide im eigenen Land unter Druck geraten sind und folglich versucht sein könnten, die Krise politisch auszunutzen.
Von NEGARAJAN V. SUBRAMANIAN *
Seit über einem Jahrzehnt kommt es in jedem Frühjahr, nach der Schneeschmelze, zwischen Indien und Pakistan zu verlustreichen Gefechten in Kaschmir.1 Doch der zur Zeit tobende Konflikt – ausgelöst durch schwerbewaffnete, von Pakistan unterstützte separatistische Muslim- Einheiten, die über die Demarkationslinie2 ins gegnerische Gebiet vordringen – ist keineswegs zu vergleichen mit den Vorkommnissen der Vergangenheit. Tatsächlich hat er bereits Hunderte Tote und Verletzte gefordert, seit Indien Ende Mai im Bergland von Ladakh (Bundesstaat Jammu und Kaschmir) oberhalb der Straße Srinagar-Leh, die zum Siachen- Gletscher im Himalaya führt, umfassende Luft- und Bodenoffensiven startete.
Die in über 5000 Meter Höhe gelegene Straße folgt ungefähr dem Verlauf der Demarkationslinie, ohne sich allerdings je mit ihr zu decken. In diesem Bereich sind auf beiden Seiten der Linie permanent reguläre Einheiten stationiert: auf pakistanischer Seite zwei Brigaden, die dem Kommando der nördlichen Zone (FCNA) unterstehen, auf indischer Seite eine Brigade, deren Stützpunkte im Mashkoh-Tal – in Drass, Kaksar, Kargil und Batalik – liegen. Seit 1949 hat keine der beiden Armeen die Waffenstillstandslinie verletzt, allerdings war es durchaus an der Tagesordnung, daß die indischen Stellungen und die Straße Srinagar-Leh von pakistanischer schwerer Artillerie unter Dauerbeschuß genommen wurden. Im Winter, wenn die Temperaturen auf unter 40 Grad unter Null sinken, wurden die vordersten Posten üblicherweise geräumt.
In den vergangenen Monaten war es den pakistanischen Eindringlingen aufgrund der frühen Schneeschmelze gelungen, jenseits der Demarkationslinie, im Mashkoh-Tal, Militärposten, Bunker und Hubschrauberlandeplätze zu besetzen.
Die indische Regierung behauptet, es handele sich um pakistanische Freiwillige aus vier paramilitärischen Bataillonen der leichten Infanterie des Nordens, die von Spezialeinheiten unterstützt werden. Nur in monatelangen Bodenkämpfen wäre das Terrain zurückzuerobern, denn die Einheiten, die es besetzt halten, haben sich dort gut verschanzt und sind mit amerikanischen Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger ausgerüstet, die aus dem Afghanistankrieg stammen. Tatsächlich ist die Beschaffenheit des Geländes für Lufteinsätze ungeeignet (Indien hat in den ersten Tagen der Auseinandersetzung bereits zwei Kampfflugzeuge, ein Aufklärungsflugzeug und einen Hubschrauber verloren), und in Neu-Delhi geht denn auch niemand davon aus, daß die eingedrungenen Einheiten sich mit Einbruch des Winters freiwillig zurückziehen werden. Da mit einem pakistanischen Rückzug also nicht zu rechnen ist, wird man sich wohl auf einen dauerhaften Konflikt mit unabsehbaren Konsequenzen gefaßt machen müssen.
Das mehrheitlich von Muslimen bevölkerte Kaschmir wurde 1949, am Ende des ersten indisch-pakistanischen Kriegs, geteilt (siehe Kasten). Seitdem hat Pakistan das Territorium immer wieder für sich beansprucht und den Konflikt zu internationalisieren versucht, vor allem durch die Forderung nach einem Plebiszit unter der Aufsicht der Vereinten Nationen, was von Indien kategorisch abgelehnt wird. Im Abkommen von Shimla, das 1972 von Indira Gandhi und Zulfikar Ali Bhutto unterzeichnet wurde, verpflichteten sich beide Länder, den territorialen Konflikt auf friedlichem Wege zu lösen. Kaum zurück aus Shimla, rief Bhutto allerdings das pakistanische Atomprogramm ins Leben, von dem er sich einen Abschreckungseffekt gegenüber Indien versprach; außerdem glaubte er, es werde ein für die Regelung der Kaschmirfrage günstiges Kräfteverhältnis schaffen. Fünfzehn Jahre später, 1987, besaß Pakistan seinen ersten Atommeiler und unterstützte die Gründung einer Aufstandsbewegung, die dann ab 1990 in Kaschmir auf spektakuläre Weise in Aktion trat.3
Die Erfahrungen, die der pakistanische Nachrichtendienst (Inter Services Intelligence/ISI) in Afghanistan zur Zeit des „Dschihad“ gegen die Sowjetunion gesammelt hatte, kamen ihm nun in Kaschmir zugute. Ab Beginn der neunziger Jahre gewannen militante islamistische, propakistanische Gruppen wie die Hisb ul-Mudschaheddin die Oberhand gegenüber anderen traditionalistischen Unabhängigkeitsbewegungen wie der Jammu and Kashmir Liberation Front.
Der Besitz von Kernwaffen brachte die pakistanische Führung zu der Überzeugung, Indien könne den separatistischen Offensiven nicht länger durch die Ausweitung konventioneller Kriegshandlungen Einhalt gebieten.4
Gleich in den ersten Tagen des Konflikts ließen Premierminister Nawaz Sharif und sein stellvertretender Außenminister Shamshad Ahmed verlauten, Pakistan werde, falls nötig, bei einer Ausweitung des Konflikts alle ihm zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen. Auch wenn sie später dementierten, damit die Möglichkeit eines Einsatzes von Kernwaffen gemeint zu haben, so ist diese Absage doch selbst Teil der nuklearen Abschreckungslogik: Sie verweist auf die Existenz einer atomaren Bedrohung.
Obwohl der indische Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee offenbar nicht bereit ist, sich in einen konventionellen Krieg größeren Ausmaßes hineinziehen zu lassen – mit allen Eskalationsrisiken, die dies nach sich ziehen würde –, schließt der Generalstab die Möglichkeit einer Ausweitung des Konflikts nicht aus. So könnte etwa, nach dem Vorbild von 1965, im pakistanischen Punjab oder im Sindh eine zweite Front eröffnet werden. Damals drangen die indischen Streitkräfte erfolgreich in Pakistan ein, um dessen Offensive in Kaschmir zu stoppen.
Nach Ansicht eines hochrangigen Offiziers in Neu-Delhi, der dafür plädiert, die Kampfhandlungen ins innere Pakistan hineinzutragen, ist „Frieden oder Atomkrieg“ die falsche Alternative: „In einer Situation des atomaren Ungleichgewichts“, sagt dieser Militär, der auf seiner Anonymität besteht, „erpreßt der stärkste Protagonist den schwächsten. Doch in einer Situation des Gleichgewichts kann es nur die garantierte gegenseitige Zerstörung geben.“ Mit anderen Worten, ein konventioneller Krieg größeren Ausmaßes würde nicht automatisch zu einem atomaren Schlagabtausch führen. Andere Experten gehen sogar noch weiter. Anfang Mai entwarfen hohe Beamte aus dem Stab des Ministerpräsidenten folgendes Szenario: Mit der Ausweitung des Kriegs kommt es zu einem begrenzten atomaren Erstschlag seitens der Pakistaner (zwei Atomsprengköpfe), auf den als Vergeltungsmaßnahme ein indischer Angriff mit absolut vernichtender Wirkung folgt.
Ist es tatsächlich denkbar, daß Indien sich im Schutz seiner Abschreckungsstreitmacht auf einen großangelegten konventionellen Krieg vorbereitet? Die indische Luftwaffe ist jedenfalls in höchster Alarmbereitschaft, vor allem jene Einheiten, die strategische Bombardierungen ausführen sollen. Vor neun Jahren erklärte Raja Ramanna, damals Stellvertretender Verteidigungsminister und einer der Väter der ersten indischen Atomwaffe, im Parlament, Indien werde seine Kernwaffen niemals zuerst einsetzen, wohl aber die Herausforderung annehmen, falls einer seiner Nachbarn sich ihrer bedienen sollte. Der Tenor hat sich seither nicht geändert. Nach einer vom Ministerpräsidenten geleiteten Sitzung des National Security Council, der Strategic Policy Group und des National Advisory Board am 30. Mai 1999 hieß es im gemeinsamen Kommuniqué: „In der ständig sich ändernden Situation von heute muß Indien auf jede Eventualität vorbereitet sein.“5
Pakistan fehlen Verbündete
DER indische Generalstab ist zur Zeit damit beschäftigt, die pakistanische Doktrin genau unter die Lupe zu nehmen und verschiedene Einsatzoptionen zu erarbeiten. Würde eine Invasion bis zum Ichyogal-Kanal in der Nähe von Lahore oder ein Vordringen nach Rahimayar Khan im Punjab einen atomaren Gegenschlag auslösen? Weitere Optionen wären die Bombardierung von Militärbasen auf der pakistanischen Seite der Demarkationslinie oder die Einnahme von Muzaffarabad; es gäbe auch noch weit schwerer wiegende Maßnahmen, etwa die Abspaltung des Sindh vom Punjab, die Annektierung von Sialkot, die Zerstörung des Hauptquartiers des Kommandos der nördlichen Zone in Gilgit oder auch ein Angriff auf Skardu.
Bislang hat man sich offenbar noch auf keine dieser Optionen festgelegt, und die indischen Streitkräfte drängen zur Zeit auch nicht auf ihre Umsetzung. Der Ministerpräsident selbst hat nicht erkennen lassen, daß er den mit seinem Amtskollegen Nawaz Sharif im Februar 1999 eingeleiteten Friedensprozeß für endgültig gescheitert hält. Doch Atal Behari Vajpayee weiß auch, daß zu dem Zeitpunkt, als er mit dem pakistanischen Premierminister das Protokoll über vertrauensbildende Maßnahmen unterzeichnete, die pakistanische Armee jene Operation vorbereitete, die beide Länder nun an den Rand eines Kriegs geführt hat. Innerhalb des Generalstabs ist eine Verhärtung der Positionen zu spüren: Man darf schließlich nicht vergessen, daß Indien in den letzten zehn Jahren des Kaschmirkonflikts mehr Soldaten verloren hat als in seinen diversen offenen Kriegen mit Pakistan.
Sollte die pakistanische Regierung in den kommenden Wochen keinerlei Zeichen der Deeskalation erkennen lassen, wäre es denkbar, daß die indischen Streitkräfte die pakistanische Entschlossenheit mit offensiven Maßnahmen auf die Probe stellen werden. Kann sich Pakistan in dieser Auseinandersetzung auf seine traditionellen Verbündeten – die Vereinigten Staaten und China – verlassen? Washington hat beide Seiten aufgefordert, die Demarkationslinie zu respektieren. Damit erhält diese eine neue Legitimität, die Pakistan in Abrede stellt; gleichzeitig hat die amerikanische Position die Versuche Pakistans durchkreuzt, Parallelen zwischen dem Kaschmir- und den Kosovokonflikt zu ziehen.
Ebensowenig wie die Amerikaner scheinen die Chinesen bereit, sich auf die Seite Pakistans zu stellen. Immerhin hatte – daran sei in diesem Zusammenhang erinnert – der chinesische Präsident Jiang Zemin 1996 Pakistan empfohlen, den Kaschmirkonflikt in bilateralen Verhandlungen zu lösen. Nach den indischen Atomwaffentests vom 11. bis 13. Mai 1998 gab Peking der pakistanischen Regierung den Rat, nicht in den atomaren Wettlauf einzutreten, sondern sich statt dessen das Wohlwollen des Westens zu sichern und damit genügend konventionelle Waffen zu erhalten, um das Gleichgewicht der Kräfte in der Region wiederherzustellen. Diesem Rat ist Pakistan nicht gefolgt.
Wird die Diplomatie den Ausschlag geben? Innerhalb der indischen Regierung gehen zahlreiche Kräfte davon aus, daß die pakistanischen Streitkräfte aus eigener Initiative losgeschlagen haben. Doch angesichts der aktuellen Dynamik setzt man in Neu-Delhi weniger auf Diplomatie als auf schlagkräftige militärische Aktionen, die möglicherweise die Grenzen der atomaren Abschreckung aufzeigen werden.
dt. Matthias Wolf
* Journalist, Neu-Delhi.