09.07.1999

WENN DIE ARTENVIELFALT ZUR WARE WIRD

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WENN DIE ARTENVIELFALT ZUR WARE WIRD

Pharming statt Landwirtschaft

Von JEAN-PAUL MARÉCHAL *

EINER der beunruhigendsten Aspekte der globalen Umweltkrise ist der Rückgang der Artenvielfalt. Der tägliche Artenverlust wird auf 50 bis 300 Tier- und Pflanzenarten geschätzt.1 Die „Rote Liste“ der Internationalen Union zum Schutz der Natur und der natürlichen Ressourcen (IUCN) aus dem Jahr 1997 gibt an, daß weltweit 11 Prozent der Vögel, 20 Prozent der Reptilien, 25 Prozent der Amphibien, 25 Prozent der Säugetiere und 34 Prozent der Fische vom Aussterben bedroht sind.2

Solche Zahlen sind zwar beeindruckend, doch über die qualitative Zerstörung des globalen Ökosystems durch den expandierenden Produktionssektor sagen sie nur wenig aus. Denn der Begriff „biologische Vielfalt“ ist keineswegs ein rein quantitativer Indikator. 1985 von Walter G. Rosen geprägt, bezeichnet er insgesamt drei Kategorien von Biodiversität – die Vielfalt der Gene innerhalb einer Spezies, die Vielfalt der Arten selbst und die Vielfalt der Ökosysteme – sowie auch die Wechselwirkungen zwischen diesen Kategorien. Der Begriff weist also, wie Robert Barbault festgestellt hat3 , über das Feld der Naturwissenschaften hinaus und berührt die Humanwissenschaften. Dort entdeckt der Mensch, daß er sich parasitär verhält und zur Schwächung der Biosphäre beiträgt, daß er aber zugleich für die Vielfalt des ihn umgebenden Lebens verantwortlich ist.

Doch neben dem kontinuierlichen Artenverlust ist das Ökosystem auch durch die beschleunigte Ausdehnung eines neuen technologisch-ökonomischen Systems bedroht. Dieses bezieht seine Durchsetzungskraft aus der Wechselwirkung zwischen dem globalen und völlig ungezügelten Markt und einem Geflecht interagierender Technologien wie Informatik, Robotik, Telekommunikation und Biotechnologien.4

In seinem Buch „Das biotechnische Zeitalter“5 bezeichnet Jeremy Rifkin die Ausbreitung der Biotechnologien als die zweite industrielle Revolution. Hinter den derzeitigen Veränderungsprozessen sieht er die Herausbildung eines mächtigen Komplexes, der durch die Konvergenz von genetischer und elektronischer Revolution entstanden ist und sich aus Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft zusammensetzt. Diese Konvergenz führt uns mit großen Schritten in ein „biotechnisches Zeitalter“, das sich durch neuartige Eingriffsmöglichkeiten in die Natur auszeichnet, wie z.B. die Herstellung einer „bioindustriellen“ Fauna und Flora.

Die Biotechnologien – die „Gesamtheit aller Techniken, die der industriellen Verwertung von Mikroorganismen, tierischen und pflanzlichen Zellen und ihrer Bestandteile dienen“6 – werden in der Nahrungsmittelindustrie genauso angewandt wie im Pharmabereich, in der chemischen Industrie und in einer ganzen Reihe anderer Produktionszweige. Denn ebenso wie bei der Informatik handelt es sich bei den Biotechnologien nicht um einen „Sektor“ oder eine „Branche“ im ökonomischen Sinn, sondern um ein breites Spektrum an „fließenden“ Techniken7 , die das gesamte technologische System zu durchdringen vermögen und in einer Vielzahl von Bereichen auf unterschiedliche Weise angewandt werden.

Die Herstellung von transgenen Pflanzen und Tieren, von Medikamenten, Impfstoffen und medizinischen Diagnosetests ist nur ein schwacher Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Ein Teil der Forschung konzentriert sich bereits auf das sogenannte Pharming – die Wortschöpfung bezeichnet das Zusammengehen von Landwirtschaft und Pharmazie – d.h. auf die Verwandlung von Nutztieren in Produktionsstätten für Medikamente und Nährsubstanzen. Überdies wird durch Klonen und Genmanipulation bald die Herstellung streng standardisierter Tiere möglich sein, die genauen bioindustriellen Normen entsprechen. Solche Tiere werden für den Verzehr oder als Organproduzenten für Transplantationen entwickelt.8 Doch die Biotechnologien werden auch dort angewandt, wo man es nicht erwarten würde, beispielsweise in der Umweltentgiftung, der Kunststoffproduktion und sogar in der Erzgewinnung.

Ein derartiger Innovationsboom weckt erhebliche Profiterwartungen. Allein die Gewinne aus dem Geschäft mit der Gentechnik, die derzeit auf 20 bis 30 Milliarden Dollar geschätzt werden, sollen bis zum Jahr 2005 auf 110 Milliarden angewachsen sein. Der US-amerikanische Markt für transgene Pflanzen soll nach Angaben des Monsanto-Konzerns im selben Jahr ein Umsatzvolumen von 6 Milliarden Dollar erreichen.9

Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, daß Industrieriesen wie Monsanto, Novartis, Rhône-Poulenc, Pioneer-Dupont oder Lafarge-Coppée ein starkes Interesse an diesem neuen Marktsegment haben. Bei der Umstrukturierung von Firmen gewinnt der Chemiesektor immer mehr an Bedeutung. Die historische Grundtendenz des Kapitalismus zur Kapitalkonzentration zeigt sich hier besonders deutlich, wobei die USA eine Vormachtstellung einnehmen. Die Forschung im Bereich landwirtschaftlicher Biotechnologie wird von fünfzehn großen Privatkonzernen kontrolliert, von denen dreizehn US-amerikanisch sind und ganze zwei aus Europa.

Die Gene sind offenbar das „grüne Gold“ des 21. Jahrhunderts. Die Firmen des genetisch-industriellen Komplexes versuchen, sich der Kontrolle über dieses grüne Gold, über Ressourcen und Entwicklungsverfahren zu bemächtigen, wie multinationale Konzerne das schon immer getan haben. Nur daß es diesmal nicht mehr um bestimmenden Einfluß auf die Erzgewinnung oder die Kontrolle von Handelsstrukturen geht, sondern um den Zugriff auf den Genbestand selbst. Was lange ein irrwitziges Projekt zu sein schien, wird nun durch die Ausdehnung des Patentrechts auf die lebende Welt machbar.

Die genetischen Ressourcen gehören dem Staat

DER Oberste Gerichtshof der USA bestätigte erstmals 1980 die Gültigkeit eines Patents auf eine genmanipulierte Bakterie. 1987 erklärte das Patents and Trademark Office (PTO, die US-amerikanische Entsprechung zum deutschen Patentamt), daß grundsätzlich alle mehrzelligen Lebewesen, auch Tiere, patentierbar seien. Ein Jahr später vergab das PTO ein Patent auf ein Säugetier – eine Maus mit einem implantierten menschlichen Gen, das sie für Krebs anfällig machte. Seitdem sind noch weitere Tiere patentiert worden. Im Rahmen der Abschlußverhandlungen zum General Agreement on Tariffs and Trade (Gatt), aus dem 1995 die Welthandelsorganisation (World Trade Organization – WTO) hervorging, wurde diese Erweiterung des Patentsystems festgeschrieben. Catherine Aubertin und Franck- Dominique Vivien fassen sie wie folgt zusammen: „Nicht mehr nur der modifizierte Organismus oder das Verfahren zu seiner Herstellung kann geschützt werden, sondern auch die genetische Information, die er enthält, und alle seine Anwendungsmöglichkeiten.10

Aus dieser Situation ergeben sich zwei verschiedene Konfliktlinien: Die erste verläuft zwischen den multinationalen Konzernen des Nordens auf der einen und den Ländern des Südens auf der anderen Seite. Die Firmen des genetisch-industriellen Komplexes argumentieren, der Patentschutz stelle eine unverzichtbare Voraussetzung für Investitionen im Forschungs- und Entwicklungsbereich dar. Die Länder des Südens, die über den größten Teil der Biodiversität unseres Planeten verfügen, berufen sich hingegen auf die Tatsache, daß dieser Artenreichtum, der die westlichen Firmen so sehr interessiert, oft das Ergebnis jahrhundertelangen traditionellen Anbaus ist. Doch wenn Norden und Süden sich auch über die Rechte am Geldsegen aus der biotechnologischen Revolution streiten, so sind sie sich doch darin einig, daß das Erbgut der Welt als Ware betrachtet werden kann. Eine wachsende Zahl regierungsunabhängiger Organisationen und manche Staaten bestehen hingegen darauf, daß die Erbmasse weiterhin (oder wieder) der gesamten Menschheit gehören soll. Hier verläuft die zweite Konfliktlinie.

Das bisher einzige internationale Schriftstück zum Thema Artenvielfalt ist die Internationale Konvention über die Biologische Vielfalt (Biodiversitätskonvention), die im Juni 1992 im Rahmen des UN-Umweltgipfels in Rio de Janeiro unterzeichnet wurde und am 24. Dezember des Folgejahres in Kraft trat. Am Schluß von Artikel 1 werden folgende Ziele formuliert: „die Erhaltung der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung ihrer einzelnen Elemente und die gerechte Aufteilung der aus der Nutzung genetischer Ressourcen resultierenden Vorteile. Insbesondere soll ein zufriedenstellender Zugang zu den genetischen Ressourcen und ein angemessener Transfer der nötigen Techniken gewährleistet werden, unter Berücksichtigung aller Rechte auf diese Ressourcen und Techniken und mit Hilfe einer adäquaten Finanzierung.“

Wer würde ein Programm, das auf den ersten Blick so vernünftig scheint, nicht unterschreiben? Derjenige vermutlich, dessen Neugier bis zur Lektüre von Artikel 3 reicht. Dieser besagt, daß „die Staaten das souveräne Recht haben, ihre eigenen Ressourcen entsprechend ihren umweltpolitischen Vorgaben zu nutzen“. Oder auch Artikel 15, Absatz 1: „Über den Zugang zu den genetischen Ressourcen entscheiden die jeweiligen Regierungen gemäß ihrer nationalen Gesetzgebung.“ Durch diese Festlegungen spricht sich die Konvention von 1992 klar dagegen aus, die genetischen Ressourcen als Erbe der gesamten Menschheit zu betrachten. Obendrein sieht Artikel 15, Absatz 7 ein Prinzip der Entschädigungszahlungen vor.

Die Konvention kann als eine „rechtliche Übereinkunft“ betrachtet werden, die „der Zerstörung [der Artenvielfalt] ein Ende setzen und den Erhalt und die nachhaltige Nutzung der biologischen Diversität sicherstellen soll“, wie es die Experten von Genetic Resources Action International (Grain) und von der Gaia-Foundation11 tun. Dieser Übereinkunft stellen sie das Abkommen über handelsbezogene Aspekte von Schutzrechten für geistiges Eigentum der Welthandelsorganisation gegenüber. Ihre Analyse ist zwar sehr genau und deshalb auch lesenswert12 , doch sie scheint eher Ausdruck eines Wunschdenkens als eine Vorschau auf künftige Beschlüsse zu sein. Im übrigen sind sich die Verfasser dieses Berichts von Grain und der Gaia-Foundation der Möglichkeit eines Abdriftens in die Marktlogik durchaus bewußt und schließen deshalb auch nicht aus, daß die Konvention von Rio zu einer „rein rechtlichen Charta“ verkommt, „die durch bilaterale Verträge den Gentransfer vom Süden in den Norden regelt“13 . Mit anderen Worten: daß sie das Wettrennen um die Aneignung des Lebens lediglich offiziell absegnet.

Leider deutet alles darauf hin, daß das WTO-Abkommen über handelsbezogene Aspekte von Schutzrechten für geistiges Eigentum und die Biodiversitätskonvention von 1992 sich eher ergänzen als widersprechen. Denn auch die Konvention betrachtet die biologische Vielfalt letztendlich als eine genetische Ressource, aus der möglichst viel Profit geschlagen werden muß. „Indem die Länder des Südens die Konvention unterzeichnen und so erreichen, daß sie ihre Ressourcen zu Geld machen können, erkennen sie faktisch das geistige Eigentumsrecht auf das Leben an, das der Norden definiert hat (...). Die Patentierung ist die Voraussetzung für die Einnahme von Lizenzgebühren. Auf diese Weise werden die genetischen Ressourcen mit allen anderen Rohstoffen gleichgesetzt und als beliebige Handelsprodukte behandelt.“14

Um die ungleichen Kräfteverhältnisse innerhalb des Patentsystems zu verdeutlichen, sei daran erinnert, daß sich nach Angaben der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) Mitte der neunziger Jahre 95 Prozent der Patente aus Afrika, knapp 85 der lateinamerikanischen und 70 Prozent der asiatischen Patente im Besitz von Einzelpersonen und Firmen aus den Industrieländern befanden.15

So wird das in Jahrmillionen biologischer Evolution und Jahrtausenden landwirtschaftlicher Nutzung entstandene Weltnatur- und Weltkulturerbe künftig also der privaten Aneignung ausgesetzt sein, das heißt einem aggressiven Umgang mit der Biosphäre. Die „Freiheit des Handels und der Industrie“, mit anderen Worten die Expansion des Reiches der Ware, erweist sich einmal mehr als unvereinbar mit den Erfordernissen nachhaltiger Entwicklung.

dt. Miriam Lang

* Dozent an der Universität Rennes 2, Haute Bretagne. Verfasser von „Le rationnel et le raisonnable. L'économie, l'emploi et l'environnement“, Presses universitaires de Rennes 1997.

Fußnoten: 1 Die Schätzungen über die Anzahl lebender Arten schwanken zwischen 5 und 50 Millionen. Bisher sind lediglich 1,4 Millionen Arten erfaßt. 990000 davon sind wirbellos, 45000 Wirbeltiere, 36000 Pflanzen und Mikroorganismen. Siehe dazu Alain Zecchini, „La nature en sursis“, Le Monde diplomatique, Oktober 1998. 2 Jean-Marc Lavieille, „Droit international de l'environnement“, Paris (Ellipses) 1998. 3 Robert Barbault, „Biodiversité“, Paris (Hachette) 1997. 4 Jacques Robin, „Changer d'ère“, Paris (Seuil) 1989. 5 Jeremy Rifkin, „Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Genetik“, aus dem Engl. v. Susanne Kuhlmann-Krieg, München (Bertelsmann) 1998. 6 Pierre Douzou, Gilbert Durand, Philippe Kourilsky und Gérard Siclet: „Les Biotechnologies“, Paris (PUF) 1983. 7 Maurice Daumas, „Histoire générale des techniques“, vol. 4., Paris (PUF) 1979. 8 Siehe Jean-Pierre Papart u.a., „Teure Ersatzteile aus der Biotechnologie“, Le Monde diplomatique, März 1999. 9 Catherine Aubertin und Franck-Dominique Vivien, „Les enjeux de la biodiversité“, Paris (Economica) 1998. 10 Ebenda. 11 Grain und Gaia-Foundation, „Commerce mondial et biodiversité en conflit“, Nr. 1, April 1998. (Grain: Girona 25, 08010 Barcelona, Spanien. The Gaia Foundation: 18 Well Walk, Hampstead, London NW3 1LD, Großbritannien). 12 Die Biodiversitätskonvention schließt mit Ausnahme des zweifellos erheblichen Weltkulturerbes keine Form der privaten, öffentlichen oder kollektiven Aneignung aus. 13 Grain und Gaia-Foundation, a. a. O. 14 Catherine Aubertin und Franck-Dominique Vivien, a. a. O. 15 WIPO, Datensatz IP/STAT/1994/B, November 1996.

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von JEAN-PAUL MARÉCHAL