Die Wiederkehr des Protektorats
WIE schon Bosnien nach den Dayton-Abkommen will der Westen nun auch das Kosovo unter seine Aufsicht stellen, mit dem erklärten Ziel, dort Frieden und Demokratie einzurichten. Doch das Protektorat, diese moderne Form des Kolonialismus, droht die ethnische Aufteilung der Provinz festzuschreiben. Während Auseinandersetungen mit bewaffneten nationalistischen Gruppen drohen, wird dem Land eine neue Wirtschaftsform oktroyiert.
Von ANDEJA ZIVKOVIC *
Ein Gespenst geht um in der internationalen Gemeinschaft dieses ausgehenden Jahrhunderts, ein Gespenst, das viele schon verschwunden glaubten: die Idee von der Rückkehr der Reiche. Unter Berufung auf die Implosion des ehemaligen Jugoslawien oder den Bürgerkrieg in Somalia hat die Idee, Protektorate zu errichten, in den Kanzlerämtern der westlichen Welt Einzug gehalten. Und angesichts der Lage im Kosovo erscheint vielen führenden Politikern des Westens das Protektorat geradezu als ein Allheilmittel.
Die Protektoratspolitik ist ein Auswuchs, der sich ganz natürlich aus jenem Denkansatz ergibt, mit dem die internationalen Institutionen der veränderten Lage nach dem Ende des Kalten Krieges begegnen. Sie entspricht einerseits dem westlichen Bedürfnis nach einem Neuaufbau demokratischer Institutionen, kommt aber auch der Neigung der westlichen Staaten zur Bevormundung entgegen.1 Wie ein Nachhall aus paternalistischer Kolonialzeit wirkt die Auffassung, nur eine langfristige internationale Intervention könne jenen Staaten Frieden und Sicherheit bringen, die bislang noch nicht in den Genuß der westlichen Ideologie des Wirtschaftsliberalismus gekommen sind. So wurde auch der „humanitäre Krieg“ gerechtfertigt, den die Nato führte, um die Rechte der im Kosovo lebenden Albaner zu schützen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, hat darauf ausdrücklich hingewiesen: „Es entsteht zur Zeit ein neues internationales Gesetz, wonach sich die Staaten nicht mehr hinter ihrer Souveränität verschanzen können, um die Bevölkerungen zu täuschen und zu quälen, in der Hoffnung, der Rest der Welt werde tatenlos zusehen.“2
Doch man muß nur das Schicksal Bosniens näher betrachten, des jüngsten Beispiels für ein westliches Protektorat, eingerichtet im Gefolge der Dayton-Abkommen vom November 1995, um zu begreifen, daß in Sachen Frieden und Demokratie zwischen Worten und Taten ein großer Unterschied besteht. Offiziell sollte durch die Dayton-Abkommen in Bosnien eine autonome, auf nationaler Aussöhnung basierende Regierung gebildet werden, unter besonderer Wachsamkeit hinsichtlich etwaiger Beherrschung einer Volksgruppe durch eine andere und gegenseitiger „Säuberungs“-Gelüste. Bei der Umsetzung dieser auf „regionale Stabilität“ ausgerichteten Realpolitik hat die Nato ihr Mandat weit über den rein militärischen Auftrag hinaus ausgedehnt.
Die Neuaufteilung des Gebiets hat die Nato in eine Rolle als Friedensbewahrer gezwungen, für die sie nicht gerüstet war. Einem mit allen Vollmachten ausgestatteten, aber nicht gewählten hohen UNO-Repräsentanten kommt nun die letzte Entscheidung in zivilen Konflikten und Streitigkeiten zu; er ist an Entscheidungen der Repräsentanten des bosnischen Volkes nicht gebunden und kann diese sogar absetzen.3 Nachdem das Land solcherart unter internationale Aufsicht gestellt worden ist, sind Wahlen in Bosnien nur noch „bessere Meinungsumfragen“.4
So überrascht es kaum, daß vier Jahre nach den Abkommen von Dayton bei der Überwindung der ethnischen Schranken und bei der nationalen Aussöhnung nur geringe Fortschritte gemacht worden sind. Noch immer wird nach rein ethnischen Kriterien gewählt, und nur eine Minderheit der 2,1 Millionen Kriegsflüchtlinge ist in die Heimat zurückgekehrt. Das Resultat: ein neokoloniales Protektorat in einem Bosnien, das institutionell, politisch, administrativ und rechtlich gleichermaßen geschwächt ist und von internationalen Organisationen – von UNO bis IWF – verwaltet wird, die dafür keinen demokratischen Auftrag haben.
Hinzu kommt, daß das internationale „Protektorat“ trotz der unklaren Machtverteilung kaum mehr leisten kann, als die zunehmende Kluft zwischen dem bosnischen Volk und seinen eigenen Institutionen notdürftig zu überbrücken. Daß im Dezember 1997 das Mandat der internationalen Gemeinschaft auf unbestimmte Zeit verlängert wurde, bestätigt nur, in welchem Maße das Konzept des „Protektorats“ gescheitert ist.
Die Widersprüche der westlichen Balkanpolitik haben sich inzwischen in das Kosovo verlagert. Anfangs hatte Milosevic freie Hand, die Probleme vor Ort als interne jugoslawische Angelegenheit zu behandeln, so lange, bis der Eindruck entstand, sein Vorgehen in dieser Provinz diene nur dem eigenen Machterhalt. Die Vereinbarungen von Rambouillet von Februar 1999 wurden ihm schmackhaft gemacht als Weg, das Kosovo als festen Bestandteil des jugoslawischen Territoriums zu behalten. Gleichzeitig beabsichtigte man jedoch, die Provinz dem Zugriff seines Regimes zu entziehen.
Um zu verhindern, daß eine selbsternannte albanische Kosovo-Regierung die Beilegung der lokalen Krise gefährdete – etwa indem sie sich unabhängig erklären und damit der Entstehung eines Großalbanien Vorschub leisten würde –, verfiel man erneut darauf, ein internationales Protektorat zu fordern. Denn damit verbliebe, gemäß den Erfahrungen von Dayton die eigentliche Macht in der Region bei der Nato.
Jedes Protektorat, das der Souveränität eines unabhängigen Staates untersteht und gleichzeitig auf Betreiben auswärtiger Mächte von diesem Staat abgetrennt ist, tendiert dazu, mehr als nur eine autonome Provinz zu werden. Es entwickelt sich häufig zu einem unabhängigen Staat, jedoch ohne die üblichen Merkmale der Souveränität. Was immer in Rambouillet ausgehandet wurde, ist jetzt belastet durch Milosevic' Politik der Vertreibung von beinahe zwei Millionen Menschen, die außerhalb des Landes Zuflucht gesucht haben. Die Außenministerin der Vereinigten Staaten, Madeleine Albright, räumt ein, daß es „schwierig“ sein wird, ein erneutes Zusammenleben von Serben und Albanern im Kosovo ins Auge zu fassen, obgleich der gefahrlose Zugang von „Serben wie Kosovo-Albanern zu ihren heiligen Stätten“ unbedingt zu gewährleisten sei. Mit anderen Worten: Zur Überwachung der ethnischen Trennung der Gemeinschaften im Kosovo (womit im übrigen die von Milosevic gewünschte ethnische Säuberung abgesegnet wäre) soll abermals ein internationales Protektorat eingerichtet werden.
Ganz gleich, welche Maßnahmen und Auswirkungen sich mit einem UNO-Protektorat verbinden würden – man kann davon ausgehen, daß es zu einem neuen Treffen in Dayton kommen wird, das heißt zur Aufteilung des Kosovo nach ethnischen Kriterien.
Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen scheint die Diplomatie einer Teilung zuzuneigen.5 Unabhängig von den Regelungen durch das endgültige Abkommen ist sicher, daß in einem „kantonalisierten“ Kosovo Hunderttausende Flüchtlinge nicht an ihre alten Wohnorte zurückkehren werden. Der Exodus der serbischen Minorität dürfte sich fortsetzen, und jene Serben und Albaner, die in solchen nach ethnischen Kriterien definierten Zonen leben, werden erneut miteinander konfrontiert sein. Das bedeutet Wasser auf die Mühlen der Nationalisten in beiden Lagern und die unausweichliche Spaltung der nationalen Institutionen, die allenfalls durch internationalen Druck zusammenzuhalten wären. Die politische Instabilität eines zerstückelten Serbien dürfte außerdem einen Vorwand liefern, diesen innerhalb Jugoslawiens eingerichteten Cordon sanitaire weiter auszudehnen.
Das Kosovo wird, mit den Worten des ehemaligen US-amerikanischen Botschafters in Kroatien, zu einem „de facto unabhängigen Staat“, der jedoch weder eine echte Unabhängigkeit noch eine wirklich autonome Regierung besitzt. Die westliche Koalition schickt sich zwar an, das Kosovo praktisch von der Bundesrepublik Jugoslawien abzutrennen, jedoch wird sie sich einer echten Unabhängigkeit dieser Provinz weiterhin entschieden widersetzen, aus Angst, damit die Büchse der Pandora zu öffnen. Konflikte zwischen einer bewaffneten albanischen Nationalbewegung und den kolonialen Behörden sind abzusehen: um die Aufteilung des Kosovo, die Beschaffenheit einer autonomen Regierung und die Zukunft der Region schlechthin. Man darf also davon ausgehen, daß das Protektorat, wie in Bosnien, auf unbestimmte Zeit verlängert werden wird, um jeder weiteren Auflösung des regionalen Status quo vorzubeugen – mit der Folge, daß eine demokratische Regelung der nationalen Frage auf dem Balkan verzögert wird.
In bezug auf den Wiederaufbau im eigentlichen Sinne sind die in Rambouillet diskutierten Texte sehr aufschlußreich. Kapitel 4a des ersten Artikels besagt: „Die Wirtschaft des Kosovo folgt den Grundsätzen des Marktes.“ Auch in dieser Hinsicht gibt Dayton die Regeln und ihre Anwendungsmodalitäten vor.6 Die bosnische Zentralbank steht unter der Aufsicht eines vom IWF bestellten, gebietsfremden Gouverneurs. Sie hat bislang nur eine Nebenrolle spielen können, da ihr das Drucken von Geld zur Finanzierung von Krediten untersagt ist. Der Staat darf sich nur dann am Wiederaufbau beteiligen, wenn er beträchtliche Darlehen bei den internationalen Finanzinstitutionen aufnimmt, die sich auf diesem Wege auch für die Zukunft entscheidenden Einfluß auf Bosnien sichern. Das Kosovo wird sich, so wie Bosnien, in der gleichen Situation finden wie viele Entwicklungsländer.
Nachdem sie die regionale Stabilität zerstört und dabei die lokale Wirtschaftsbasis zerschlagen hat, beschwört die Europäische Union nun scheinheilig eine beschleunigte Wiederherstellung von Demokratie, Sicherheit und Wohlstand in den Balkanstaaten. Der unter Federführung der EU entstandene „Stabilitätspakt“ empfiehlt eine „Integration durch vertragliche Bindungen neuen Typs“7 . Mit anderen Worten: Die EU hält sich bedeckt. Nur Albanien und Makedonien sind Vereinbarungen zur „Stabilisierung und Assoziierung“ angeboten worden, deren Reichweite allerdings sehr gering ist, verglichen mit den „europäischen Vereinbarungen“, wie sie von den mitteleuropäischen Ländern unterzeichnet worden sind.
Von einem neuen Marshallplan kann keinesfalls die Rede sein. Es geht vielmehr um eine Rangfolge der Staaten, die von der EU bestimmt wird: Welche Privilegien ein Land genießt, hängt ab von seiner Ausrichtung auf die Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen der westlichen Welt. Die Karten werden neu gemischt, und rebellische Staaten wie das Jugoslawien Milosevic' sind aus dem Spiel. Der „Stabilitätspakt“ dient einzig dem Zweck, wo immer möglich die Marktmechanismen einzuführen, und man kann jede Wette eingehen, daß diese Art von Wiederaufbau die Balkanstaaten ebenso hart treffen wird wie der Krieg.
Dieser Krieg wird sicherlich der Nato helfen, sich neu zu definieren bzw. für das 21. Jahrhundert zu rüsten. Sie hat die Bundesrepublik Jugoslawien in die Knie gezwungen, den Keim für künftige regionale Konflikte gelegt und im Kosovo Perspektiven für mehrere Jahrzehnte eröffnet, in denen sich die Kolonialregierungen ablösen werden. Den westlichen Interessen dient der scheinbare Marshallplan als trojanisches Pferd. Das einzig sichere Ergebnis sind nationalistische Gegenreaktionen. So werden letztendlich Demokratie und Frieden auf dem Altar der „humanitären Intervention“ geopfert, ganz im Sinne des Tacitus-Wortes: „Sie schaffen Einsamkeit und nennen es Frieden.“
dt. Margrethe Schmeer
* Journalistin, London.