09.07.1999

Wer ermordete Ajatollah al-Sadr?

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Wer ermordete Ajatollah al-Sadr?

AM Morgen des 19. Februar 1999 wurden der Großajatollah Mohammad Sadek al-Sadr und seine beiden Söhne ermordet. Der Tatort war Nadschaf, eine der Städte, die den Schiiten heilig sind – dort liegt Ali begraben, ein Schwiegersohn des Propheten Mohammad und der vierte Kalif in der Geschichte des Islam. Die Schiiten verehren ihn als den ersten Imam. Das Verbrechen löste eine Welle von Aufständen in den schiitischen Städten im Süden des Landes und in den Vorstädten von Bagdad aus.

Nach Meinung des irakischen Ministers für Kultur und Information, Abdel Chalek Hammam, ist der Anschlag Teil einer Verschwörung, die von Washington gesteuert wird und die Schiiten zum Aufstand bewegen soll, damit es zu einer fitna taifija (Glaubenskrieg) komme. Die Opposition macht allerdings die irakische Regierung verantwortlich. „Das ist Unsinn“, meint der Minister: Die Sicherheitskräfte hätten die Schuldigen bereits verhaftet, und sie seien hingerichtet worden. Nur der „Kopf“ der Verschwörung habe in den Iran fliehen können.

„Warum hätten wir so etwas tun sollen“, fragt er. „Ajatollah Sadr hatte gute Beziehungen zu den staatlichen Stellen, und von der Opposition wurde er deswegen kritisiert.“ Tatsächlich wurde dem Religionsführer von einem Teil der Opposition heftige Ablehnung entgegengebracht, vor allem von Mohammad Bakr al-Hakim, dem Führer des Obersten Rats der Islamischen Revolution (HCIRI) im Irak. Nach dem Attentat kam es zu heftigen Auseinandersetzungen in dieser Organisation. „Und außerdem“ erklärt der Minister, „hat Sadr eine Reihe von fatwas erlassen, die sich gegen die Zionisten und die Vereinigten Staaten richteten. Er war überdies der erste Ajatollah dieses Rangs von rein arabischer Abstammung.“ Die meisten schiitischen Ajatollahs stammen aus dem Iran.

Diese Argumente will Bajan Dschabor nicht gelten lassen. Der Ingenieur führt die Vertretung des HCIRI in Damaskus. Zunächst erinnert er daran, daß Saddam Husseins Regime nie davor zurückgeschreckt ist, religiöse Führer zu beseitigen. Ein berühmtes Beispiel für die im Irak üblichen Praktiken ist der Onkel des jetzt Ermordeten, der Ajatollah Mohammad Bakr al- Sadr, einer der großen schiitischen Denker, der im April 1980 gemeinsam mit seiner Schwester und einigen anderen Mitgliedern der Familie hingerichtet wurde.

Über den Neffen meint Dschabor: „Der Imam Mohammad al-Sadr ist in den neunziger Jahren zum mardscha1 geworden. Er war nicht bereit, die Stillhaltepolitik der anderen Ajatollahs mitzumachen, die sich in der Öffentlichkeit nicht exponierten, um sich nicht zu „kompromittieren“ – was einigen von ihnen den Vorwurf der Kollaboration einbrachte. Er hat das gemeinsame Freitagsgebet wieder eingeführt, das als Zeichen des Protests gegen das ,gottlose Regime' ausgesetzt worden war. Es stimmt, daß Saddam Hussein zunächst glaubte, er könne al-Sadr benutzen, um seinen Rückhalt bei den Schiiten zu verstärken. Aber der Ajatollah hat es verstanden, nach und nach seinen Einfluß und seine Eigenständigkeit zu erweitern, und er hat viele Anhänger unter den Gläubigen gesammelt. Überall im Land ernannte er Stellvertreter. Und dann fing er an, Kritik an den staatlichen Behörden zu üben und die Freilassung der politischen Gefangenen zu fordern.“

Diese Einschätzung teilt auch Dschawad al-Maliki, Mitglied des Politbüros der schiitischen Daawa-Partei, die im Irak gut organisiert ist und über Einfluß verfügt. „Der Märtyrer Sadr hat sich gegen die Ernennung der Stammesführer durch die Staatsmacht gewandt, er hat die Tätigkeit des Ministeriums für religiöse Stiftungen (waqaf) und das Vorgehen der Repressionsorgane kritisiert.“

In der Folgezeit ging man dazu über, Druck auf den Ajatollah auszuüben: Im Sommer 1998 wurde sein Haus überwacht und man stellte ihm den Strom ab.2 Anfang Februar 1999 suchte ihn der für die Sicherheit in der Region Nadschaf-Kerbala3 verantwortliche Vizepremier Mohammad al-Zubaidi auf und verlangte von ihm, das Freitagsgebet wieder auszusetzen, denn inzwischen wurden diese Versammlungen als gefährlich eingestuft. Doch Al-Sadr weigerte sich. Seine letzte Predigt, die er zwei Wochen vor seinem Tod in der Stadt Kufa hielt, scheint diese Einschätzungen zu bestätigen: Er kritisierte in kaum verhüllter Form die Einschränkungen der Religionsfreiheit und erklärte, das Embargo werde zum „Vorwand“ genommen, sie noch weiter zu beschneiden.4 Wenige Tage später wurde er ermordet. Daß die schiitische Bevölkerung die Tat dem Regime zuschreibt, ist insofern durchaus verständlich.

A. G.

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Ein mardscha ist ein Vorbild, eine „Quelle der Nachahmung“, wie sie ein jeder Schiite sich wählen soll. 2 Nidaa ar-rafidain, (in Beirut erscheinende Wochenzeitung der schiitischen Opposition), 13. August 1998. 3 Nach der „Operation Wüstenfuchs“ haben die irakischen Behörden das Land in vier Regionen aufgeteilt, in denen jeweils ein Statthalter des Regimes die uneingeschränkte Macht in Angelegenheiten der Subversionsbekämpfung besitzt. Der Süden untersteht Ali Hassan al-Madschid, einem der brutalsten Würdenträger des Regimes. Nach Informationen aus Kreisen der Kommunistischen Partei soll er nach Streitigkeiten mit den Söhnen von Saddam Hussein inzwischen von diesem Posten entbunden worden sein. 4 Der vollständige Text der Predigt ist abgedruckt in El Zaman (London) vom 24. Februar 1999.

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von A. G.