09.07.1999

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Die internationale Rechtsunsicherheit

Von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU *

DIE Krisen und Kriege, die die Menschheit derzeit erlebt und die ihre Existenz bedrohen, rufen nach neuen rechtlichen Regelungen. Doch bislang zeichnet sich in dieser Richtung nichts ab. Lange bevor sich die menschlichen Gesellschaften nach dem Modell staatlicher Souveränität organisierten, wie es sich in Europa seit dem 15. Jahrhundert allgemein durchgesetzt hat, gründeten sie ihre Sozialordnung auf die Idee des Rechts, durch das zwischen legitimer und illegitimer Gewalt unterschieden werden kann. Legitime Gewalt fließt aus den Gesetzen, die der Obrigkeit das Recht auf militärische, gerichtliche und polizeiliche Erzwingungsmaßnahmen einräumen; illegitim ist jede Gewalt, die sich nicht auf dieses Recht gründet. Diese Unterscheidung machte das Recht freilich noch nicht zum Garanten von Gerechtigkeit und Demokratie. Als Grundlage der Gerechtigkeit blieb nach Auflösung ihrer Bindung an die Religion allein noch die Vernunft übrig. Um das Unrecht beizulegen, das die Menschen als einzelne oder in Gruppen einander zufügen, müssen daher objektive Regeln zur Unterscheidung von erlaubten und unerlaubten Handlungen aufgestellt werden sowie objektive Verfahrensregeln zur Anwendung dieser Regeln.

Lange Zeit bildete der Staat den Rahmen für das Monopol der Gesetzgebung und daher der Ausübung von Gewalt. Kraft seiner Souveränität war ausschließlich er für sein Hoheitsgebiet zuständig, was die Befugnis zur Gesetzgebung einschloß. Zwar hatte deshalb nicht jede Rechtsnorm ihren Ursprung im Staat – denn die Rechtsgewohnheiten gingen aus den Gesellschaften selbst hervor, ebenso wie auch Verträge immer gegenseitige Verpflichtungserklärungen zwischen Privatpersonen waren –, doch der Staat garantierte die Geltung und Anwendung all dieser Regeln, was immer ihre Quelle sein mochte, und er legte in einer „Rechtsordnung“ ihre Hierarchie fest. War die Staatsgewalt autoritär oder diktatorisch, mochte diese Ordnung zu kritisieren sein; aber sie war dennoch eine geltende Ordnung.

Im Zuge einer neueren Entwicklung, der „Staatsräson“ Grenzen zu setzen, werden Recht und Demokratie im Begriff des „Rechtsstaats“ aufeinander bezogen. Der Staat unterwirft sich vorab festgelegten Regeln oder übergeordneten Grundsätzen (Gewaltenteilung, Verfassungsnormen, internationale Verträge) und akzeptiert damit die Begrenzung seiner Machtbefugnisse. Dies ist eine notwendige Bedingung für die Demokratie. Sie ist jedoch nicht hinreichend, denn abgesehen von ihren institutionellen Mechanismen zeichnet sich eine Demokratie durch das stets unvollendete Bemühen aus, möglichst alle Individuen am Prozeß der Entscheidungsfindung zu beteiligen.

Neuerdings erleben wir, wie die staatliche Souveränität weltweit in unkontrollierbarem Maße bröckelt. Dieses historische Phänomen rührt zum Teil daher, daß die Staaten immer mehr Zuständigkeiten an internationale Institutionen abgetreten haben, insbesondere seit 1945. Selbst das Recht zur Kriegführung wurde der UNO übertragen. Die Regelung der internationalen Handelsbeziehungen ging auf die Welthandelsorganisation (WTO) über, und die zulässige Höhe des staatlichen Haushaltsdefizits wird vom Internationalen Währungsfonds (IWF) – in Europa durch die entsprechenden EU-Instanzen – bestimmt.

Eine weit ernsthaftere Gefahr für die staatliche Souveränität stellen jedoch die mächtigen internationalen Finanz- und Wirtschaftsakteure dar, die sich über die Regulierungsbefugnisse der einzelnen Staaten hinwegsetzen, da sie ein Hindernis für den Aufbau eines Finanz- und Handelsraums nach ihren Interessen darstellen. Diese noch immer unzureichend bekannten Herrschaftsmechanismen geben sich einen rechtlichen Anstrich, der den eigentlichen Zerfall des Rechts verdeckt.1 So kann ein Staat durch ein Abkommen über Auslandsinvestitionen auf seine steuer-, sozial- und umweltrechtliche Gesetzgebungsbefugnis verzichten oder alle Streitigkeiten einer Schlichtung überantworten, die sich eher an den Bedürfnissen des Handels als an der rigorosen Anwendung des Rechts orientiert. Die Staaten sind der Fähigkeit zur Durchführung wirksamer sozialpolitischer Maßnahmen beraubt und schauen ohnmächtig oder in stillem Einverständnis zu, wie die soziale Ungleichheit weiter wächst. Nicht betroffen von der Erosion staatlicher Souveränität ist indes das Vorrecht auf Gewaltanwendung.2 Davon zeugt, vor allem in den Ländern des Südens, die wachsende Bedeutung militarisierter Polizeikorps und, in den reicheren Ländern, der Ausbau der Gefängnisse.3

Die Reaktionen auf diese Entwicklung sind widersprüchlich. Auf der einen Seite herrscht ein starkes Bedürfnis nach Recht, zumal nach dem Schutz der Menschenrechte. Diktatoren sollen strafrechtlich verfolgt werden, ebenso die Verantwortlichen von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch die entsprechenden Rechtswege sind noch immer ausgesprochen eingeschränkt, der Zugang dazu mit Hindernissen gepflastert und die zugrundeliegenden Regeln unvollständig. In der Annahme, daß Fortschritte im Bereich des Internationalen Rechts nicht in ihrem Interesse seien, verschanzen die Staaten sich hinter dem, was ihnen an Souveränität noch bleibt. Die Menschenrechtsverletzungen sind jedoch nur der sichtbare Teil eines größeren Komplexes, der daran krankt, daß das internationale Recht in allen Fragen, die zu zwischenstaatlichen Streitigkeiten Anlaß geben können, unzureichende Handhabe bietet – sei es bei politischen, wirtschaftlichen oder Grenzfragen, bei Fragen des Zugangs zu Naturressourcen oder des Umweltschutzes. Und die wenigen rechtlichen Regelungen, die es schon gibt, werden auf zynische Weise mißachtet.

Angesichts dieser Situation fordern die sogenannten Souveränisten, sämtliche Machtbefugnisse wieder in staatliche Hände zu legen. Doch ist diese Vorstellung aufgrund der weltweiten wirtschaftlichen und technologischen Verflechtung nicht nur unmöglich, sondern auch riskant, denn der Staat ist an sich noch kein Garant für die Emanzipation eines Volks oder für Gerechtigkeit zwischen den Menschen. Als Lösung bleibt daher nur die Einrichtung eines einvernehmlichen Nebeneinanders der nationalstaatlichen Rechtsordnungen auf der einen Seite – die für interne Angelegenheiten ihre volle Gültigkeit behalten – und jener bereits ansatzweise vorhandenen internationalen Rechtsordnung auf der anderen, die dringend ausgebaut werden muß. Letztere erfordert, daß jeder Fall im geltenden Recht eine substantielle Antwort, jeder Rechtsstreit seinen Richter findet. Auch wenn Gerechtigkeit per se unerreichbar bleibt, ist eine Ordnung, in der die Willkür der Macht durch richterliche Willkür korrigiert wird, allemal einer Ordnung vorzuziehen, in der sich die Willkür der Macht ohne Korrektiv entfalten kann.

Bisher sind in dieser Hinsicht nur ansatzweise Ergebnisse zu verzeichnen. Da internationale Verträge nach allgemeiner Verfassungslage über dem nationalen Recht stehen, können die nationalen Richter auch internationales Recht anwenden – vorausgesetzt, die Opfer sind über ihre Rechte informiert und rufen die entsprechenden Gerichte an. Unter bestimmten Umständen können die nationalen Gerichtshöfe auch internationale Verbrechen aburteilen, unabhängig vom Ort des Verbrechens und vom Aufenthaltsort der Opfer und Täter. Die Genfer Konvention von 1949 sowie die UN-Konvention von 1984 gegen die Folter – Grundlage der Anklageerhebung gegen General Augusto Pinochet – bieten diese Möglichkeit. Aber welcher Richter wird sie nutzen, um beispielsweise gegen die verantwortlichen israelischen Politiker wegen der Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland vorzugehen – ein Tatbestand, den die genannten Konventionen verbieten?4 Wer wird Anklage erheben gegen die Führer der transatlantischen Allianz wegen der Schäden, die die Bombardierung Jugoslawiens unter der Zivilbevölkerung angerichtet hat?

Wirtschaftsverbrechen weiterhin straffrei

DIE Vereinten Nationen haben mit dem in Den Haag ansässigen Internationalen Gerichtshof (IGH) bereits 1946 eine Gerichtsbarkeit geschaffen, deren Aufgabe es ist, „Recht zu sprechen“, die gegenseitigen Verpflichtungen der verschiedenen Mitgliedstaaten zu bestimmen und eventuelle Wiedergutmachungsleistungen festzulegen. Allerdings ist der IGH zum einen nur für zwischenstaatliche Rechtsstreitigkeiten zuständig – der einzelne Bürger, staatenlose Völker, internationale und regierungsunabhängige Organisationen können ihn nicht anrufen –, zum anderen gilt seine Rechtsprechung nur für Staaten, die seine Zuständigkeit anerkannt haben. Nur 58 der 186 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben das IGH-Statut bislang unterzeichnet und sich damit in allen zwischenstaatlichen Streitsachen der Gerichtshoheit des IGH unterworfen. Von den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats hat nur Großbritannien diesen Schritt vollzogen, während Frankreich und die Vereinigten Staaten ihren Beitritt nach einigen unglücklichen Erfahrungen mit dem Hohen Gericht widerrufen haben.5

Im Völkermord-Prozeß, den Bosnien 1993 gegen Jugoslawien anstrengte, ist bisher noch nicht in der Sache geurteilt worden, weil der Gerichtshof zunächst seine Zuständigkeit prüfen mußte. Vor kurzem war es ihm mangels Zuständigkeit versagt, über den Antrag Jugoslawiens auf Sofortmaßnahmen zur Einstellung der Nato-Bombenangriffe zu entscheiden.6 In Europa ist es um den Zugang zum Rechtsweg insofern besser bestellt, als die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg nicht an die Zustimmung der Mitgliedstaaten gebunden ist.7 Die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte steht auch Einzelpersonen offen; sie haben damit die Möglichkeit, gegen Staaten den Rechtsweg zu beschreiten.

Die Einrichtung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit galt lange Zeit schon deshalb als unvorstellbar, weil sämtliche Handlungen in Ausübung eines öffentlichen Amtes, und handelte es sich um Verbrechen, durch die Immunität der Täter gedeckt waren. Seit kurzem gibt es Bestrebungen, diese Art dauerhafter Straffreiheit abzuschaffen. Die Verhaftung von General Augusto Pinochet, die Schaffung zweier Internationaler Strafgerichte, für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda, sowie die Einrichtung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs sind Zeichen dieser Entwicklung. Die kürzlich erhobene Anklage gegen Slobodan Milosevic bedeutet in diesem Kontext eine weitere Etappe, die bereits erwartet worden war. Gleichwohl steckt die internationale Strafgerichtsbarkeit noch in den Kinderschuhen, und die Staaten, von denen jeder Fortschritt in der Sache abhängt, haben ihre Zustimmung stets von der Verabschiedung zahlreicher einschränkender Bedingungen abhängig gemacht.

Im Wirtschafts- und Finanzbereich herrscht weiterhin schamlose Straffreiheit, für Wirtschaftsverbrechen gibt es keinen internationalen Richter, und einige nationale Richter haben gegen die Begrenztheit ihrer Handlungsbefugnis Protest eingelegt8 . Im Bereich des internationalen Handels wurde die Schaffung eines Gerichts zur Beilegung von Streitigkeiten bei der WTO als wichtiger Schritt in die richtige Richtung begrüßt. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch nur um ein Schiedsgericht, und die Vereinigten Staaten können weiterhin unter Berufung auf die Sektion Super 301 ihres Handelsgesetzes – das ihnen die Möglichkeit einseitiger Sanktionen eröffnet, wenn sie ihr nationales Interesse bedroht sehen – die internationale Rechtsprechung weiterhin mißachten.9 Dieses Beispiel spricht Bände, denn es zeigt, daß die zu schaffende internationale Rechtsordnung nur dann verwirklicht werden kann, wenn sie ausnahmslos für alle Staaten gilt.

dt. Bodo Schulze

* Professorin für Völkerrecht an der Universität Paris VII-Denis Diderot.

Fußnoten: 1 Vgl. Christian de Brie, „Das neue MAI ist angekommen“, Le Monde diplomatique, Mai 1999. 2 Vgl. Monique Chemillier-Gendreau, „Menschenrechte werden einklagbar“, Le Monde diplomatique, Dezember 1998. 3 Vgl. Loic Wacquant, „Die Armen bekämpfen“, Le Monde diplomatique, April 1999. 4 Siehe Artikel 49 der vierten, von Israel unterzeichneten Genfer Konvention: „Die Besatzermacht darf keine Umsiedelungen oder Transfers der eigenen Bevölkerung in die von ihr besetzten Gebiete durchführen.“ 5 Frankreich wurde 1974 wegen seiner Atomversuche verurteilt, die Vereinigten Staaten 1986 zur Zahlung von 17 Milliarden Dollar als Entschädigung für die Verminung der Häfen Nicaraguas. 6 Beschluß vom 2. Juni 1999. 7 Dazu Anne-Cécile Robert, „Ce juge méconnu de Luxembourg“, Le Monde diplomatique, Mai 1999. 8 Einige europäische Richter haben vor diesem Hintergrund am 1. Oktober 1996 den „Genfer Appell“ initiiert. 9 Le Monde, 9. Februar 1999.

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU