Algerischer Friede
Von IGNACIO RAMONET
ANGESICHTS der allgemeinen Erleichterung über das Ende des Kosovokrieges wird nur zu schnell übersehen, was derzeit in Algerien geschieht: ein Entspannungsprozeß, der das Ende des Bürgerkriegs einläuten könnte.
Begonnen hatte der Krieg Anfang der neunziger Jahre, als die Militärs durch ihren Staatsstreich die Islamische Heilsfront (FIS) um den Wahlsieg brachten. Seitdem kämpften aufständische Islamisten, die Guerillataktiken anwandten, Terroranschläge ausführten und immer wieder grauenhafte Massaker an Unschuldigen verübten, gegen Sicherheitskräfte und „patriotische“ Milizen, die ihrerseits willkürliche Verhaftungen und standrechtliche Erschießungen vornahmen und Verdächtige mißhandelten.
Seit 1992 hat dieser Krieg das Land in ein Chaos gestürzt und die ohnehin katastrophale soziale Situation weiter verschlechtert. Nach unterschiedlichen Schätzungen forderte er zwischen 65000 und 100000 Tote und Zehntausende Verletzte; Hunderttausende Bauern wurden aus ihren Dörfern vertrieben, und etwa 3000 Menschen gelten als „verschwunden“.1 Tausende Führungskräfte, Künstler und Intellektuelle sind vor der Gewalt ins Ausland geflohen – ein Exodus, der das Land erheblich geschwächt hat.
Wie kann es in einer solchen Apokalypse Aussicht auf Frieden geben? In erster Linie, weil die mörderischen Auseinandersetzungen der Jahre 1993 bis 1996, als in den Bergregionen Tausende Islamisten gegen die Staatsmacht antraten, beendet sind. Dies liegt daran, daß die radikalen Gruppen diesen Krieg verloren haben, auch wenn hier und da noch einige versprengte Desperados ihr Unwesen treiben. Der Versuch, das Regime militärisch zu stürzen, ist gescheitert, Tausende Kämpfer sind umgebracht worden, im Gefängnis gelandet oder mußten ins Exil gehen.
Eine Hoffnung auf Frieden gibt es auch deshalb, weil ein Teil der Islamisten eingesehen hat, daß der militärische Kampf sinnlos geworden ist. Diese Fraktion will nun wirklich Frieden und hofft darauf, sich durch einige Kompromisse den Weg zurück in die traditionelle politische Arena zu ebnen.
Und schließlich gibt es Hoffnung, weil die Militärs, die seit der algerischen Unabhängigkeit 1962 die eigentliche Macht in Händen halten, gespalten sind.2 Die einen, die ein Programm der „Ausmerzung“ vertreten, würden die Repression am liebsten bis zur Vernichtung des letzten Aufständischen fortsetzen und selbst die gemäßigten Islamisten vom politischen Leben fernhalten. Die anderen, die auf den „Dialog“ setzen, wollen nicht nur die gemäßigten Islamisten auf der politischen Bühne sehen, sie scheinen sogar bereit, eine Übereinkunft mit dem FIS zu treffen – auf diese Weise könnten die Streitkräfte und die Regierung eine neue Legitimität gewinnen, ein nationales Bündnis könnte dem Staat nach dem Trauma eines fast zehn Jahre währenden Bürgerkriegs Stabilität verleihen.
Es waren die Machtkämpfe zwischen diesen beiden Flügeln, die Staatspräsident Liamine Zéroual veranlaßt haben, sein Amt niederzulegen und vorgezogene Präsidentschaftswahlen anzusetzen. Die Umstände, unter denen diese Wahlen abgehalten wurden, sind umstritten – sechs Kandidaten zogen sich am Vorabend der Wahl aus Protest gegen Wahlbetrug zurück – zum Sieger wurde nach der Abstimmung am 15. April der einzige Kandidat, Abdelaziz Bouteflika, erklärt, der sowohl von einem Teil der Armee unterstützt wird (vor allem von der „Dialogfraktion“ und dem militärischen Geheimdienst, der mächtigsten Institution im Land), als auch in der Front der Nationalen Befreiung (FLN) Rückhalt findet.
BOUTEFLIKA begann seine Karriere unter den Fittichen der Präsidenten Ahmed Ben Bella und Houari Boumedienne; in den sechziger Jahren war er einer der Architekten des neuen algerischen Staates. Er gehörte bald zur ersten Garde in der Politik, war unter Präsident Boumedienne der unumstrittene Außenminister und machte Algerien zum diplomatisch wichtigsten Staat Afrikas. Verhandlungsgeschick und Intelligenz werden ihm auch von seinen Gegnern bescheinigt, er weiß genau, daß im ebenso brutalen wie raffinierten politischen System Algeriens nur Gerissenheit und Macht zählen.
Während seiner Wahlkampagne hatte sich Bouteflika für einen „allseitigen Dialog“ sowie für eine „nationale Aussöhnung“ ausgesprochen. Von der „Ausmerzungsfraktion“ unter den Militärs wurde er dafür kritisiert, aber er hat klar gemacht, daß er einen Kompromiß mit den Islamisten sucht, um die Gräben zu überwinden, die der Krieg hinterlassen hat.
Sechs Wochen nach seiner Wahl, am 29. Mai 1999, wandte sich der neue Präsident an „jene, die in den Strudel geraten sind, deren Gewissen sie jedoch vor dem Weg in blinde Gewalt bewahrt hat“, und forderte die „Irregeleiteten“ auf, „ihren Platz in der Gesellschaft wieder einzunehmen“. Unmittelbar darauf kündigte Kommandant Madani Mesrag, der Chef der Islamischen Armee des Heils (AIS, bewaffneter Arm des FIS), die „endgültige Einstellung des bewaffneten Kampfes“ an und bedauerte, daß ein früherer Versuch, einen Ausgleich zu finden – schon 1997 hatte die AIS mit der Armee und dem militärischen Geheimdienst verhandelt –, an der ablehnenden Haltung Präsident Zérouals und seiner Militärberater gescheitert war. Im Anschluß daran bekundete Abassi Madani, der langjährige Chef des FIS, gegenüber Bouteflika, er unterstütze „vollständig und vorbehaltlos die Haltung von Madani Mesrag, (...) die Kämpfe einzustellen.“
Auch die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) möchte der Staatschef an diesem Befriedungsprozeß beteiligen. Er plant ein Referendum über die nationale Versöhnung und eine Amnestie für alle, die keine Blutschuld auf sich geladen haben. Wie einst De Gaulle hat Bouteflika erklärt, er werde zurücktreten, falls dieses Referendum scheitert.
Auf eine schnelle Beendigung der Gewaltakte zu hoffen wäre eine Illusion. Aber diesmal scheint tatsächlich ein Prozeß in Gang zu kommen, der zum Frieden führen kann. Die Unterzeichner der Römischen Plattform3 erleben nun, mit einigen Jahren Verspätung, daß ihre Thesen von damals doch visionäre Qualität besaßen. Ein politischer Kompromiß würde Algerien in die Lage versetzen, sich seinen wichtigsten ökonomischen und sozialen Problemen zuzuwenden. Und die Bürger des Landes könnten endlich der Herrschaft des Schreckens entrinnen.