09.07.1999

Freiheit, Gleichheit, Korsischkeit

zurück

Freiheit, Gleichheit, Korsischkeit

DIE Lage in Korsika ist kompliziert. Hin- und hergerissen zwischen korsischer Identität und Loyalität zur Republik, hat die Insel eine Eskalation der Gewalt erlebt, die mit der Ermordung des Präfekten Claude Erignac ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Während die Tatverdächtigen inzwischen gefaßt sind, sorgte die angebliche Verwicklung seines Nachfolgers Bernard Bonnet in einen Fall von Brandstiftung bereits für neue Aufregung. Aus Sorge um die Zukunft der Insel organisierte die korsische Kirche ine Gesprächsreihe: Im März 1996 fand ein erstes Treffen von Persönlichkeiten aus verschiedenenen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen statt. Als Beitrag zu einer friedlichen Lösung der korsischen Frage hat die Gruppe einige eigenständige Überlegungen im Geiste des Humanismus vorgestellt. Wir dokumentieren im folgenden einen bisher unveröffentlichten Text, der am 25. März 1999 verfaßt wurde.

Diskussionen um das Recht auf Differenz werden seit mehreren Jahrzehnten in den verschiedensten Kreisen geführt. In einer so problematischen Situation wie der korsischen hat dieses Thema besondere Brisanz. Weithin besteht Einmütigkeit darüber, daß die Differenz, also die korsische Partikularität (particularité), verteidigt und gefördert werden solle. Doch diese Forderung hat unterschiedliche Beweggründe, und sie wird in oft sehr verschiedenen, wenn nicht gar unvereinbaren Formen zum Ausdruck gebracht.

Der vorliegende zweite Teil unserer Überlegungen1 hinsichtlich der korsischen Partikularität mag uneinheitlich erscheinen oder den Eindruck erwecken, es seien kaum vereinbare Aussagen einfach gegenübergestellt worden. Der Tenor der einzelnen Aussagen ist durchaus unterschiedlich – worauf es uns ankommt, ist die bereichernde Erfahrung eines fairen Dialogs. Niemand von uns hat darauf bestanden, in jedem Punkt die eigene Position durchzusetzen. Jeder kleine Ansatz einzelner Teilnehmer, etwas neu zu überdenken, galt uns als Beleg dafür, daß es sich um eine lebendige, fruchtbare Debatte handelt. Denn Demokratie findet dort statt, wo diskutiert wird. Wenn die Diskussion ausbleibt, und insbesondere wenn Gewalt an ihre Stelle tritt, bedeutet das für die Demokratie die schlimmste Niederlage. Wahrhaft gesiegt hat sie hingegen, wenn Orte der Diskussion zu Orten brüderlichen Teilens werden. Daß dies in diesen wirren Zeiten möglich ist, darauf wollte unsere Gruppe in aller Bescheidenheit hinweisen, dieses Zeichen wollten wir in der korsischen Öffentlichkeit setzen.

Die wichtigsten Forderungen

ZUNÄCHST möchten wir auf einige Hauptforderungen eingehen, über die trotz aller Meinungsverschiedenheiten große Einigkeit unter uns herrscht und die uns, wie wir glauben, weiterbringen.

– Angesichts der fortschreitenden Globalisierung des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs ist es dringend geboten, unsere Partikularität aufrechtzuerhalten. Denn die Uniformierung der Gewohnheiten und die Nivellierung der kulturellen Besonderheiten würden eine unerträgliche Verarmung bedeuten.

– Die geographische Lage und die Geschichte Korsikas haben aus der Inselbevölkerung im Zentrum des Mittelmeerraums eine Gemeinschaft gemacht, die ihren Platz in der heutigen Welt finden muß, indem sie ihre Eigenheit (originalité) unterstreicht.

– Wie in jeder historisch gewachsenen Gemeinschaft befindet sich auch in der unsereren die Identität in einem permanenten Wandel. Eine statische Auffassung von Identität erscheint uns mehr denn je als ein Verrat und eine Absage an die Geschichte.

– Partikularität hat ihre Berechtigung nur dann, wenn sie weltoffen ist; wo sie sich abschließt und andere ausgrenzt, geht das Menschliche verloren. Dies ist für uns alle ein entscheidendes ethisches Kriterium. Wenn wir für die korsische Gemeinschaft das Beste wollen und sie möglichst menschlich gestalten wollen, müssen wir den einzelnen Menschen berücksichtigen, und zwar den ganzen Menschen und jeden Menschen.

I. Das Volk

Die Eigenart unserer Inselgesellschaft führt dazu, daß das Wort „Volk“ in Korsika einen besonderen Beiklang hat. Man muß sich die Frage stellen, ob eine Schicksalsgemeinschaft von geborenen Korsen und zugewanderten Korsen schon als ein Volk zu bezeichnen ist. Einige unter uns sind von der Existenz eines solchen Volkes überzeugt, die sich in besonderen Einstellungen und Denkweisen manifestiert. Allerdings darf auch dieser Begriff niemals statisch verwendet werden. Unsere Partikularität speist sich nicht allein aus Vergangenheit und Erinnerung. Unsere Inselmentalitäten sind von vielen wechselseitigen Beziehungen geprägt, insbesondere zwischen Korsika und dem französischen Festland. Dennoch bestehen einige Mitglieder unserer Gruppe auf einer eindeutigen Position: Was auch immer geschieht im Zuge der Veränderung Europas, man wird nicht umhin können, von einem korsischen Volk zu sprechen und seine menschlichen und geographischen Eigenheiten zu berücksichtigen. Andere von uns sind davon überzeugt, daß die politische Verwendung des Volksbegriffs, verknüpft mit der Forderung nach juristischer Anerkennung des korsischen Volkes, auf gefährliches Terrain und letztlich zu sezessionistischen Bestrebungen führt.

Im übrigen teilen wir alle die Überzeugung, daß Territorium, Geschichte und Kultur dieser Insel eine Identität gegeben haben, durch die sie auch innerhalb des französischen Ganzen zu einer festen Größe wird, die es verdient, in ihrer Partikularität anerkannt zu werden. Wir müssen daran mitwirken, daß diese Partikularität nicht nur fortbestehen, sondern sich auch entfalten kann. Wir als Bürger stehen in der Verantwortung, aber auch die gewählten Vertreter und der Staat.

Wir sind zutiefst überzeugt, daß es einer Gemeinschaft, einem Volk, stets möglich ist, sich anderen oder der Welt zu öffnen – es wird sich in der Begegnung nicht verlieren, sondern es wird im Gegenteil davon profitieren. Dessen sind wir um so gewisser, als Frauen und Männer, die nicht in Korsika geboren wurden und sich entschieden haben, eine Zeitspanne oder ihr ganzes Leben in diesem Land zu verbringen, heute dazu beitragen, es aufzubauen, und daher an seiner Geschichte teilhaben. Mit dieser Geisteshaltung wollen wir in die Zukunft blicken.

II. Recht auf Differenz und Recht auf Gleichheit

Es gibt keine Wahl zwischen dem Recht auf Differenz und dem Recht auf Gleichheit. Wenn unsere Eigenheit (originalité) legitim ist, dann ist unsere Differenz es auch. Allerdings ist der Wert der Differenz für manche Korsen zweitrangig geworden – zu wertvoll und grundlegend ist ihnen das Recht auf Gleichheit, das zu jenen republikanischen Grundwerten zählt, die für die Bürger Korsikas und anderer Länder inzwischen unverzichtbar sind. Wir möchten bekräftigen, daß die Suche nach dem Gemeinsamen und die Förderung der eigenen Identität, wenn sie maßvoll und ausgewogen vor sich geht, niemals zur Ablehnung des Differenten, des Anderen führen wird. Denn die kulturelle und soziale Verarmung, die sie nach sich ziehen würde, wäre ebenso verhängnisvoll wie die unvermeidliche Erstarrung einer nach außen hin abgeschotteten Gemeinschaft. Uniformität ist die schlimmste Karikatur wirklicher Einheit – die ihre Reichhaltigkeit gewinnt, indem sie verschiedene Eigenarten harmonisch miteinander verbindet.

Im Zentrum dieser Dialektik des Rechts auf Differenz und auf Gleichheit steht die Frage der Sprache. Dieser Frage messen wir alle die allergrößte Bedeutung bei. Die Sprache ist nicht die äußere Hülle einer Kultur, sie macht vielmehr einen Teil ihrer Substanz aus. Die Gefahr des Niedergangs der korsischen Sprache ist so akut, daß der Schulunterricht als die einzige Rettung erscheint. Dabei taucht sofort die Frage auf: Bedeutet die Respektierung der Differenz in diesem Punkt, daß Korsisch als Pflichtsprache unterrichtet und als zweite Amtssprache eingeführt werden muß? Hier stellt sich schon das nächste Problem: Verlangt die kulturelle Fremdherrschaft, der die korsische Sprache ausgesetzt ist, nicht eher ein Einschreiten nach dem Prinzip der „affirmative action“? Ein Teil unserer Gruppe vertritt diese Position, eine andere Fraktion bevorzugt dagegen die Schaffung starker Anreize zur Förderung des Korsischen vom Kindergarten bis zur Universität. Allerdings darf man auch einer weiteren Frage nicht ausweichen: Wird nicht die Forderung, Korsisch in der Schule als Pflichtfach und auch als zweite Amtssprache einzuführen, von denjenigen Gruppen als ideologischer Hebel eingesetzt, für die das Korsische die Nationalsprache des korsischen Volkes ist und die um die Macht kämpfen, weil sie sich selbst als die einzig wahren Garanten der Zukunft Korsikas verstehen? Was würde dann aus dem Recht auf Gleichheit für diejenigen, die zwar auf unserer Insel wohnen, aber nur französisch sprechen?

Trotz unserer gegensätzlichen Positionen sind wir uns darin einig, daß man geduldig vorgehen und genau differenzieren muß. Besonderer Scharfblick ist vor allem nötig, wenn – wie bei der Verteidigung der korsischen Sprache – die Befürworter für verschiedene Ziele kämpfen. Daß die einen diesen Kampf mit einer totalitären Ideologie rechtfertigen, heißt nicht, daß die anderen dies gutheißen. Bestimmte Mißverständnisse werden nur allzu gerne aufrechterhalten, und es ist Zeit, sie klarzustellen.

Die heutigen korsisch-französischen Beziehungen müssen als das Ergebnis einer komplexen Geschichte begriffen werden. Natürlich kann man bestimmte Aspekte bewußt hervorheben: So sprechen die einen von einem Kolonialverhältnis, andere hingegen von völlig egalitären Beziehungen, seit die Korsen ab 1789 zu vollwertigen französischen Bürgern gemacht wurden. Doch für einige von uns ändern weder dieser politische Status noch die zweihundertjährigen, vielfältigen Beziehungen etwas daran, daß Korsika in den Kolonisierungsanstrengungen, die Frankreich in verschiedenste Richtungen hin unternommen hat, eine besondere Rolle spielte.

Andere rücken die jüngere Vergangenheit in den Mittelpunkt: Nachdem Korsika zuvor als Arbeitskräftereservoir und als Rohstofflieferant gedient hatte, wurde es in den fünfziger Jahren vor allem als Quelle von Einnahmen aus dem Tourismus interessant. Die staatliche Förderung des Massentourismus, in erster Linie in den Küstengegenden, konnte als eine Form der „ökonomischen Kolonisierung“ Korsikas verstanden werden. Unser Grund und Boden geriet in die Hände von Spekulanten. Wenn auch die touristischen Möglichkeiten auf der Insel noch längst nicht ausgeschöpft sind, besteht für uns doch kein Zweifel daran, daß man in diesem Bereich andere Wege beschreiten muß. Wir wünschen uns einen Tourismus, der auf die korsische Identität abgestimmt ist, der Wert legt auf die Beziehungen zwischen Besuchern und Einwohnern, der unsere Natur respektiert.

Den Terror beenden

ABER, wenden einige von uns an diesem Punkt ein, laufen wir nicht Gefahr, etwas zu verwechseln? Geben wir nicht etwas als koloniale Ökonomie aus, was in Wirklichkeit eine abhängige Wirtschaft war? Die Hauptverantwortung für die ausbleibende Entwicklung Korsikas trägt der Wirtschaftsliberalismus, also das kapitalistische System. Dieses System trieb im Rahmen des Wirtschaftswachstums in den fünfziger bis siebziger Jahren, mit staatlichem Einverständnis, ein bestimmtes Entwicklungsmodell voran, das viele Korsen nicht wollten. Alles auf ein Kolonialverhältnis zurückzuführen, scheint einigen von uns eine unzulässige, in aller Regel ideologisch motivierte Vereinfachung, mit dem Ziel, die Forderung nach Selbstbestimmung zu begründen. Zugleich wäre es ein schwerer Fehler, die Realität der abhängigen Ökonomie zu ignorieren, nur um den Verfechtern der Kolonialismus-These keine Zugeständnisse zu machen. Entscheidend ist, einen klaren Blick zu behalten, jenseits aller Mythen und gewagten Hypothesen eine realistische Bilanz des korsischen Wirtschaftspotentials zu ziehen und ein eigenes Entwicklungsmodell zu entwerfen.

Solange die terroristische Gewalt nicht aufhört, wird es allerdings keine Entwicklung geben. Heute findet sich kaum noch jemand, der diese Gewalt nicht verurteilt – die letzten Jahre haben deutlich gemacht, auf welche Irrwege sie führt. Angetreten als „revolutionär und befreiend“ und als „notwendige Antwort auf die institutionelle Gewalt des Staates, die ihr vorausgeht“, hat diese Gewalt mittlerweile Züge einer individuellen, völlig ungeregelten Selbst- und Lynchjustiz angenommen. Hier hat sich, das muß man leider feststellen, ein bedauerlicher Rückschritt in sozialer wie auch in moralischer Hinsicht ereignet. Es ist dringend zu hoffen, daß man der Gewalt mit den Mitteln des Rechts Herr werden wird.

Voraussetzung ist allerdings, daß die legitime Staatsgewalt streng nach Recht und Gesetz vorgeht. Nichts kann, besonders in der heutigen Situation, eine Abweichung von diesem ethischen Grundsatz rechtfertigen. Der Staat muß die Bezeichnung Rechtsstaat verdienen und auf jegliche Sondergerichtsbarkeit verzichten.

Außerdem kann der Rechtsstaat, so möchte ein Teil unserer Gruppe vermerken, nur dann gerecht und wirkungsvoll agieren, wenn er sich auf die Situation einstellt. Sicher darf nicht jede Ausnahme geduldet werden – aber die besondere Lage auf der Insel im Verhältnis zur Republik insgesamt muß ernsthaft berücksichtigt werden. Schematische Anpassung erzwingen zu wollen würde für Unruhe sorgen und neue Gewalt hervorbringen.

In unserer gemeinsamen Ablehnung der Gewalt sollte sich ein jeder von uns der Werte bewußt bleiben, die unserem Engagement zu Grunde liegen: Die Achtung des Rechts an sich und die vollständige Akzeptanz der korsischen Partikularität. Das ist der Preis, den Korsika bezahlen muß, um einen Weg in die Zukunft zu finden, der nicht nur seiner Geschichte würdig ist, sondern der auch und vor allem achtet, was hier wie überall auf der Welt den Wert des Menschen ausmacht.

Michel Acquaviva,François Alfonsi,Jean-Pierre Bonnafoux,Dominique Casanova,Pierre Franceschi,Marcel Herz, Xavier Peraldi,François Perrin, Gaston Pietri,Simon Renucci, André Serra

dt. Miriam Lang

Fußnote: 1 Dieses Dokument ist der zweite Teil eines Textes, der im Dezember 1996 unter dem Titel „Réhabiliter la politique en Corse“ erschien.

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von Michel Acquaviva,François Alfonsi,Jean-Pierre Bonnafoux,Dominique Casanova,Pierre Franceschi,Marcel Herz, Xavier Peraldi,François Perrin, Gaston Pietri,Simon Renucci, André Serra