09.07.1999

Unerhörte Agonie

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Unerhörte Agonie

Der Rat der Vereinten Nationen hat seine Debatten über den Irak wiederaufgenommen. Den Diskussionen liegen drei Projekte zugrunde: ein britisches, das von den Vereinigten Staaten unterstützt wird, ein von China und Rußland ausgearbeitetes und schließlich ein „Arbeitspapier“ der Franzosen. Der britische Entwurf stellt weitere Bedingungen für eine Aufhebung der Sanktionen, die noch drakonischer sind als die bereits von den Vereinten Nationen verabschiedeten Forderungen. Die irakische Regierung hat beeits erklärt, daß sie diesen britischen Text nicht akzeptieren werde. Eine Annahme dieses Entwurfs würde die Hoffnungslosigkeit und Agonie, in der sich der Irak und sein Volk befinden, nur weiter verlängern.

Von unserem Korrespondenten ALAIN GRESH

DER Mann ist fünfzig. Er liebt Bagdad, die Stadt, in der er geboren ist, und es macht ihm Freude, den wenigen Fremden, die er trifft, alles zu zeigen: die alten Gassen, die Prachtstraßen, die Märkte und Cafés, die Ufer des Tigris – alles wird vorgeführt. Und er erzählt vor allem von der Vergangenheit, von der Zeit „vorher“. Vor was? Keine Antwort. Er konzentriert sich darauf, sein Taxi durch den Verkehr zu steuern, die Lücken zu finden zwischen den alten Autos aus den fünfziger Jahren und den polierten Mercedes-Karossen der neuen Reichen. „Vorher“? Das ist längst Legende. In seiner Erinnerung vermischen sich die Jahre an der Universität und die Debatten über die arabische Einheit, die Verstaatlichung des Erdöls und die politischen Träume, das Studium im Ausland und das brodelnde intellektuelle Leben. Damals galt es, eine neue Welt zu schaffen, und er war überzeugt, zum Aufbau der „neuen Gesellschaft“ beizutragen. Daß sich insgeheim schon ein bleiernes Netz über das Land legte, bemerkte er nicht.

Die Zeit vorher – wann genau endete sie? 1974/75, als der Aufstand der Kurden im Namen des Kampfes gegen den „Imperialismus“ niedergeschlagen wurde? Oder 1979, als die Unterdrückung der Schiiten begann, diesmal im Namen des Kampfes gegen die „islamische Gefahr“? Für ihn vermutlich 1980, mit dem abenteuerlichen Krieg gegen den Iran. Acht Jahre des Wahnsinns, acht Jahre im Schützengraben, wie Verdun, wie Stalingrad, Raketen und Gasangriffe, ein Alptraum, den man nicht wiedergeben kann. Das Leben verlor die Konturen, es blieb ein übler Nachgeschmack, die Rückkehr in den bürgerlichen Alltag war unmöglich. Wie ein Schlafwandler erlebte er dann den Einmarsch nach Kuwait, die Niederlage der irakischen Streitkräfte, und im Frühjahr 1991 die Aufstände im Norden und Süden. Für einen jungen Offizier, noch nicht lange zurück von der Front, waren das allzu viele Ereignisse, die es aufzunehmen, zu verstehen und zu beurteilen galt. Und dann, eines Tages, das bittere Erwachen – die Erkenntnis, in einem Land gefangen zu sein, das gelähmt ist durch unzählige Sanktionen.

Sanktionen. Ein allgemeiner Begriff, man denkt an Bestrafung; nach offizieller amerikanischer Lesart soll die Strafe einen Diktator und sein Regime treffen. Für die Menschen im Irak hat das Wort einen bitteren, oft dramatischen, manchmal tragischen, aber gelegentlich auch absurd komischen Beiklang. Der eine hat seinen Bruder verloren. Er starb während eines harmlosen chirurgischen Eingriffs, weil der Strom ausfiel – in Bagdad gibt es durchschnittlich nur etwa sechs Stunden am Tag Strom – und das Notstromaggregat des Krankenhauses nicht funktionierte. Die andere – eine von vielen – wird im Fernsehen vorgestellt: eine Mutter, deren Baby gestorben ist, weil es an der medizinischen Versorgung mangelte. Es gibt Tausende solcher Fälle.

Eine andere Geschichte: eine Hochschullehrerin, noch vom alten Schlag, die ihren Lesehunger befriedigen möchte. Früher hieß es: Die arabischen Bücher werden in Ägypten geschrieben, im Libanon gedruckt und im Irak gelesen. Aber jetzt? Soll sie sich mit der langweiligen Regierungspresse zufriedengeben? Geld hat sie nicht, aber im Unterschied zu vielen ihrer Kollegen war sie nicht bereit, ihre Bücher zu verkaufen. Freunde im Ausland versuchten, ihr ein Abonnement einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu verschaffen. Aber der Sanktionsausschuß der Vereinten Nationen legte sich quer – zweifellos weil zu befürchten ist, daß sie auf einen Artikel stoßen könnte, der sie befähigt, biologische Waffen oder gar Atombomben herzustellen. Genau so, wie in der Geschichte, die Boris Vian mit tiefer Stimme über seinen Onkel vorträgt: „Ein berühmter Bastler, Atombomben sind sein Hobby ...“

Auf diese Weise ist der Irak durch die Sanktionen zum Gefängnis gemacht worden. „Schreiben Sie über das Embargo gegen das Denken“, wurde mir empfohlen. Von Reisen ins Ausland kann man nur noch träumen: Während der Mindestlohn 6000 Dinar1 beträgt, kostet das Ausreisevisum für Erwachsene 400000 Dinar, für Kinder 200000 Dinar. Drei bis vier Millionen Iraker aus der Bildungselite des Landes haben bereits den Weg ins Exil gewählt. Und das, obwohl es nicht leicht ist, im Ausland Arbeit zu finden. Daß im April 1999 die Sanktionen gegen Libyen aufgehoben wurden, hat in Bagdad große Erwartungen geweckt – man hofft, daß nun arabische Techniker und Ingenieure nach Tripolis gerufen werden.

Die sechsspurige Autobahn zieht sich endlos durch eine flache Wüstenlandschaft von unbeschreiblicher Eintönigkeit. Zehn Stunden dauert die Reise von Amman nach Bagdad, wenn man das Privileg genießt, sich ein schnelles Auto zu mieten. Die meisten Reisenden brauchen doppelt so lange. Schon hier zeigt sich, was das Wort „Sanktion“ bedeutet: Bagdad ist auf dem Luftweg nicht mehr zu erreichen, und wer dort hin will, muß sich auf eine Art Expedition begeben. Es ist, als sei das Land aus der Welt, von den anderen Nationen in Acht und Bann gestellt, als sei sein Schicksal der stille und unausweichliche Niedergang.

Gradd H. C. Sponeck, der Beauftragte für humanitäre Fragen im Irak bei den Vereinten Nationen, bedauert diese Entwicklung: „Uns allen, und ich schließe mich da nicht aus, ist es nicht gelungen, der internationalen Gemeinschaft deutlich zu machen, wie ernst die humanitäre Situation im Irak ist.“ Was der Irak in der am 23. Mai 1999 abgelaufenen fünften Phase des Programms „Erdöl gegen Lebensmittel“2 eingenommen hat, beläuft sich auf etwa 180 Dollar pro Kopf und Jahr. Damit „gehört der Irak zu den fünf ärmsten Ländern der Welt“. Aus diesen Einnahmen müssen schließlich auch alle staatlichen Aufwendungen für Bildung, Infrastruktur, Kommunikation usw. bestritten werden. Seit Inkrafttreten des Programms „hat sich die humanitäre Situation weiter verschlechtert, nur verläuft diese Verschlechterung nun etwas langsamer.“

In der fünften Laufzeit des Programms „Erdöl gegen Lebensmittel“ hat der Irak mehr als 3,5 Milliarden Dollar eingenommen, und in der sechsten Phase dürften es 4,5 Milliarden werden. Aber der UN-Generalsekretär selbst hat kürzlich in einem Bericht darauf hingewiesen, daß sogar eine Steigerung auf die Höchstsumme von 5,2 Milliarden Dollar nichts an der besorgniserregenden Lage ändern würde, weil auch dieser Betrag „nicht ausreichen würde, um allen humanitären Bedürfnissen des irakischen Volkes gerecht zu werden“3 .

Doch wer liest solche Berichte? Wer nimmt die wiederholten Warnungen zur Kenntnis? Berichte über chronische Unterernährung, Kindersterblichkeit und die Lage in den Krankenhäusern stoßen in der westlichen Öffentlichkeit auf Gleichgültigkeit. Die Verantwortlichen der internationalen Gemeinschaft ignorieren den Niedergang des Irak. Vor allem die infrastrukturellen Einrichtungen, die seit mehr als fünfzehn Jahren nicht erneuert wurden, verrotten zunehmend. Die Elektrizitätswerke können den Strombedarf des Landes nicht mehr decken. Und die Stromausfälle führen dazu, daß die Lebensmittelvorräte in den Kühlhäusern verderben – im Hochsommer erreichen die Temperaturen schließlich über 60 Grad in der Sonne. Telefonieren ist zu einem echten Kunststück geworden: Wenn Gradd Sponeck die französische Vertretung in Bagdad anrufen will, die nur wenige Kilometer vom UN-Hauptquartier in der Stadt entfernt ist, benutzt er sein Satellitentelefon, das die Verbindung über New York herstellt. Der Analphabetismus nimmt zu, die Schulen leeren sich, das Niveau an den Universitäten sinkt. Das gesamte soziale Geflecht löst sich auf. Selbst wenn die Sanktionen morgen eingestellt würden – es würde wenigstens eine Generation dauern, das Land wieder in Gang zu bringen. Darf ein ganzes Volk auf diese Weise zum Opfer werden, darf man ihm so die Zukunft nehmen? Gradd Sponeck kommt zu dem bitteren Schluß: „Wenn die internationale Gemeinschaft keine Maßnahmen ergreift, heißt das nichts anderes, als daß wir unsere Auseinandersetzungen auf dem Rücken des irakischen Volkes austragen.“

Auch in den Äußerungen von Tarik Asis, einem der drei Stellvertretenden Ministerpräsidenten des Irak, ist Verbitterung zu spüren: „Wir haben acht Jahre lang an der Abrüstung gearbeitet, aber der Sicherheitsrat ist uns nicht einen Schritt entgegengekommen. Wir haben eine Aufhebung der Sanktionen verdient, die Resolution 687 muß umgesetzt werden. Obwohl dieser Beschluß ohne Rücksprache mit uns gefaßt wurde, haben wir die Bestimmungen eingehalten, und nun erwarten wir, daß die Vereinten Nationen ihre Zusicherungen einhalten. Man hatte uns ein Licht am Ende des Tunnels versprochen, aber statt dessen wurden uns Cruise Missiles geschickt.“

Geht es den Vereinten Nationen wirklich um die Abrüstung des Irak? Tarik Asis zieht das stark in Zweifel: Die Resolution 687 gibt als Ziel an, den Nahen Osten in eine Region ohne Massenvernichtungswaffen zu verwandeln, aber „der Sicherheitsrat hat diesbezüglich keinen einzigen ernstzunehmenden Vorschlag gemacht“. Und die Operation Wüstenfuchs, die von den USA und Großbritannien am 16. Dezember 1998 gestartet wurde, machte alle Möglichkeiten zur langfristigen Rüstungskontrolle zunichte, die in den Jahren zuvor von der Unscom aufgebaut worden waren. Seit etwa sieben Monaten hat kein UN-Inspekteur den Irak betreten. Dabei hatten die USA noch vor einem Jahr erklärt, die Arbeit der Unscom sei von entscheidender Wichtigkeit, um Bagdad daran zu hindern, sein Arsenal an Massenvernichtungswaffen zu erneuern und erneut den Frieden in der Region zu bedrohen, und jede längere Unterbrechung der Inspektionen werde schlimme Folgen haben. Wieso findet man sich damit nun ohne weiteres ab?

Abdel Chalek Hammam, Minister für Kultur und Information, trägt Uniform, wie alle seine Ministerkollegen – zu den Kabinettssitzungen erscheint nur Saddam Hussein in Zivil. Immer mit einem Seitenblick auf die CNN-Nachrichten, erklärt Hammam, die USA hätten gehofft, durch ihre Luftangriffe im Dezember letzten Jahres einen Volksaufstand auslösen zu können. „Damit sind sie gescheitert“, stellt er befriedigt fest. In Bagdad brodeln allerdings Gerüchte über ernste Auseinandersetzungen in den Vorstädten und den schiitischen Städten im Süden des Landes. Der Minister weist das formell zurück: lediglich nach der Ermordung des Großajatollahs Mohammad al-Sadr und seiner beiden Söhne (siehe untenstehenden Artikel) am 19. Februar 1999 sei es zu kleineren Zusammenstößen in der Hauptstadt gekommen.

Das Schiitenproblem

IN einem Land, in dem sehr genau verfolgt wird, wohin Journalisten gehen und mit wem sie reden, ist es sehr schwierig, den Wahrheitsgehalt von Informationen zu überprüfen. Doch trotz dieses Umstands und trotz der offiziellen Dementis kann als gesichert gelten, daß das Regime im Frühjahr 1999 mit der heftigsten Protestwelle seit 1991 konfrontiert war. Die Ereignisse nahmen ihren Anfang im Februar, als in der schiitischen Stadt Nasirijja unvermittelt Bewaffnete auftauchten. Und als sich die Nachricht vom Anschlag auf Ajatollah Sadr verbreitete, kam es in einigen Städten im Süden und im Siedlungsgürtel um Bagdad zu Aufständen – dort setzte die Armee rund fünfzig Panzerfahrzeuge und mehrere tausend Mann ein. Mehrere hohe Vertreter des Regimes wurden im Verlauf der Auseinandersetzungen umgebracht. Noch einige Wochen lang flackerten die Unruhen immer wieder auf, vor allem in Basra, wo manche Stadtviertel nicht mehr von der Regierung kontrolliert werden.

Heißt das, der Irak hat ein „Schiitenproblem“? Nach Ansicht von Dr. Madschid Radi, einem linken Oppositionellen, der im Exil lebt (und selbst sunnitischen Glaubens ist) muß man sich für eine Antwort an die Umstände der Staatsgründung erinnern. 1921 brachten die Briten König Faisal auf den irakischen Thron. Faisal war ein Sohn Husseins, des Scherifen von Mekka, der im Ersten Weltkrieg die große Erhebung der Araber gegen das Osmanische Reich angeführt hatte. Faisal und die Mehrzahl seiner Berater waren Sunniten, während die Mehrheit der Bevölkerung im Irak der schiitischen Richtung angehört4 und im Krieg auf der osmanischen Seite gekämpft hatte. Und obwohl sich Schiiten und Sunniten schließlich gemeinsam gegen die Kolonialmacht erhoben, blieben die Schiiten seither von der politischen Macht weitgehend ausgeschlossen. „Die Situation verbesserte sich etwas, als die Revolution von 1958 Abdelkarim Kassem an die Macht brachte, der Sohn eines sunnitischen Vaters und einer schiitischen Mutter war. Außerdem wurde die Integration der Schiiten durch die Stärke der Kommunistischen Partei verbessert, die viele schiitische Mitglieder hatte. Aber die arabischen Nationalisten, vor allem die Baathisten, entwickelten zunehmend eine mehr oder minder explizit antischiitische Rhetorik. In den siebziger Jahren verschärfte sich diese Entwicklung, vor allem nach der Niederschlagung der Demonstrationen vom Februar 1977.“

Obwohl ihre Familien seit über einem Jahrhundert im Irak ansässig waren, wurden damals Schiiten, in deren Paß der Vermerk „iranischer Abstammung“ stand, zu Hunderttausenden nach Iran ausgewiesen, da man sie mit dem „persischen Feind“ identifizierte. Diese Deportationen im Namen der arabischen „Reinheit“ waren begleitet von offenem Rassismus gegen die schiitischen Armen, die in den übervölkerten Vorstädten von Bagdad leben. Zwar gibt es heute auch einige Schiiten unter den Vertretern des Regimes – den Präsidenten der Nationalversammlung, den Außenminister und den Chef des Generalstabs – aber sie spielen keine wichtige Rolle. Der Kern der Macht ist sunnitisch.

Trotz der gewaltsamen Übergriffe haben die Schiiten immer wieder ihre Loyalität bewiesen. In dem furchtbaren Krieg gegen den Iran zeigten sie Kampfesbereitschaft in der irakischen Armee, und ihre religiösen Führer betonen stets, wie wichtig ein brüderliches Verhältnis zu den Sunniten sei. 1980, einige Monate vor seiner Hinrichtung, erklärte Ajatollah Mohammad Bakr al-Sadr: „Mein Leben war dem Wohl von Schiiten wie Sunniten gewidmet. Ich bin eingetreten für die Botschaft, die sie zusammenführt und das Bekenntnis, das sie in derselben Gemeinschaft vereint.“5 Und sein Neffe, Ajatollah Mohammad Sadek al-Sadr, hat in den neunziger Jahren eine fatwa erlassen, die den Schiiten erlaubt, am Freitagsgebet teilzunehmen, auch wenn der Vorbeter ein sunnitischer Imam ist.

„Bewohner des Irak, Männer des Aufruhrs und des Verrats.“ Mit diesen Worten wandte sich am Ende des 7. Jahrhunderts der vom umajjadischen Kalifen Abdelmalik Ibn Marwan entsandte Feldherr Al- Hadschadsch an die Stämme Mesopotamiens, die für ihre Aufsässigkeit bekannt waren. Und weiter: „Bei Gott, ich sehe nur Köpfe, die mir zugewandt sind und gereckte Hälse, Köpfe, die reif sind, abgeschnitten zu werden. Wenn ihr auf dem rechten Pfad wandelt, wird alles gut, wenn ihr aber vom Wege abweicht, werde ich euch auflauern. Ich werde keinen Fehler verzeihen und keine Entschuldigung annehmen. Was ich verspreche, das halte ich auch, und wo ich hinschlage, wächst kein Gras mehr. Schluß mit den Zusammenkünften und dem unnötigen Geschwätz.“

Kaum ein Land ist so gezeichnet von Gewalt wie die Region zwischen Euphrat und Tigris. Vom Aufstand gegen England 1920 zu den antikommunistischen Massakern 1963, von der Niederschlagung des Kurdenaufstands 1974/75 zur Massendeportation der Grenzbewohner Ende der achtziger Jahre6 – stets schien die Gewalt das einzige Mittel, politische, religiöse oder nationale Meinungsverschiedenheiten auszutragen. In diese Reihe fügt sich auch der Aufstand von Kurden und Schiiten im Frühjahr 1991, mit seinen Gewaltexzessen und der gnadenlosen Repression, die darauf folgte.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Bürgerkriegsmentalität? Wamid Omar al- Nasmi, Professor für Politikwissenschaften in Bagdad und einer der wenigen oppositionellen Intellektuellen, die vom Regime geduldet werden, hegt diese Hoffnung. Al-Nasmi, der in England studiert hat und bis 1961 der Baath-Partei angehörte (bei seinem Austritt war er zwanzig), setzt sich für die arabische Einheit ebenso ein wie für die Demokratie. Er kritisiert das von den USA erzwungene Embargo, wendet sich aber auch gegen „die Medien, die die Probleme der Menschen nicht wiedergeben“, und die Bürger „geradezu schizophren“ werden lassen: „Natürlich sind die Amerikaner für das Embargo verantwortlich, aber wenn jemand ins Krankenhaus geht und es fehlt ein bestimmtes Medikament, dann hat er mit einem Iraker zu tun, und ihn macht er für sein Unglück verantwortlich.“

Das „Konfrontationsdenken“ zu beenden, das zum Fluch des Irak geworden ist, erscheint dem Wissenschaftler als die vordringliche Aufgabe. Es geht um den Dialog zwischen den Machthabern und den Schiiten: „Der Imam Sadr hat das Freitagsgebet wieder eingeführt [das als Zeichen des Protests gegen das „gottlose Regime“ eingestellt worden war; d. Red.], und er hat die amerikanischen Luftangriffe verurteilt – das waren Schritte auf dem richtigen Weg“ zu einem Dialog zwischen der Regierung und den Schiiten. Außerdem müsse ein Abkommen mit den Kurden geschlossen werden, die im Norden unter eigener Verwaltung leben. „Die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) versuchen, sich durchzulavieren: sie wollen kein Abkommen mit Bagdad, weil das zum Bruch mit den USA führen würde, aber auch keinen Krieg gegen das Regime, weil sein Ausgang ungewiß wäre und vielleicht am Ende ein proamerikanisches, aber zugleich antikurdisches Regime – wie in der Türkei – eingesetzt würde.“ Solche Aufrufe zu einem „historischen Kompromiß“ zwischen dem Regime und der Opposition haben jedoch wenig Chancen, Gehör zu finden. Zum einen ist das Regime nicht bereit, der Zivilgesellschaft eine Autonomie gleichwelcher Form zuzugestehen, zum anderen scheinen die Vereinigten Staaten entschlossen, mit allen Mitteln den Sturz von Präsident Hussein herbeizuführen.

Die amerikanische Strategie

HEUTE um 10.40 Uhr haben üble Aggressoren, aus Kuwait und Saudi- Arabien kommend, erneut die Unverletztlichkeit unseres Luftraums mißachtet. Sie flogen 32 Angriffe, 10 aus dem kuwaitischen und 22 aus dem saudiarabischen Luftraum. Der Sprecher der Luftverteidigung hat betont, daß unsere Raketen- und Luftabwehreinheiten Gegenschläge geführt und die feindlichen Kräfte um 13.10 Uhr gezwungen haben, abzudrehen und auf ihre Stützpunkte zurückzukehren.“ Wie an jedem Abend verurteilt der Nachrichtensprecher im Fernsehen mit monotoner Stimme die amerikanischen und britischen Bombenangriffe. Abseits des Medienspektakels sind diese Angriffe seit Anfang 1999 ununterbrochen fortgeführt worden. Aber dieser „Krieg mit geringer Intensität“ ist nur ein Moment der amerikanischen Strategie gegen das irakische Regime.

Am 28. September 1998 hatte der amerikanische Kongreß den „Iraq Liberation Act“ verabschiedet, am 31. Oktober wurde das Gesetz von Präsident Clinton unterzeichnet. Seither verfolgt die US- amerikanische Regierung das Ziel, „das von Saddam Hussein geführte Regime zu stürzen und die Bildung einer demokratischen Regierung zu fördern.“ Die Ernennung eines „amerikanischen Koordinators für den Machtwechsel im Irak“ (Frank Ricciardone), die im September 1998 in Washington vollzogene – und immer noch brüchige – Aussöhnung zwischen KPD und PUK, die Wiederbelebung des Irakischen Nationalkongresses (INC) als Sammelbecken für die verschiedenen Oppositionsgruppen – all das deutet darauf hin, daß man im Weißen Haus zu konsequentem Vorgehen entschlossen ist.

Sogar jene Oppositionskräfte, die die stärksten Vorbehalte gegenüber einer amerikanischen Einmischung hegen – etwa die Daawa-Partei, die Kommunistische Partei oder der Oberste Rat der Islamischen Revolution im Irak (HCIRI) –, müssen zugeben, daß sich die USA so entschlossen zeigen wie nie zuvor. Doch die Linke, und vor allem die KP, die einzige Gruppierung, der Schiiten wie Sunniten und auch Kurden angehören, befürchtet, daß in Bagdad ein neues autoritäres Regime eingesetzt wird, das Washington treu ergeben ist. Die Schiiten fordern ein verstärktes militärisches Engagement und vor allem die Einrichtung einer „Boden- Schutzzone“ im Süden, in der die USA nicht nur für die Einhaltung des Flugverbots sorgen, sondern auch Bewegungen von Panzern und schweren Waffen verbieten.

Doch in einen Bodenkrieg wollen sich weder das Weiße Haus noch das Pentagon hineinziehen lassen. Man erklärt also, es sei „verfrüht“, die Opposition zu bewaffnen. „Unter den politischen Führern und Persönlichkeiten in der Region, mit denen ich zusammengetroffen bin, hat niemand das Konzept einer Bewaffnung der Exilopposition gebilligt“, erklärte General Anthony Zinni, Befehlshaber der US- amerikanischen Streitkräfte im Nahen Osten (Centcom) im Mai 1999 in London. „Ohne Unterstützung in der Region kommen wir aber nicht zum Ziel.“7

Für Bagdad ist es natürlich eine beunruhigende Vorstellung, daß sich Nachbarländer diesem Kreuzzug anschließen könnten – das gilt vor allem für den Iran, der Zehntausenden bewaffneten Regimegegnern das Gastrecht gewährt. Seit etwas über einem Jahr versucht das baathistische Regime in Bagdad daher, durch immer neue Gesten des guten Willens gegenüber Teheran der regionalen Umklammerung zu entgehen.

Dr. Mohammad Nuri Qais ist Generalsekretär des Beit al-Hikma (“Haus der Gelehrsamkeit“), eines Zentrums für Sozialforschung. Der Wissenschaftler, der an der Sorbonne studiert hat, bezeichnet sich als einen „halben Oppositionellen“. „Unter normalen Umständen wäre ich der erste, der Demokratie fordert“, meint er. Sein Institut hat gerade eine eintägige Konferenz über die arabisch-iranischen Beziehungen durchgeführt. „Der Iran ist unser Nachbar, und wir haben eine gemeinsame Geschichte der friedlichen Beziehungen. Der Krieg war eine Ausnahme.“ Und er zählt auf, welche Gesten des guten Willens Bagdad gegenüber der Islamischen Republik in den vergangenen Monaten vollzogen hat: Freilassung aller iranischen Kriegsgefangenen, Besuche hochrangiger irakischer Regierungsvertreter in Teheran (vor allem die Reise des Vizepräsidenten Taha Jassin Ramadan im November 1998), seit August 1998 die Erlaubnis für iranische Pilger, die heiligen Städte der Schiiten im Irak aufzusuchen, usw. Nach Ansicht von Nuri Qais wäre Bagdad bereit, mit dem Iran einen Friedensvertrag auf der Grundlage des Vertrags von Algier (1975) zu schließen.8 Und die Aktivitäten der iranischen Volksmudschaheddin im Irak? Er wischt die Frage mit einer Handbewegung beiseite. „Sobald eine politische Übereinkunft erzielt ist, wird sich dieses Problem innerhalb von vierundzwanzig Stunden erledigen, genau wie 1975.“

Der Iran ist auf diese Formen des Entgegenkommens nicht eingegangen, im Gegenteil: Im Juni 1999 gab es neue Spannungen zwischen den beiden Ländern, ein Lager der Muschaheddin im Irak wurde mit Raketen beschossen. Nuri Qais findet das unverständlich. Hofft der Iran auf eine Teilung des Irak? Das hält er für eine gefährliche Illusion. Aber er scheint nicht zu begreifen, daß Teheran dem Präsidenten Saddam Hussein nicht traut – schließlich hat Hussein 1980 den Vertrag zwischen den beiden Ländern für nichtig erklärt und einen Krieg begonnen, der Hunderttausende Opfer gekostet hat. Und außerdem: Warum sollte Teheran die politische Annäherung an die arabischen Monarchien am Golf und an die Vereinigten Staaten aufs Spiel setzen, nur um einem derart isolierten Regime zu Hilfe zu kommen?

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Im Mai 1999 lag der Wechselkurs bei 2000 Dinar für einen Dollar. 2 Die 1995 verabschiedete UN-Resolution 986 (“Erdöl gegen Lebensmittel“) ist schließlich auch vom Irak akzeptiert worden, der am 20. Mai 1996 eine Übereinkunft mit den Vereinten Nationen unterzeichnete. Die Resolution sah vor, daß der Irak in einem Zeitraum von sechs Monaten jeweils Erdöl im Wert von 2 Milliarden Dollar exportieren darf. Im Februar 1998 wurde diese Quote auf 5,2 Milliarden erhöht. Die Einkünfte werden auf einem Sonderkonto der Vereinten Nationen verwaltet, 53 Prozent davon kann der Irak für die Einfuhr von Lebensmitteln, Medikamenten und bestimmten Gütern der zivilen Nutzung abrufen, 13 Prozent gehen an die drei Nordprovinzen (Kurdistan), die nicht der Verwaltung durch die Zentralregierung unterliegen, und 30 Prozent werden für Entschädigungszahlungen an die Opfer des Krieges gegen Kuwait verwendet sowie für die Deckung verschiedener Kosten, die durch die Embargopolitik und die Aktivitäten der UNO (etwa die Unscom) entstehen. 3 „Review and assessment of the implementation of the humanitarian program established pursuant to Security council“, Resolution 986 (Dezember 1996 – November 1998), New York, Vereinte Nationen, Sicherheitsrat, 28. April 1999. 4 Die letzte Volkszählung, in der die Religionszugehörigkeit erfaßt ist, wurde 1947 durchgeführt. Damals waren 51,4 Prozent der Bevölkerung Schiiten, 19,7 Prozent sunnitische Araber und 18,4 Prozent sunnitische Kurden, die übrigen 10,5 Prozent verteilten sich auf schiitische Kurden, Turkmenen, Christen, Juden usw. 5 Zit. nach Joyce N. Wiley, „The Islamic Movement of Iraqi Shi'as“, London (Lynne Rienner Publishers) 1992, S. 54. 6 Die Unterlagen über die Operation „Anfal“, der zwischen 50000 und 100000 Menschen zum Opfer fielen, sind während der Aufstände im Frühjahr 1991 von den Kurden „erbeutet“ worden. Ihre Auswertung durch Human Rights Watch ergab einen erschreckenden Bericht, den die Organisation 1994 veröffentlichte (Yale University Press). 7 Zit. nach Mideast Mirror (London), 26. Mai 1999. 8 Am 5. März 1975 wurde in Algier zwischen Teheran und Bagdad ein Abkommen geschlossen, das dem Gebietsstreit um den Schatt al-Arab ein Ende setzte. Der Schah verpflichtete sich, die Unterstützung für den Kurdenaufstand im Irak einzustellen, der daraufhin innerhalb weniger Wochen zusammenbrach.

Le Monde diplomatique vom 09.07.1999, von ALAIN GRESH