10.09.1999

Das Gesetz des Krieges

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Das Gesetz des Krieges

Von ALAIN GRESH

WÄHREND des Krieges gegen Serbien beschwor Pierre Hassner die Gefahr einer „Verrohung der Bürger“, die einer fatalen Doppelmoral entspringe: „Für die eigenen Bürger besteht man auf der Idee vom unendlichen Wert jedes menschlichen Lebens – also auf der Forderung nach ,null Toten‘ –, aber umso unbefangener nimmt man – unter der Kategorie 'kollaterale Schäden‘ – Verluste unter der Zivilbevölkerung des Kriegsgegners in Kauf, aber auch Opfer unter den Menschen, die man eigentlich schützen möchte.“1 Ähnlich drückte es Cornelio Sommaruga aus. Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz lehnt den Begriff des „humanitären Krieges“ ab, insofern er auf eine Ungleichbehandlung der Opfer hinauslaufe: „Die 'guten‘ Opfer auf der 'humanitären‘ Seite und die 'schlechten‘ Opfer unter denen, die sich einer 'humanitären‘ Intervention widersetzen.“2

Mit den Genfer Konventionen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 12. August 1949 und den beiden Zusatzprotokollen vom Juni 1977 hat die internationale Gemeinschaft Auflagen akzeptiert, die alle Beteiligten eines Konfliktes unabhängig von der vermuteten Legitimität ihres Anliegens binden. Artikel 48 des ersten Zusatzprotokolls formuliert eine „Grundregel“ des Kriegsrechts: „Um Schonung und Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu gewährleisten, unterscheiden die am Konflikt beteiligten Parteien jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen; sie dürfen daher ihre Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele richten.“

Die Grenze zwischen zivilen und militärischen Zielen, zwischen dem berechtigten Wunsch, das Leben der eigenen Soldaten zu schützen, und dem Wunsch, zivile Opfer möglichst zu vermeiden, ist nicht immer leicht zu ziehen. Pierre Mendès France hat erzählt, wie er und die Piloten des freien Frankreich sich im Zweiten Weltkrieg auf Präzisionsbombardierung aus geringer Höhe spezialisierten, um die Zivilbevölkerung zu schonen: „Das war zwar gefährlicher, ermöglichte aber eine größere Treffsicherheit.“3

Im Krieg gegen Serbien fielen die Bomben aus großer Höhe, die Zivilbevölkerung war schwer betroffen, und die Bomben trafen Ziele wie den staatlichen Fernsehsender, Brücken, Elektrizitätswerke oder den Privatbesitz von Angehörigen des Präsidenten Milošsevic. Angesichts dessen fragen sich Organisationen wie die US-amerikanische Human Rights Watch und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, ob die Nato nicht die Genfer Konventionen, insbesondere Artikel 57 des ersten Zusatzprotokolls verletzt habe, in dem es heißt: „Bei Kriegshandlungen ist stets darauf zu achten, dass die Zivilbevölkerung, Zivilpersonen und zivile Objekte verschont bleiben.“4

In Bezug auf das Verhältnis von Krieg, Recht und Moral stellen sich noch weitere Fragen. Der technologische Graben zwischen den USA und dem Rest der Welt, wie er im Krieg gegen den Irak und gegen Serbien deutlich geworden ist, lässt unwillkürlich an die Kolonialexpeditionen gegen Ende des 19. Jahrhunderts denken. Damals kam die revolutionäre Errungenschaft des Repetier- und später des Maschinengewehrs eindeutig den Europäern zugute. Das zeigte sich 1898 bei der Wiedereroberung des Sudan durch die Briten, deren Kolonialtruppen gegen die Soldaten des Mahdi kämpften, eines politisch-religiösen Führers, der in der europäischen Presse als „rückschrittlicher“ und „barbarischer“ Herrscher gebrandmarkt wurde. Damals fragte sich niemand, „wie es möglich war, dass 11 000 Sudanesen getötet wurden, während die Briten nur 48 Soldaten verloren. Und auch die Tatsache, dass praktisch keiner der 16 000 verletzten Sudanesen überlebte, wurde nicht hinterfragt“.5

DER Philosoph Michael Walzer bemerkt: „In einer geteilten Welt, wo die einen ständig die Bomben werfen, die anderen sie ständig abbekommen, gibt es ein moralisches Problem.“6 Wenn „der Preis des Krieges“ so gering ist, warum dann noch auf Diplomatie setzen, warum nicht gleich die Feindseligkeiten eröffnen?

Gewiss wird der Westen in unserer „zivilisierten“ Zeit keine Gefangenen mehr töten und die zivilen Verluste des Gegners gering halten wollen, schon weil „Fehlschläge“ im Zeitalter der Medien fatale Folgen haben können. Aber werden damit die Grausamkeiten nicht nur verlagert? „Was ist das für ein Humanismus, wenn man selber keine militärischen Verluste riskiert und die zivile Wirtschaft des Gegners auf Jahrzehnte hinaus zerstört wird?“7 , fragt anlässlich des Krieges gegen Serbien der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger. Die Zerstörung des Irak, die Aufrechterhaltung des Embargos und die völkerrechtswidrigen Bombenangriffe der Briten und US-Amerikaner haben laut Unicef die Rate der Kindersterblichkeit in zehn Jahren verdoppelt. Diese neue Art Kriegführung nach dem Motto „Bomb today, kill tomorrow“ kollidiert mit dem Geist der Genfer Konventionen und dem internationalen Recht.

Die Nato-Generäle könnten sich mit den Worten rechtfertigen, die ihre Athener Kollegen vor 2 500 Jahren den Herrschern der eroberten Insel Milos entgegenhielten: „Ihr wisst so gut wie wir, dass unter Menschen rechtliche Argumente nur so viel zählen, wie die sich gegenüberstehenden Gegner über gleichwertige Mittel verfügen, und dass andernfalls die Stärkeren aus ihrer Kraft so viel Vorteil wie möglich ziehen, während sich die Schwächeren zu fügen haben.“8

Fußnoten: 1 Pierre Hassner, „Guerre sans morts ou morts sans guerre?“, Critique internationale, Paris, Nr. 4, Sommer 1999. 2 Cornelio Sommaruga, „Renew the Ambition to Impose Rules on Warfare“, International Herald Tribune, Paris, 12. August 1999. 3 Zitiert in Michael Walzer, „Gibt es den gerechten Krieg?“, Stuttgart (Klett-Cotta) 1982. 4 Brief von Human Rights Watch an den Generalsekretär der Nato, 13. Mai 1998. Interview mit Cornelio Sommaruga, Figaro, 12. August 1999. 5 Zitiert in: Sven Lindqvist, „Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrika-Reisender auf den Spuren des europäischen Völkermordes“, Frankfurt am Main (Campus) 1999. 6 Vorwort zur französischen Ausgabe von „Gibt es den gerechten Krieg?“, a. a. O. 7 Newsweek, 31. Mai 1999. 8 Thukydides, „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“, V. Buch, Abschnitt 89, Zürich (Artemis) 1960.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von ALAIN GRESH