10.09.1999

Diskriminierte Muslime und Christen

zurück

Diskriminierte Muslime und Christen

Von ROMAIN MAITRA *

FÜR die Hindus bedeutete die 800-jährige Geschichte muslimischer Invasionen eine tiefe Demütigung. Die daraus hervorgegangene Feindschaft wurde später von der britischen Kolonialmacht politisch ausgenutzt und weiter geschürt. Die hinduistischen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts schließlich, die mit dem indischen Nationalismus und Unabhängigkeitskampf eng verbunden waren, arbeiteten fortan an einer Neudefinition des Hinduismus als Grundlage nationaler Identität. Indem die im 19. Jahrhundert gegründete Arya-Samaj-Bewegung sich gegen die Idolatrie, die Riten, das Sektentum und das Kastensystem wandte und als einzige heilige Schrift die Veden1 anerkannte, sprach sie allen anderen Glaubensvorstellungen jede Legitimität ab und verknüpfte die Hindu-Identität mit dem indischen Nationalismus.

Aus der Arya-Samaj-Sekte2 ging 1925 der Verband der nationalen Freiwilligen (Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS), hervor, der zunächst als Selbstschutzorganisation der Hindus auftrat. RSS-Gründer Keshav Hedge führte die ständigen Niederlagen der Hindu-Gemeinschaft auf die Schwächung infolge innerer Streitigkeiten zurück. Der RSS beteiligte sich zwar am indischen Unabhängigkeitskampf, aber die von Gandhi vertretene Politik der Gewaltfreiheit und der Unterstützung der muslimischen Minderheit lehnte er ab, da sie eher in christlichem als in hinduistischem Gedankengut verwurzelt sei.

Der RSS weigert sich zu akzeptieren, dass Muslime und Christen ebenso „indisch“ sind wie die Hindus. Diese Weigerung stößt bei den 120 Millionen Muslimen im Lande natürlich auf wenig Gegenliebe, denn sie impliziert, dass ein grundsätzlicher Widerspruch bestehe zwischen dem Wesen eines Muslim und dem Wesen eines Inders.

Aus dem RSS ist auch die nationalistische Hindu-Partei (BJP) hervorgegangen, die seit 1998 an der Regierung ist. Das von ihr vertretene Hindutum, die Hindutva-Lehre, lässt sich in der Parole „eine Nation, ein Volk, eine Kultur“ zusammenfassen, die der Gründer der RSS, Madhav Sadashiv Golwalkar, bereits in seiner Abhandlung „Bunch of thoughts“ ausgeführt hat: „Wenn wir von Hindu-Nation sprechen, fragt man uns sogleich, was dabei aus den Muslimen und Christen werden soll. Die wesentliche Frage ist jedoch, ob sie selbst sich daran erinnern, dass sie Kinder der indischen Erde sind. Nein, ihr anders gearteter Glaube hindert sie, die indische Nation zu lieben. [...] In Wirklichkeit handelt es sich also nicht um eine Frage unterschiedlicher Glaubensvorstellungen, sondern um ein Problem divergierender nationaler Identität.“3

Die wachsende Enttäuschung über die Kongresspartei, die mehr und mehr der Korruption verfiel, bereitete in den achtziger Jahren den Boden für den Aufstieg der BJP, die den Stolz der Hindus im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich wiederherzustellen versprach. Vor ihrem Machtantritt trat die Partei offen völkisch und fremdenfeindlich auf. Um ihr Wählerpotential zu erhöhen und ihre Aussichten auf einen Wahlsieg zu verbessern, musste sie sich allerdings von ihrem radikalsten Flügel trennen. Sie schwächte ihren antimuslimischen Diskurs deutlich ab – eine Strategie, die auch auf die liberalen Hindu-Wähler zielte. Inzwischen hat die Partei ihre identitätsfixierten Anschauungen relativiert und stellt sich als Wahrerin eines multirassischen und multikulturellen Indien dar.

Im Auto verbrannt

SO hat sie etwa ihr Wahlversprechen gebrochen, in Ayodhya einen Rama-Tempel errichten zu lassen4 , und das Projekt vorerst auf Eis gelegt: Die Gerichte sollen diese Angelegenheit nun entscheiden, während sich die BJP verstärkt säkularen Problemen zuwendet: Vereinheitlichung des Zivilgesetzbuchs, Durchsetzung der Monogamie und Geburtenkontrolle – Fragen, die unter der muslimischen Bevölkerung durchaus umstritten sind.

War die neuere Geschichte Indiens immer wieder durch mörderische Konflikte zwischen der erdrückenden Hindu-Mehrheit und der muslimischen Minderheit geprägt, so richten die Hindu-Nationalisten ihre Angriffe seit einem Jahr vermehrt gegen die christliche Gemeinschaft. Das dabei zu verzeichnende Gewaltniveau war seit der Unabhängigkeit Indiens unbekannt. Nach Angaben des Innenministeriums stieg die Zahl der Gewalttaten von 7 im Jahr 1996 über 24 im Jahr 1997 auf 86 im Jahr 1998. Eine christliche Organisation kam bei ihren Nachforschungen für 1998 sogar auf 120 Gewalttaten. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Kampagne der Hindu-Fundamentalisten gegen christliche Missionare im Januar dieses Jahres, als ein Aktivist der Bajrang Dal in Orissa das Auto eines australischen Protestanten in Brand setzte. Der Missionar und zwei seiner Kinder, die in dem Auto schliefen, kamen dabei ums Leben. Kurz darauf wurde ebenfalls in Orissa eine als Lehrerin tätige Nonne in einem Taxi vergewaltigt. Für das United Christian Forum for Human Rights5 , in dem sich verschiedene Kirchen als Antwort auf die Gewalttätigkeiten zusammengeschlossen haben, ist das zeitliche Zusammentreffen dieser Gewalttaten mit dem Machtantritt der Hindu-Nationalisten kein bloßer Zufall.

Obwohl die Christen in Indien die zweitgrößte religiöse Minderheit darstellen, beläuft sich ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung auf nur 2,5 Prozent.6 Die meisten von ihnen leben in den südlichen Randstaaten und Stammesprovinzen. Auf der politischen Bühne sind sie daher kaum von Bedeutung. Nachdem vor kurzem die Bekehrung von 5 000 Stammesangehörigen bekannt wurde, gerieten die Missionare verstärkt in die Schusslinie. Man beschuldigt sie antipatriotischer Aktivitäten und wirft ihnen vor, sie wollten die gesamte Hindu-Nation evangelisieren. In Wirklichkeit richten sich die Angriffe gegen die Bildungsprogramme, die die christlichen Missionare unter der Stammesbevölkerung durchführen, um sie über ihre Rechte aufzuklären. Die Kritiker sehen darin eine Gefahr für die bestehende Sozialordnung. In der Tat kämpfen die Jesuiten im Alltag wie vor Gericht gegen die Ausbeutung durch Grundbesitzer und Geldverleiher.

Die BJP-Regierung hat jede Verbindung zu diesen Angriffen bestritten und beteuert, sie tue alles, um den innenpolitischen Frieden wiederherzustellen. Dennoch fordern zahlreiche Hindu-Nationalisten ein Verbot aller Religionsübertritte. Ihrer Ansicht nach haben die Missionare ihre Anstrengungen verstärkt, seit die gebürtige Italienerin und Katholikin Sonia Gandhi an der Spitze der Kongresspartei, der größten Oppositionspartei, steht.

Um religiöse Gefühle geht es diesem Nationalismus jedoch nur insofern, als sie unmittelbar verknüpft sind mit den Machtverhältnissen innerhalb der Gesellschaft. Die Hindutva-Lehre ist schlicht als politische Metapher zu verstehen, die die höheren Gesellschaftsschichten gegen die dalits (die Unberührbaren), die Stämme und nicht zuletzt die Frauen ins Feld führen, um ihre Vorherrschaft zu sichern.

dt. Bodo Schulze

* Journalist, Kalkutta.

Fußnoten: 1 Die Veden sind die vier heiligen, „offenbarten“ Bücher der Hindus, die die gesamte göttliche Weisheit enthalten sollen. 2 Um genau zu sein, gingen aus der Arya-Samaj-Bewegung in chronologischer Reihenfolge der Hindu Maha Sabha, der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), der Vishva Hindu Parishad (VHP) sowie die Bharatiya Janata Party (BJP) hervor. 3 Die Abhandlung Golwalkars ist zugänglich unter http://hindubooks.org/bot/. 4 In den achtziger Jahren behaupteten gewisse hinduistische Kulturvereine, die Stelle, an der seit 1528 eine Moschee stand, sei der Geburtsort des Hindugottes Rama, und deshalb müsse dort ein Hindutempel errichtet werden. 1992 wurde die Moschee von jungen Hindus zerstört. Dazu Vijay Singh, „Tuer et mourir pour un temple ...“, Le Monde diplomatique, April 1991. 5 Siehe http://secularindia.com/united_christian_ forum_for_human.htm. 6 Das indische Christentum blickt auf eine lange Geschichte zurück. Die älteste, syrische Kirche wurde vom hl. Thomas 45 n. Chr. an der Malabar-Küste gegründet. Der eigentliche Aufstieg der römisch-katholischen Kirche begann erst nach der Ankunft Vasco da Gamas in Calicut im Jahr 1498.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von ROMAIN MAITRA