10.09.1999

Streit um die nationale Identität

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Streit um die nationale Identität

Von PURUSHOTTAM AGRAWAL *

WÄHREND die indischen Wähler ein neues Parlament wählen – am 3. Oktober wird der Urnengang abgeschlossen sein –, haben sie noch immer unter den verheerenden Folgen des diesjährigen Monsuns zu leiden. Dennoch werden die Probleme mit der Wasserversorgung, der katastrophale Zustand der Infrastruktur, die ständige Lebensmittelknappheit in vielen Regionen und die Entwicklungsunterschiede zwischen dem nördlichen und dem südlichen Landesteil weder im Wahlkampf noch in den Parteiprogrammen thematisiert. Das politische Leben Indiens verfällt zunehmend in Zynismus und reduziert sich weitgehend auf Machtkämpfe und Streitigkeiten um die Kontrolle der repressiven Staatsapparate.

Am 17. April fehlte der Regierung von Atal Bihari Vajpayee von der nationalistischen Partei des indischen Volks (BJP) bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage eine einzige Stimme: Der Koalitionspartner Jayalalitha, eine südindische Splitterpartei, verweigerte die Gefolgschaft. Andererseits konnte die Kongresspartei, wichtigste Oppositionspartei des Landes, nicht die für eine Regierungsbildung erforderlichen 273 Stimmen zusammenbringen. Deshalb sind jetzt die indischen Wähler aufgerufen, die 13. Lok-Sabha, das nationale Parlament, zu wählen. Nach den letzten Umfragen liegt die BJP, die den jüngsten „Sieg“ über Pakistan ausnutzen konnte, weit in Führung.

Bei den Wahlen von 1998 gewannen die Kongresspartei – die damals die als Einheitsfront bezeichnete Koalitionsregierung leitete – und die in der Opposition befindliche BJP jeweils fast 25 Prozent der Wählerstimmen. Aufgrund der Besonderheiten des indischen Wahlsystems1 erhielt die BJP jedoch 182 Sitze, der Kongress nur 141. Während die BJP 1996 nach nur dreizehntägiger Regierungsdauer das Staatsruder an die vom Kongress unterstützte Janata Dal2 abgeben musste, wurde sie bei der Regierungsbildung 1998 von siebzehn anderen Parteien unterstützt. In Anbetracht dieser bunt zusammengewürfelten Koalition sah sich die nationalistische Hindu-Partei in einigen Punkten zu programmatischer Mäßigung genötigt (Minderheitenpolitik, Kaschmir-Frage usw.). Die Janata Dal stellt keine große politische Kraft mehr dar, und die Dritte Front oder Einheitsfront3 , die sich aus der parlamentarischen Linken zusammensetzte, hat sich praktisch aufgelöst.

Über die wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Land gibt es weder eine ernsthafte Auseinandersetzung noch einen Konsens, wie sie zu lösen wären. Doch die nächste Regierung wird konkrete Maßnahmen ergreifen müssen, um die Wirtschaft anzukurbeln.

Die Rüstungsausgaben werden infolge des bewaffneten Konflikts mit Pakistan im Kaschmir und den Zwischenfällen, die das gespannte Verhältnis seither prägen, unweigerlich steigen4 .

Die BJP präsentiert sich als konsequent nationalistische Partei. In den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellt sie daher die „Bedrohung durch den islamischen Terrorismus“, den „Sieg“ im Kaschmir-Krieg und die ausländische Abstammung von INC-Präsidentin Sonia Gandhi. Die Kongresspartei wiederum konzentriert sich auf die Kaschmir-Politik der BJP und die „unverhältnismäßig“ hohen Verluste der indischen Streitkräfte. Unterschwellig geht es jedoch stets um die Frage, ob die Zukunft des Landes durch Pluralismus und Säkularismus oder aber durch „Kommunalismus“ und Ausgrenzung von Minderheiten geprägt sein soll.

Das Schlüsselproblem dieses Landes, das trotz einer gewissen sozialen Mobilität nach wie vor durch das Kastensystem geprägt ist5 , besteht daher in der Gewährleistung von Gleichheit und Gerechtigkeit, in der Schaffung einer modernen Demokratie, die eine Trennung von sozialer und persönlicher Identität erlaubt. Gerade dieses Problem jedoch wird seit Jahren durch eine Identitätsdebatte überlagert und verdrängt, die auch im Mittelpunkt des derzeitigen Wahlkampfs steht.

Das auf Empfehlung des Mandal-Berichts beschlossene Programm zur „positiven Diskriminierung“6 , kraft dessen in der Verwaltung seit 1989 eine Quotenregelung zugunsten weiterer „rückständiger Schichten“ (other backward classes, OBC) gilt, hat in den höheren Kasten heftige Proteste ausgelöst, die bis hin zu Selbstverbrennungen reichten. Daran wird deutlich, wie sehr das gesellschaftliche Gefüge des modernen Indien noch immer durch das Kastensystem geprägt ist und wie sehr es einem Wunschdenken vieler Intellektueller und Politiker entspricht, wenn sie dem Kastenproblem jede politische Relevanz absprechen und es als rein religiöses Phänomen betrachten.

Erstaunlich ist hingegen, dass auch die politische Führung des Landes vor dem Kastenproblem kapituliert. Mit wenigen Ausnahmen (wie etwa Mahatma Gandhi) haben sich die führenden Politiker des Landes kaum die Mühe gemacht, die Problematik genauer zu untersuchen. Die Dominanz der höheren Kasten in den Institutionen und in der sozialen Vorstellungswelt wurde stets mit nationalistischen Argumenten gerechtfertigt, während die Forderungen der mittleren und niederen Kasten als „kastenfixierter“ Partikularismus verurteilt wurden. Der Mandal-Bericht machte diesen latenten Widerspruch öffentlich, zumal im nördlichen Landesteil. Im Süden, wo die höheren Kasten das Gesellschaftsgefüge weniger deutlich bestimmen und die Herrschaft der tamilischen Brahmanen7 seit jeher Widerstand hervorrief, war die Schieflage durch Quotenregelungen auf lokaler Verwaltungsebene bereits ansatzweise korrigiert worden.

Die im Mandal-Bericht angeregte Politik der „positiven Diskriminierung“, wie sie seit 1989 praktiziert wird, zählt in allen politischen Strömungen Anhänger und Gegner. Die Brisanz des Themas erklärt sich aus der heftig geführten Debatte um die „nationale Identität“. Als Paradebeispiel hierfür mag die jüngst geschlossene Allianz zwischen einem Teil der Führung der „säkularen“ Janata-Dal-Partei und der nationalistischen BJP gelten, die das Ziel verfolgt, Sonia Gandhi von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten. Die Witwe des 1991 ermordeten Premierministers Rajiv Gandhi gilt, da italienischer Abstammung, als „Fremde“.

Vor einigen Monaten noch beteiligte sich die Janata-Dal-Partei aktiv am Sturz der BJP-Regierung unter Atal Bihari Vajpayee und bezeichnete die nationalistische Hindu-Partei als Gefahr für die „säkulare“ Demokratie und die soziale Gerechtigkeit. Dieselbe BJP stellt derzeit die Identitätsfrage in den Mittelpunkt ihrer Wahlkampagne und instrumentalisiert dafür neben der ausländischen Abstammung von Sonia Gandhi den jüngsten „Sieg“ über Pakistan in der Provinz Kaschmir.

Die BJP hat ihre eigene Vorstellung von Indien und der indischen Identität. Ihre Politik fußt auf den Ideen des Rashtriya Swayamsewak Sangh (RSS), des Verbands der nationalen Freiwilligen, aus dem eine ganze Reihe politischer und kultureller Organisationen hervorgegangen ist, die sich der Sache des Hindutva (des Hindutums) verschrieben haben (siehe untenstehenden Beitrag). Der Kern der Hindutva-Lehre ist der Mythos der Reinrassigkeit einer angeblichen Hindu-Nation. Ihr hegemoniales Projekt zeichnet sich durch eine doppelte Bewegung aus: Das Religiöse wird mit politischem Nationalismus überfrachtet und das Politische im Gegenzug sakral aufgeladen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine „natürliche“ Weiterentwicklung des Hinduismus, aber es wäre ebenso falsch, diese Variante als fundamentalistischen Hinduismus zu bezeichnen. Zwar spielt die Hindutva-Lehre auch mit der Vieldeutigkeit der hinduistischen Symbolik, doch im Grunde genommen übersteigert sie die Religionszugehörigkeit nur zu einem Kriterium von Reinrassigkeit. Das weltoffene Religionsverständnis des Hinduismus soll unter das Joch der völkischen Nation gezwungen werden.8

Religionszugehörigkeit und Reinrassigkeit

SEIT seiner Gründung im Jahre 1925 agitiert der RSS mit seiner Konzeption der Hindu-Nation gegen die Idee eines säkularen Indien. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass die Begriffe „Säkularismus“ und „Kommunalismus“ in Indien eine andere Bedeutung haben als im Westen. „Säkularismus“ bezieht sich hier weniger auf die Trennung von Staat und Religion als vielmehr auf Pluralismus und soziokulturelle Vielfalt. Letztere spiegelt die realen Verhältnisse des Landes wider, der „Kommunalismus“ hingegen verweist auf eine religiöse Gemeinschaft, die mit einer durch Rassenzugehörigkeit begründeten Nation gleichgesetzt wird. In einer multikulturellen Gesellschaft wie Indien muss der Kommunalismus notwendig in Konflikt mit dem „Säkularismus“ geraten.

Da die Führung der Kongresspartei im Kontext der vielfältigen Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken kompromisslos für die Idee des „Säkularismus“ eintrat, gab sich Indien nach der Unabhängigkeit ein auf säkularen Prinzipien gründendes politisches System. Im Gefolge bemühte sich der Kongress, die muslimische Bevölkerung zu beruhigen, und sicherte ihr zu, sich nicht in die „inneren“ Angelegenheiten der muslimischen Gemeinschaft einzumischen.

Schon bald aber wurden die Grenzen dieser Politik deutlich, da der Staat zunehmend auf seine Hüterrolle für die schwächeren Gesellschaftsschichten und die muslimischen Frauen verzichtete. So wenig der Staat unter Nehru zögerte, in der hinduistischen Gemeinschaft Reformen durchzusetzen (bezüglich Eheschließung, Erbfolge usw.), so sehr schreckte er davor zurück, die muslimische Gemeinschaft ebenso zu behandeln. Mit dieser widersprüchlichen Haltung verlor der Staat, der als Modernisierer der vielgestaltigen traditionellen Gesellschaft Indiens auftrat, an Glaubwürdigkeit.

Die nationalistische Hindu-Partei (BJP) verstand es, diesen Glaubwürdigkeitsverlust auszuschlachten, und gelangte – nicht zuletzt dank ständigem Appellieren an die bis ins Mittelalter zurückreichende Selbstwahrnehmung der Hindus als verfolgte Gemeinschaft – im März 1998 an die Macht. Damit hatte sie zum ersten Mal Gelegenheit, die säkulare Nation Indiens in einen im Wesen hinduistischen Staat umzubauen.

In diesem Zusammenhang ist auch die öffentliche Auseinandersetzung über die nationale Herkunft Sonia Gandhis zu sehen, aus der die BJP und ihre Verbündeten politisches Kapital zu schlagen suchen. Der Sinn des Manövers liegt auf der Hand: Die BJP will den demokratischen Verfassungsnationalismus durch einen Rasse- und Blutnationalismus ersetzen. Zur Zeit werden Vorschläge zur Verfassungsänderung diskutiert, die darauf abzielen, alle höheren Ämter in Politik und Verwaltung „reinrassigen“ Indern vorzubehalten. Bedenklich ist, dass offenbar auch bedeutende Liberale diese Politik des Blutrechts als schicksalsgegeben akzeptieren. Nach ihrem Dafürhalten sollen die Kinder von Sonia und Rajiv Gandhi zu den höchsten politischen Ämtern Zugang haben, Sonia selbst, die Italienerin, jedoch nicht.

Der Konflikt zwischen rückwärtsgewandtem Hindutum und einem säkularen Indien, das seine soziokulturelle Vielfalt zur nationalen Einheit integriert und die Folgen kastenorientierter Politik Schritt für Schritt beseitigt, bildet nach wie vor das zentrale Problem der indischen Demokratie. Ein Sieg der Hindutva-Lehre würde die Unzufriedenheit und die Brüche innerhalb der Gesellschaft weiter verstärken. Bleibt abzuwarten, ob die Kongresspartei, die aufgrund ihrer heterogenen sozialen Basis einer Politik der Toleranz und des Interessenausgleichs vertritt, die nötigen Mittel finden wird, um die Erwartungen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu integrieren und die Idee der indischen Demokratie mit neuem Leben zu erfüllen.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der Jawarharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi.

Fußnoten: 1 Das auf dem Prinzip „first past the post“ beruhende Mehrheitswahlrecht Indiens verschafft derjenigen Partei, die eine einfache Mehrheit gewinnt, bei der Sitzverteilung einen substanziellen Vorteil. 2 Die säkulare, als „kastenorientiert“ geltende Partei bekämpft die dominante Stellung der Brahmanen im politischen System. 3 Zu den Gründungsparteien der Einheitsfront gehörten die Janata Dal, die Linksparteien, die Samajvade Party und einige regionale Parteien. 4 Am Dienstag, dem 10. August, schossen die indischen Streitkräfte ein pakistanisches Aufklärungsflugzeug ab. Dabei kamen 13 Menschen ums Leben. 5 Das hinduistische Kastensystem besteht aus vier Hauptkasten (varna); der soziale Status des Einzelnen richtet sich nach der Reinheit bzw. Unreinheit der Kaste, in die er hineingeboren wird. Ausgeschlossen aus diesem System sind die so genannten Unberührbaren. 6 Die indische Verfassung erkennt die Notwendigkeit einer positiven Diskriminierung zugunsten jener unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen an, die nicht zu den „registrierten Kasten“ (scheduled castes) oder „registrierten Stämmen“ (scheduled tribes) gehören. In ihrem Bericht von 1980 empfahl die Mandal-Kommission eine Quotenregelung für die Verwaltung, zugunsten einer Reihe von „zurückgebliebenen“ Kasten. Die OBC, die nicht mit den Unberührbaren zu verwechseln sind, stellen 52 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ihnen sollten nach Ansicht des Mandal-Berichts 27 Prozent aller Verwaltungsposten vorbehalten bleiben. 7 Angehörige der höchsten Kaste der Priester. 8 Die herausragendste Figur in der Geschichte des RSS, M. S. Golwalkar, war ein Bewunderer Hitlers. Er leitete den RSS von 1940 bis 1974.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von PURUSHOTTAM AGRAWAL