Eine verspätete Veröffentlichung
Von ERIC HOBSBAWM *
DAS vorliegende Buch, das 1994 in Großbritannien unter dem Titel „Age of Extremes: The Short Twentieth Century, 1914 - 1991“ erschien, kam bald darauf in allen wesentlichen Kultursprachen heraus. Nur in einer nicht: Im Unterschied zu den Verlagen von Litauen (3,7 Millionen Einwohner), Moldawien (4,3 Millionen) und Island (270 000) sahen die französischen Verleger (60 Millionen Einwohner) offenbar keine Möglichkeit, das Buch in ihrer Sprache herauszubringen. Dabei erachtete die Zeitschrift Le Débat das Werk für hinreichend bedeutungsvoll, um ihm in ihrer Ausgabe vom Januar/Februar 1997 ein Dossier von immerhin knapp 100 Seiten zu widmen, in dem unter anderem mehrere französische Verleger erklärten, warum das Buch in Frankreich nicht veröffentlicht werden könne.
Der Widerstand der französischen Verleger [...] ist an sich ein merkwürdiger Vorgang. Die meisten meiner Bücher sind ins Französische übersetzt worden, von einigen gab es in letzter Zeit Taschenbuchausgaben. Als Erklärung führten die Verleger mögliche Verluste an, doch in Anbetracht der Verkaufszahlen und der Aufnahme, die das Buch in den anderen Ländern fand, leuchtete mir nicht ein, weshalb sich ausgerechnet die französische Leserschaft nicht interessieren sollte.
Die prägnanteste Erklärung für die Weigerung der französischen Verlagshäuser, das Buch zu publizieren, erschien in der amerikanischen Universitätszeitschrift Lingua Franca, die sich darauf spezialisiert hat, über die intellektuellen Debatten und Skandale anderer Länder zu berichten. „Vor 25 Jahren“, schreibt Tony Judt, Historiker an der New York University, „wäre 'Das Zeitalter der Extreme‘ noch in derselben Woche übersetzt worden. Was war also geschehen? Drei Dinge kamen offenbar zusammen, um die Übersetzung des Buchs zu verhindern: Unter den französischen Intellektuellen hat sich ein verbissener Antimarxismus breit gemacht, die Verlage schränken ihr Budget für Publikationen aus dem Bereich der Wissenschaften des Menschen mehr und mehr ein, und die Verleger – und dies ist nicht der unwichtigste Faktor – sind nicht bereit oder haben Angst, sich diesen Tendenzen zu widersetzen.“1 Dass das Buch kurz vor François Furets „Das Ende der Illusion“2 erschien („eine ebenso ambitionierte Geschichte des 20. Jahrhunderts, die in ihrer Sicht des Sowjetkommunismus dem Pariser Geschmack indes weit mehr entspricht“), ließ, so Tony Judt weiter, „die französischen Verleger zögern, ein Werk wie das von Hobsbawm herauszubringen“.
Eine ganz ähnliche Erklärung findet sich im Newsletter des Committee on Intellectual Correspondance, eine Gemeinschaftsinitiative der American Academy of Arts and Sciences, des Wissenschaftskollegs zu Berlin und der japanischen Suntory-Stiftung.3 Der unverbesserliche Linke Hobsbawm sei für die in Paris gerade angesagten intellektuellen Moden eine „unerträgliche Belastung“.
Auch Pierre Nora vom Verlag Gallimard vertritt diese Ansicht, wenn er in seiner Stellungnahme mit aller Deutlichkeit ausführt, wie sich die Lage für einen französischen Verleger darstellt: „Alle [Verleger] müssen bei der Erstellung ihres Verlagsprogramms nolens volens die intellektuelle und ideologische Konjunktur berücksichtigen. [...] Da Frankreich das am längsten und nachhaltigsten stalinisierte Land war, begegnet es nun, da der Druck von ihm genommen ist, allem, was auch nur entfernt an diese Zeit des Philosowjetismus oder Prokommunismus erinnert – und sei's der undogmatischste Marxismus –, mit umso heftigerer Ablehnung. Eric Hobsbawm fühlt sich der revolutionären Sache weiterhin verbunden – auch wenn er sich auf Distanz hält –, aus stolzer Treue und als Reaktion gegen den Zeitgeist; aber in Frankreich kommt er damit zur Zeit schlecht an.“4 Ob und in welchem Ausmaß sich der Verleger in diesem Frankreich wiedererkennt, in dem der Autor „schlecht ankommt“, wird leider nicht klar.
In Anbetracht der zitierten Argumente erwartet der Leser, in meinem Buch im wesentlichen eine lange politische und ideologische Polemik. Doch „Das Zeitalter der Extreme“ wurde nicht in diesem Geist geschrieben. Mein Buch bietet eine Gesamtgeschichte des 20. Jahrhunderts, es ist der letzte Band einer vor langen Jahren begonnenen Arbeit, die die weltgeschichtliche Entwicklung seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, seit dem Zeitalter der Revolutionen, beschreibt. An diesem Anspruch will sein Verdienst gemessen werden. Angenommen wurde es in Ländern mit solch unterschiedlichen Regierungsformen und intellektuellen Moden wie der Volksrepublik China und Taiwan, Israel und Syrien, Kanada, Südkorea und Brasilien, von den USA ganz zu schweigen. Das Buch hat sich auf drei Kontinenten gut verkauft und seine Leserschaft gefunden, in den meisten Fällen zur großen finanziellen Zufriedenheit von Autor und Verleger. Auch in Ländern, die damals mindestens ebenso so nachhaltig „stalinisiert“ waren wie Frankreich und von denen „der Druck“ auf weit spektakulärere Weise genommen wurde, fanden sich Verleger, die das Buch herausbrachten. (Zur Zeit des Kommunismus wurden meine Arbeiten weder in Russland noch in Polen oder der Tschechoslowakei veröffentlicht.)
Mit dem Erscheinen der französischen Übersetzung wird sich also zeigen, ob die Kritiker und das bildungsbeflissene französische Publikum wirklich so anders sind, wie Pierre Nora in seiner wenig schmeichelhaften Einschätzung der französischen Geisteslandschaft nahe legt.
dt. Bodo Schulze
* Historiker. Autor von „Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780“, München (dtv) 1996; „Die Blütezeit des Kapitals: Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848-1875“, Frankfurt/M. (Fischer) 1980; „Das imperiale Zeitalter: 1875-1914“, Frankfurt /M. (Fischer) 1995. Zuletzt: „Das Zeitalter der Extreme“, München (Hanser) 1995.