Neue Arbeitsplätze – ohne Gewähr, aber umso flexibler
Von MARTINE BULARD *
DAS französische Parlament wird ab 5. Oktober über den Entwurf des zweiten Gesetzes zur Arbeitszeitverkürzung beraten, der Ende Juli vom Ministerrat beschlossen wurde. Arbeitgeberverbände und führende Politiker der Rechtsparteien wenden ein, das Gesetz zwinge den Unternehmen die 35-Stunden-Woche auf. Aber auch Gewerkschaften und Teile der Linken äußern sich beunruhigt. Das erste Arbeitszeitverkürzungsgesetz vom Mai 1998 hatte zwar die Schaffung und Sicherung von rund 100 000 Arbeitsplätzen ermöglicht – 00 000 waren in Aussicht gestellt worden –, doch nur um den Preis allgemeiner Arbeitszeitflexibilisierung. Und der aktuelle Gesetzentwurf – so die Kritiker – öffnet einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen Tür und Tor.
Das erste französische Gesetz zur Arbeitszeitverkürzung hat die Massen nicht gerade mitgerissen. Mehr noch, paradoxerweise reagiert ein Großteil der Arbeitnehmer auf die Umsetzung der einst wichtigsten Forderung der Arbeiterbewegung mit Beunruhigung, wenn nicht gar mit Ablehnung, während auf Seiten der Arbeitslosen eher Gleichgültigkeit herrscht. Wird sich also eine der Symbolreformen der pluralen Linken in die lange Reihe der Blindgänger der Sozialgeschichte einordnen, oder wird sie vielmehr als große Errungenschaft in Erinnerung bleiben wie die Einführung des bezahlten Urlaubs 1936? Für ein abschließendes Urteil ist es zweifellos noch zu früh. Die Sache ist jedenfalls wichtig genug, um sich nicht an die unmittelbaren Reaktionen nach Verkündung des Gesetzes zu klammern oder in sterile Polemiken zu verfallen. Man mag es für gelungen halten oder nicht: Das Gesetz zur Arbeitszeitverkürzung wird das Arbeitsgesetzbuch und die sozialen Praktiken jedenfalls nachhaltig verändern.
Derzeit hat jeder fünfte Erwerbsfähige keine Beschäftigung, die seinen Bedürfnissen oder Fähigkeiten entspricht. Mehr als fünf Millionen Personen haben somit kein Recht auf Arbeit. Allein schon diese katastrophale Situation würde radikale Reformen rechtfertigen. Insofern besteht das Hauptverdienst des 35-Stunden-Gesetzes darin, dass es die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als gesamtgesellschaftliche Frage thematisiert und die betreffenden Akteure (Gewerkschaften, Arbeitsgeberverbände, öffentliche Hand) zu konzertierter Zusammenarbeit anhält. Die Arbeitgeberverbände, daran gewöhnt, die Verhandlungsbedingungen zu diktieren, gruben anfangs natürlich das Kriegsbeil aus, während solch unterschiedliche Gewerkschaften wie die CFDT, die CGT, die FO und die SUD mit mehr oder weniger großem Eifer sogleich die Ärmel hochkrempelten. Ihr Ziel: mehr Freizeit für die Beschäftigten, Arbeitsplätze für die Arbeitslosen.
Ein Jahr danach muss man feststellen, dass die Ergebnisse in dieser Hinsicht weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Nach Auskunft des Ministeriums für Arbeit und Solidarität wurden im Rahmen der 11 600 bis Ende Juni unterzeichneten Vereinbarungen über ein Gesamtvolumen von nahezu 2 Millionen Beschäftigten nur 85 300 Arbeitsplätze neu geschaffen und 16 500 weitere erhalten. Nimmt man diese von verschiedener Seite bestrittenen1 Angaben für bare Münze, so ergibt sich eine Arbeitsbeschaffungsquote von rund 4 Prozent. Übertragen auf die Gesamterwerbsbevölkerung ergäbe dies 540 000 neue Arbeitsplätze.
Nach Jahren arbeitsmarktpolitischer Dürre ist dieses Ergebnis zwar nicht zu verachten, doch es liegt deutlich unter den Vorhersagen des Arbeitsministeriums, das bis zu 700 000 neue Arbeitsplätze in Aussicht gestellt hatte. Um eine Vergleichszahl zu nennen: Bereits 1998 (als die beschäftigungspolitischen Maßnahmen des Ministeriums für Arbeit und Solidarität für junge Leute zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren noch kaum Wirkung zeigen konnten) entstanden 300 000 neue Arbeitsplätze.
Computergesteuerter Taylorismus
ES ist überhaupt schwierig zu bestimmen, inwieweit die Beschäftigungszunahme nur wachstumsbedingt ist und inwieweit sie tatsächlich auf eine Verkürzung der Arbeitszeit zurückgeht. So viel lässt sich immerhin sagen, dass die Arbeitszeitverkürzung die generell positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt beschleunigt hat. Darüber sollte man allerdings nicht vergessen, dass ein Großteil der im vergangenen Jahr neu geschaffenen Arbeitsplätze Teilzeitstellen sind. Das aber entspricht in den meisten Fällen gerade nicht den Wünschen der betroffenen Arbeitnehmer, wie wir noch sehen werden.
Im Übrigen drängt sich die Frage auf, ob die Gesetzesmacher mit der 35-Stunden-Woche nicht vorrangig das Ziel verfolgen, atypische Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeitregelungen zu institutionalisieren. Darauf scheint zumindest hinzudeuten, dass im zweiten Gesetz jeder Bezug auf die Schaffung von Arbeitsplätzen fehlt, während die staatlichen Beihilfen im Vorgängergesetz noch an Neueinstellungen oder die Sicherung bestehender Arbeitsplätze geknüpft waren. Inzwischen aber genügt es offenbar, überhaupt eine Vereinbarung zu unterzeichnen, um in den Genuss staatlicher Gelder zu kommen. Mit anderen Worten: Der Staat zahlt für die Umsetzung des von ihm erlassenen Gesetzes, eine selten kühne Konstruktion.
Wenn das Gesetz schon keine spezielle Arbeitsmarktpolitik verfolgt, verschafft es den Arbeitnehmern dann zumindest mehr Freizeit? Diese Schlussfolgerung wäre zwar logisch, aber dem ist nicht so. Die Arbeitgeber neigen dazu, die 35-Stunden-Woche durch flexiblere Arbeitszeitregelungen zu „erkaufen“. Gewiss erfordert die Saisonabhängigkeit von Wirtschaftssektoren wie Tourismus oder Mode mehr Flexibilität, die sich im Übrigen für alle Seiten als vorteilhaft herausstellen kann. Wenn jedoch zum Beispiel Fernsehgeräte- oder Autohersteller derartige Zwänge geltend machen, um größere Flexibilitätsspielräume durchzusetzen, so erscheint dies, gelinde gesagt, merkwürdig.
In Wirklichkeit resultieren diese „Zwänge“ aus einer schlanken Produktionsorganisation, die bei unerwarteten Auftragsspitzen zu Lieferengpässen führen kann. Starre Lagerhaltung auf Nullniveau und Personalfluktuation sind nicht erst seit Verabschiedung der ersten Gesetzestexte zur 35-Stunden-Woche die Norm. Die ersten Maßnahmen zur Arbeitszeitflexibilisierung wurden 1982 beschlossen und durch die Gesetze von 1987 und 1993 erweitert. Als Gegenleistung für eine Senkung der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit wird nun bis zu zehn Stunden am Tag und achtundvierzig Stunden in der Woche gearbeitet. Das erspart nicht nur die Zahlung von Überstundenzuschlägen. Wie Michel Miné unterstreicht2 , sind auch die Gegenleistungen nicht immer eindeutig festgeschrieben, so dass die Gesamtvereinbarungen oft recht undurchsichtig anmuten. Arbeitszeitgestaltung schlägt in Deregulierung um.
Schon heute arbeitet jeder zweite Beschäftigte mehr oder weniger regelmäßig auch an Samstagen. Der Anteil derjenigen, die zu Sonntagsarbeit gezwungen sind, ist zwischen 1990 und 1998 von 20,7 auf 25,1 Prozent gestiegen.3 Nach Schätzungen von Gérard Filoche, der seine Erfahrungen als Gewerbeaufsichtsbeamter in dem Buch „Wegwerfarbeiter, nein; 35-Stunden-Woche, ja“ schildert, haben fünf bis sechs Millionen Beschäftigte nicht regelmäßig an zwei Tagen hintereinander frei.4 Und die Zahl derer, die nach eigenen Angaben unregelmäßige Arbeitszeiten hinnehmen müssen – und daher dem Gutdünken ihres Arbeitgebers ausgeliefert sind – hat zwischen 1990 und 1998 um die Hälfte zugenommen. Aus diesem Grund nutzte man die Verhandlungen zur Arbeitszeitverkürzung, um bestimmte Praktiken, die bisher im Ermessen des Arbeitgebers standen, (auf akzeptable Weise) vertraglich zu regeln. Mitunter führte dies sogar zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen. So etwa in der Textilindustrie, wo eine Verkürzung der maximalen Wochenarbeitszeit und eine bessere Planung der diesbezüglichen Fluktuationen vereinbart wurde.
Schwankende Arbeitszeiten können durchaus als positiv erlebt werden, vorausgesetzt, sie werden vorausschauend geplant und die individuelle Regelung der Arbeitszeiten ist für die Beschäftigten akzeptabel – was nicht heißt, dass alle zur gleichen Tageszeit arbeiten sollen: Ein lediger junger Mann hat andere Bedürfnisse als ein Familienvater mit zwei Kindern. Unerträglich wird Arbeitszeitflexibilisierung erst dann, wenn die Arbeitszeit von Woche zu Woche unvorhersehbar schwankt und den Beschäftigten nichts anderes übrig bleibt, als sich mit den Arbeitszeitvorgaben ihres Betriebs abzufinden. Dass die Arbeitgeber wenig geneigt sind, solche anarchischen Regelungen aufzugeben, versteht sich: Schließlich sparen sie dadurch die Überstundenzuschläge von 25 bzw. 50 Prozent. Die Menschen werden zur einzigen Variablen des Produktionsgeschehens.
Im Allgemeinen scheinen die Vereinbarungen zur 35-Stunden-Woche in Betrieben, wo es bereits eine stark flexibilisierte Arbeitszeitordnung gab, den Arbeitnehmern eher Vorteile gebracht zu haben: Sie konnten ihre Erfahrungen einbringen. In Betrieben hingegen, in denen bislang ein starres Arbeitszeitsystem existierte, wurde die Flexibilisierung mitunter im Hauruck-verfahren von oben durchgedrückt. Die Betriebsleitung der Sparte Nutzfahrzeuge bei Renault etwa bot zehn bis fünfzehn zusätzliche Urlaubstage für die Abschaffung der bezahlten Arbeitspause von täglich zwanzig Minuten an. Eventueller Bildungsurlaub würde auf diese Tage angerechnet. Gleichzeitig sollte jeder Beschäftigte vier Monate im Jahr Samstagsarbeit leisten, während die Arbeitnehmer bisher selbst entscheiden konnten, ob sie samstags arbeiten wollen (bei Zahlung von Überstunden oder ersatzweise freigewählten Ruhetagen). Nun sollten sie zum einen nicht mehr selbst entscheiden dürfen und zum anderen auch noch auf die Zuschläge verzichten. Und was die sechstausend angekündigten Neueinstellungen betrifft, so hätten sie nicht einmal den geplanten Arbeitsplatzabbau wettgemacht. Ein schlechter Handel also, den die Beschäftigten denn auch ablehnten.
Bei Peugeot erweisen sich die angeblich vereinbarten 35 Stunden sehr schnell als 36 Stunden und 40 Minuten, wenn man die abgeschafften Pausenzeiten und gestrichenen Sonderurlaubstage berücksichtigt. Überhaupt bildete die Berechnung der Arbeitszeit in vielen Verhandlungen einen zentralen Streitpunkt, da die Arbeitgeber oft nur die „eigentliche“ Arbeit bezahlen wollten: Die Fahrzeit zur Baustelle etwa fiele dann in die „Freizeit“ des Arbeitnehmers.
Eine weitere fixe Idee der Arbeitgeber sind längere Betriebszeiten. Bisher war zwar noch niemand in der Lage, die Wirtschaftlichkeit solcher Maßnahmen zu belegen, doch jeder meint zu wissen, wie man es noch besser machen könnte, was manchmal geradezu absurde Formen annimmt. Den Monteuren, die bei Wetterschäden die Hochspannungsleitungen bzw. undichten Gasleitungen zu reparieren haben, schlug das staatliche Strom- und Gasversorgungsunternehmen EDF-GDF etwa vor, sie sollten sich als Gegenleistung für einige zusätzliche Urlaubstage zu flexibleren Arbeitszeiten bereit finden, um „den Dienst am Kunden zu verbessern“ – ein merkwürdiges Ansinnen, wenn man bedenkt, dass diese Monteure sowieso 24 Stunden am Tag „Bereitschaft“ haben.
Allerdings würden nach dem neuen Modell die Überstundenzuschläge gestrichen, die bei Notfällen außerhalb der regulären Arbeitszeit bislang gezahlt wurden. Aber der Abteilungsleiter, der diese geniale Idee in die Welt gesetzt hat, wird von seinen Vorgesetzten eben auch nur danach beurteilt, ob er die Produktionskosten pro Kilowattstunde herabzusetzen in der Lage ist – was durch eine Senkung der Lohnsumme allemal leichter zu bewerkstelligen ist als durch höheren Umsatz: eine seltsame Konzeption von öffentlichen Dienstleistungen.
Längere Maschinenlauf- und Öffnungszeiten erhöhen zwar nicht unbedingt die betriebswirtschaftliche Effizienz, haben jedoch vielfach schlechtere Arbeitsbedingungen zur Folge. So erklärt der Unternehmensberater René Vincent: „Auf der einen Seite reduziert man die Arbeitszeit, auf der anderen erhöht man die Betriebszeit. Folglich verschieben sich die individuellen Arbeitszeiten, so dass die Beschäftigten immer seltener zur gleichen Zeit am Arbeitsplatz sind. Manchmal führt dies zu einem verstärkten Austausch von Kenntnissen, was für alle Seiten positiv ist. In anderen Fällen werden die Aufgaben aber stärker zergliedert und in starre Verfahrensregeln gezwängt, um bei „Schichtwechsel“ die Kontinuität der Betriebsabläufe zu garantieren. Berufe, in denen diese Art von Taylorisierung bisher unbekannt war, zumal Dienstleistungsberufe, müssen sich heute damit auseinandersetzen.“
Manche Beobachter, darunter Marc Bartoli und Francis Cohet, sprechen in diesem Zusammenhang von „computergestütztem Taylorismus“. Gerade heute, wo selbstbestimmtes Arbeiten, aktive Informationsverarbeitung und Gruppenarbeit nach allgemeinem Dafürhalten eine zentrale Komponente von Wirtschaftlichkeit sind, bewirkt dieser Ansatz eine erhebliche Verschwendung von Human- und Sachressourcen.5 So schlägt die Flexibilisierung unvermutet in starre Strukturen um.
Darüber hinaus zwingt die Deregulierung der Arbeitszeit zur Einrichtung von Teilzeitgruppen, um Besetzungslücken zu schließen. Die betreffenden Arbeitnehmer, die vielfach gerne einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen würden6 , müssen sich nicht nur mit weniger Stunden und mickrigen Löhnen abfinden, sondern obendrein eine völlige Zerstückelung ihres Tagesablaufs hinnehmen, mit wechselnden Arbeitszeiten, 7-Tage-Arbeitswoche, obligatorischen Überstunden, Leerzeiten zwischen zwei Jobs usw. In Amerika nennt man sie wegen dieser absoluten Disponibilität workers on call, Arbeitnehmer auf Abruf. Und dies ist keineswegs ein Randphämomen.
Gewiss gibt es Fälle, in denen sich Arbeitnehmer freiwillig für eine Teilzeitbeschäftigung entscheiden, doch im Allgemeinen erweist sich Teilzeitarbeit als „inegalitäre Form der Arbeitszeitreduzierung und -gestaltung“, wie es im höchst offiziellen Bericht des „Höheren Rats für Beschäftigung, Einkommen und Kosten“ heißt.7 Gerade Frauen und Jugendliche geraten dadurch in eine regelrechte Ghettosituation. Umso unverständlicher ist, dass sich die Regierung standhaft weigert, diesem Skandal durch eine Überarbeitung der finanziellen Anreize zur Einstellung von Teilzeitarbeitskräften ein Ende zu bereiten.
Auch Führungskräfte bleiben von den Auswirkungen dieser Ideologie der ständigen Verfügbarkeit und endlosen Arbeit nicht verschont. Mit 42,8 Stunden im öffentlichen Dienst und 46,4 Stunden in der kaufmännischen oder Verwaltungsabteilung eines Privatunternehmens ist ihre durchschnittliche Wochenarbeitszeit nicht nur recht lang, auch die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit verschwimmen zusehends. Anstatt dieser Entwicklung einen Riegel vorzuschieben, führt das neue Gesetz bei den Führungskräften eine ungerechtfertigte Unterscheidung zwischen Arbeitsgruppenmitgliedern und „Einzelkämpfern“ ein (vgl. den Beitrag über die zehn wesentlichen Punkte des neuen Gesetzentwurfs). Damit erspart man sich eine Auseinandersetzung mit dem sich wandelnden Tätigkeitsprofil von Führungskräften und den allgemeinen Veränderungen in der Arbeitsorganisation.
Humanisierung der Marktgesetze
SEIT den allerersten Anfängen des Kapitalismus entscheiden allein die Arbeitgeber über den Einsatz der Arbeitskraft, auch wenn sie sich im Laufe der Entwicklung mit gewissen Rahmenbedingungen abfinden mussten, die ihnen von außen vorgeschrieben wurden: Das Sozialrecht ist durchaus keine Fiktion. Würden sich die Lohnabhängigen ihre Arbeitszeit aber wieder aneignen und also selbst über die Investitionen oder den Einsatz der Unternehmensressourcen entscheiden, der ganze Gesellschaftsvertrag, wie er aus dem industriellen Durchbruch des 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist, würde aus den Fugen geraten. Die Arbeitgeber lehnen diese Perspektive natürlich ab, und die Regierung traut sich nicht.
In Wahrheit verfolgt auch das Gesetz zur 35-Stunden-Woche nur das Ziel, die Arbeitskosten zu senken; von grundstürzenden Veränderungen keine Spur. Die Hydraulik, die sich Arbeitsministerin Martine Aubry ausdachte, um einer offenen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) auszuweichen, hat in diesem Zusammhang Symbolwert (siehe untenstehenden Artikel). Nach der neuen Regelung würde ein SMIC-Bezieher bei einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden 6 881 Franc brutto erhalten, sein Kollege, der nur 34 Stunden arbeitet und also als Teilzeitbeschäftigter gilt, nur 5 990 Franc – eine teure Stunde Freizeit. Auch das System der staatlichen Beihilfen zeugt nicht gerade von grundsätzlichem Reformwillen. Für einen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer, der das 1,8-fache des SMIC oder mehr verdient, kann ein Unternehmen, das die 35-Stunden-Woche einführt, jährlich nur 4 000 Franc von den fälligen Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung einbehalten; für einen Arbeitnehmer, der nur den SMIC verdient, steigt dieser Betrag auf 21 500 Franc im Jahr – ein deutlicher Anreiz, die Löhne niedrig zu halten. Ein Arbeitgeber, der seinen Beschäftigten nur den SMIC zahlt, spart also aufs Jahr gerechnet die Lohnsumme von zwei Monaten. Darauf wird er wohl kaum zugunsten von Fortbildungsmaßnahmen oder Lohnerhöhungen verzichten wollen.
Was als dynamisierender Faktor dargestellt wird, erweist sich somit eher als Prämie für Immobilität und als Subventionierung von Niedriglöhnen. Dabei zählt Frankreich zu den kapitalistischen Industrieländern mit den niedrigsten Lohnkosten. Nach Angaben der OECD liegt die Arbeitsproduktivität in Frankreich höher als in den Vereinigten Staaten; sie erreicht fast das Niveau Japans. Der Faktor des Kapitaleinsatzes zur Erzielung einer gegebenen Produktionsmenge hingegen beträgt in Frankreich 132, in den USA 100 und in Japan nur 77. Das eigentliche Problem wäre also nicht eine Intensivierung der Arbeit, sondern eine bessere Nutzung des Kapitals.
Faktisch strebt die Regierung nur eine Humanisierung der Marktgesetze an. Die Marktgesetze selbst gelten ihr als unangreifbar und unabänderlich. Sie versucht lediglich, die gesellschaftliche Akzeptanz durch ein vielleicht aktiveres und mehr zielgruppenorientiertes Umverteilungssystem zu erhöhen. Genau darin besteht die Ambivalenz des Gesetzes zur 35-Stunden-Woche: Es eröffnet ein interessantes Verhandlungsfeld, begrenzt es aber sogleich wieder. So schlagen die Ökonomen Gilbert Cette und Dominique Taddei, zwei der Väter des aktuellen Gesetzentwurfs, zwar die Vereinbarung von „Chartas über selbstbestimmte Arbeitszeitverkürzung“ vor (Selbstbestimmung sei hier der Schlüssel zum Erfolg), doch gleichzeitig empfehlen sie, die Lohnkosten einzufrieren und wenn möglich zu senken, was solche Vereinbarungen inhaltlich ad absurdum führt.8
Die Kosten des Übergangs zur 35-Stunden-Woche wären demnach zu einem Drittel durch Produktivitätszuwächse zu finanzieren (was den Beschäftigungseffekt mindert), zu einem weiteren knappen Drittel durch Lohnzurückhaltung während der kommenden Jahre (was einen Anstieg der Konsumnachfrage verhindert) sowie durch öffentliche Beihilfen (die besser an anderer Stelle Verwendung fänden). Alle Einkommen werden belastet, mit Ausnahme der Kapitaleinkünfte. Nichts anderes als diese ideologische Borniertheit blockiert den Weg zur Vollbeschäftigung. Nebenbei bemerkt: Auch die Einführung der 4-Tage-Woche würde nicht mehr qualifizierte Arbeitsplätze schaffen, solange diese Blockade nicht behoben ist.9
Dabei geht es nicht nur um eine gerechtere Aufteilung der Wertschöpfung zugunsten der Lohnabhängigen, sondern um „einen neuen Rechtsstatus des arbeitenden Menschen“, wie Jean-Christophe Le Duigou und Roland Le Bris formulieren, um „einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Rechte und Verantwortlichkeiten der Bürger erweitert“10 . Frankreich gehört zu den Ländern mit der weltweit niedrigsten Beschäftigungsquote in den Altersgruppen der unter 25- und über 55-Jährigen. Diese Fokussierung der Beschäftigungsstruktur auf die 25- bis 54-Jährigen (gar auf die 30- bis 50-Jährigen) ist absurd. Wäre es nicht besser, den Lebenszyklus des Einzelnen ausgewogener zu gestalten, weniger stressig für die 25- bis 54-Jährigen, weniger ausgrenzend für die über 55-Jährigen und weniger hart für die 20- bis 25-Jährigen? Wäre es nicht besser, die Arbeitszeit zu entzerren und allen Beschäftigten die Teilnahme an Fortbildungsprogrammen zu ermöglichen? Und warum sollte man nicht auch mit der Trennung zwischen Unternehmen und Außenwelt Schluss machen und die Arbeitszeit auch im Transportwesen, im öffentlichen Dienst, im Handel usw. verkürzen, wie es in manchen italienischen Städten mit lokalen Entwicklungsprojekten versucht wird? An Ideen fehlt es nicht, nur muss man zunächst die Hauptquelle der Arbeitslosigkeit austrocknen: den Wahnsinn massenhafter Arbeitsplatzvernichtung.
Im Hintergrund der Debatte über Arbeitszeitverkürzung zeichnet sich die gesamtgesellschaftliche Frage ab, ob wir dem Leben (in und außerhalb der Arbeit) wieder einen Sinn verleihen oder aber eine Zunahme von Ausgrenzungsphänomenen hinnehmen wollen. Letztere können die Gestalt von Schwarzarbeit und kleinen Dealereien annehmen, was in bestimmten Stadtteilen im Extremfall zur Entstehung von hierarchisch organisierten, gewalttätigen Banden führt. Eine andere, „harmlosere“ Form der Ausgrenzung wäre darin zu sehen, dass sich der Einzelne auf sich selbst zurückzieht, dass die Familienbande zerreißen, weil auf Grund zersplitterter Arbeitszeiten keine Zeit mehr bleibt für die Kinder, für soziale Aktivitäten, für Freizeitgestaltung außer Haus. Und wer noch einen sicheren Arbeitsplatz und ein mehr oder weniger anständiges Einkommen besitzt, wird zunehmend versucht sein, lieber in seiner Ecke zu bleiben, um sich gegen die bedrohlichen Folgeerscheinungen dieser Entwicklung zu schützen. Diese Szenario wird nicht mit Notwendigkeit eintreten, aber es ist möglich. Allein schon deshalb ist es vordringlich, eine öffentliche Debatte in Gang zu setzen und die Menschen wachzurütteln.
dt. Bodo Schulze
*Journalistin