10.09.1999

Wenn Fünfzehnjährige töten

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Wenn Fünfzehnjährige töten

Von unserem Korrespondenten DAVID ESNAULT *

GRAUSAME Gewalttaten, Selbstmorde, Prostitution – ganz Japan ist beunruhigt über die dramatisch anwachsende Jugendkriminalität im Lande. Ist es möglich, dass in dieser „scheinbar perfekt funktionierenden Gesellschaft“ die Jugend unter dem Eindruck der Videospiele und Fernsehserien einem Tötungsrausch verfallen ist? Oder spiegelt die extreme Gewalttätigkeit vielleicht die permanente Überforderung einer Leistungsgesellschaft, den Zerfall der familiären Strukturen, die – korrumpierende – Vorherrschaft des eldes und die Auswirkungen eines extrem selektiven Schulsystems, in dem für Schwäche keinerlei Raum ist?

Hat die japanische Jugend „die Grundbegriffe von Gut und Böse und die Ehrfurcht vor dem Leben“ verloren? Diese Frage stellt sich die japanische Regierung, nachdem in den letzten Jahren eine Serie von Gewalttaten Jugendlicher das Inselreich erschütterte.

Das erste dieser großes Aufsehen erregenden Vorkommnisse war ein grausames Verbrechen in Kobe im Juni 1997, als ein vierzehnjähriger Junge, nachdem er zuvor zwei kleine Mädchen ermordet hatte, ein elfjähriges Kind enthauptete. Den Kopf seines Opfers deponierte der Junge vor seiner Schule zusammen mit einem Bekennerbrief, in welchem er erklärte, er habe sich mit diesem Mord an einer Gesellschaft rächen wollen, die ihn „unsichtbar gemacht“ habe.

Der zweite Fall, der die öffentlichen Emotionen höher schlagen ließ, geschah am 28. Januar 1998 in Utsunomiya, einer mittelgroßen Stadt 100 Kilometer nördlich von Tokio. Dort erstach ein dreizehnjähriger Junge seine Englischlehrerin mit der Begründung, dass er es nicht länger ertragen habe, für sein häufiges Zuspätkommen von ihr getadelt zu werden.

Zwei Wochen später, am 10. Februar 1998, überfielen in Tottori, einem Bezirk 120 Kilometer nordwestlich von Kobe, vierzehnjährige Zwillinge auf der Straße eine zufällig vorbeikommende ältere Dame und ermordeten sie mit Messerstichen. Widerstandslos ließen sie sich noch am Tatort verhaften und erklärten sich glücklich, nun nicht mehr „in die Schule gehen zu müssen“. Wenige Tage später erstach in Higashi Matsuyama, nördlich von Tokio, ein dreizehnjähriger Schüler einen Klassenkameraden, der sich über ihn mokiert hatte.

So weit einige Beispiele aus japanischen Zeitungen, die die Eskalation der Gewalt bezeugen.

Doch es werden auch andere, ungewöhnlichere Formen von Gewalt registriert. Katsumi Miya, Inspektor in der Abteilung für Jugendkriminalität im Polizeipräsidium in Osaka1 , äußert sich beunruhigt über die immer häufigeren Fälle von Menschenjagd, jenem als oyajo gari bekannten Phänomen. Jugendliche, so berichtet er, die sich mitunter nicht einmal kennen, tun sich für einen Abend zusammen und überfallen ziellos Passanten, bevorzugt Angetrunkene oder andere hilflose Opfer, etwa Obdachlose. Die Tokioter Polizei nahm kürzlich eine Bande von zwölf Jungen im Alter zwischen zehn und siebzehn Jahren fest, die in den vergangenen fünf Monaten (angeführt von einem Zwölfjährigen) sechsunddreißig Überfälle auf ältere Personen verübt hatten. Das geraubte Geld – umgerechnet insgesamt 18 000 Mark – hatten die Jugendlichen in Spielhallen für Videospiele ausgegeben.

Eine weitere Form von Kriminalität, der die Medien besondere Aufmerksamkeit schenken, ist die Prostitution junger Mädchen, meistens Oberschülerinnen. Die euphemistische Umschreibung enjo kosai2 ist allgemein verbreitet. Abends findet man in Kabuki-chô, dem Vergnügungsviertel im Tokioter Stadtteil Shinjuku, überall kleine Aufkleber an Straßenschildern oder in Telefonkabinen mit Nummern von „Telefon-Clubs“. Diese Vermittlungsstellen bringen – manche unter einer Deckadresse, andere mit realem Domizil – Kunden in Kontakt mit einem jungen Mädchen durch die Weitergabe von deren Handynummer. Die Klienten, in der Mehrzahl Männer zwischen vierzig und sechzig Jahren (Arbeitnehmer, Geschäftsleute, Familienväter), zahlen 500 bis 800 Mark für ein Rendezvous. Die jungen Mädchen prostituieren sich nicht etwa aus Armut, sondern scheinen das Geld hauptsächlich in Markenkleidung, Kosmetika oder teure Accessoires zu investieren. Nach Yomiuri-TV, einem der vier großen japanischen Fernsehkanäle, hat sich bereits jede zwanzigste Oberschülerin prostituiert. Die Polizei verfügt zwar über keine genauen Statistiken, doch geht man davon aus, dass das Phänomen in Japan im Allgemeinen unterschätzt wird und ständig an Bedeutung zunimmt.

Dr. Masao Nakazawa, Psychiater am Yoyogi-Krankenhaus im Zentrum von Tokio, beschäftigt sich speziell mit Gewalt in der Familie. Er ist fassungslos darüber, in wie vielen Familien Kinder ihre Eltern schlagen, und berichtet von einem Jungen, der es nicht geschafft hat, auf das Gymnasium seiner Wahl zu kommen. Als wäre sein ganzes Leben durch dieses Scheitern konditioniert, fiel der Jugendliche auch bei der Zulassungsprüfung zur Universität durch. Er verfiel in Depression, machte seine Eltern für sein Versagen verantwortlich und terrorisiert und tyrannisiert seither seine ganze Familie, schlägt sie, bedroht sie mit dem Messer usw. Die Polizei weigert sich einzugreifen, mit der Begründung, es handle sich um eine Privatangelegenheit, zumal der Sohn außerhalb des Hauses unauffällig ist. In seiner Praxis, so berichtet Dr. Nakazawa, sind derart dramatische Familienverhältnisse keineswegs eine Seltenheit.

Auch an den Schulen hat sich eine spezielle Form der Gewalt verbreitet: das sogenannte ijime. Wörtlich bedeutet dieses Wort „foltern“ (ijimeru), aber man übersetzt es treffender mit „die Schwächsten aufs Korn nehmen“. In einer Klasse sucht sich eine Gruppe von Schülern einen Prügelknaben und drangsaliert ihn monatelang, weil er „die Harmonie der Gruppe stört“. Auch wenn die Qualen vorwiegend psychischer Natur sind, wird immer wieder auch zu physischer Brutalität gegriffen. Die Lehrer schließen die Augen vor derartigen Grausamkeiten, die alles andere als ein Erstsemesterscherz oder Initiationsritual sind. Nach einer umfassenden Untersuchung des Erziehungsministeriums von 1997 gibt ein Drittel der Schüler an, Opfer von ijime zu sein oder gewesen zu sein, vor allem auf der höheren Schule, wo sich das Problem in den letzten Jahren zugespitzt hat. Mitunter ist das Mobbing derart quälend, dass Jugendliche Selbstmord begehen oder umgekehrt ihre Hauptpeiniger ermorden.

1996 gab es nach dem Jahresbericht des Erziehungsministeriums 10 575 Zwischenfälle.3 Das ist eine Steigerung von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 1997 wurden über 1 300 Zwischenfälle zwischen Schülern und Lehrern registriert, eine Zunahme um 50 Prozent gegenüber 1996. Diese Zahlen stimmen mit denen der Polizei überein, die landesweit über den Anstieg der Jugendkriminalität beunruhigt ist. Die Zahl der besonders gewalttätigen Überfälle und Verbrechen ist zwischen 1996 und 1997 um fast 50 Prozent gestiegen – eine Tendenz, die sich 1998 fortgesetzt hat. Mädchen sind im Übrigen ebenso häufig beteiligt wie Jungen.

Mehr noch als das Anwachsen der Kriminalität an sich sorgt sich die Gesellschaft um die zunehmende Brutalität und das sinkende Alter der Täter. Fast grundlos bzw. aus nichtigen Motiven begehen sehr junge Heranwachsende äußerst gewalttätige Überfälle. Einem Bericht des Erziehungsministeriums zufolge sind „die Täter scheinbar normale Schüler; diese Schüler geben nur winzige, unbemerkt bleibende Warnsignale, wie unangemessene Reaktionen bei kleinen Anlässen“.

Der unerbittliche Zwang zum Erfolg

DAS alles veranlasst den Schriftsteller Kaoru Takamura zu der Frage: „Haben sich in den letzten zwanzig Jahren grundlegende Veränderungen in der Psyche der jungen Japaner vollzogen? Möglicherweise ist die japanische Gesellschaft aus den Fugen geraten, auch wenn alles scheinbar normal funktioniert.“4 Ist die Neigung der Jugendlichen zur Gewalt tatsächlich eine tiefgreifende Erscheinung, eine Störung des empfindlichen Gleichgewichts einer hochzivilisierten und insgesamt eher wohlhabenden Gesellschaft? Man hat vorschnell Fernsehen, Videospiele und mangas5 dafür verantwortlich gemacht und sie beschuldigt, einen unheilvollen Einfluss auf die Jugendlichen auszuüben. In einem Punkt scheint dieser Verdacht unzweifelhaft begründet: dem Butterfly-Messer.

Dabei handelt es sich um ein Messer mit verziertem Doppelgriff und einer scharfen Klinge, mit dem die meisten Überfälle in jüngster Zeit ausgeführt wurden. In Mode kam das Butterfly-Messer durch eine Fernsehserie mit dem Titel „Gift“ (Geschenk), in der der Held diese Waffe mit großer Geschicklichkeit handhabte. Eine andere Serie, „GTO“, in der ein bei Jugendlichen sehr beliebter Schauspieler auftrat und die es auch als manga gab, soll ebenfalls Einfluss gehabt haben. Doch es ist ein großer Unterschied, ob man ein Messer trägt oder jemanden damit tötet. Dass Jugendliche diese Waffe besitzen, liegt doch wohl in erster Linie daran, dass sie in jedem beliebigen Geschäft für 30 bis 100 Mark erworben werden kann.

Die Spieler in den großen Video-Spielhallen von Umeda bis Osaka, von Akihabara und Ikebukuro bis Tokio sind in der Regel nicht zwölf oder fünfzehn, sondern zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Und die vielen Stunden, die sie inmitten des ohrenbetäubenden Lärms vor einem der Bildschirme zubringen, dürfte sie eher abstumpfen als in Erregung versetzen, zumal die Spiele rein repetitiver Natur sind. „Es gibt keine Untersuchung, in der die Gefährlichkeit von Videospielen nachgewiesen würde“, unterstreicht Junichi Seto, ein Journalist des Mainichi Shimbun, der sich auf das Thema Jugendkriminalität spezialisiert hat. Ist wirklich zu befürchten, dass die Jugendlichen nicht zwischen virtuellem Bild auf dem Bildschirm und dem wirklichen Leben unterscheiden können?

Die tieferen Ursachen dieses Anwachsens der Gewalt liegen in Wirklichkeit in der Auflösung der Familie, der Krise des Erziehungssystems und den Folgen der ausschließlich wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik seit 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten die Japaner ihre Zeit und ihre Energie auf die Arbeit und das Unternehmen; dabei vernachlässigten sie das Familien- und Gemeinschaftsleben.

Die dadurch verursachten sozialen Schäden sind offenkundig: In einer Gesellschaft, die (im Gegensatz zur schon seit langem individualistischen westlichen Gesellschaft) durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bestimmt ist, litten die menschlichen Beziehungen erheblich. Die traditionellen Werte zerfielen allmählich, und die Jugend hatten keine Orientierung mehr. An die Stelle der früheren Großfamilien trat die Kleinfamilie – häufig mit Einzelkindern. In diesem hyperurbanisierten Land wohnen Großeltern, Vettern oder Kusinen vielfach in großer Entfernung voneinander, und die Fahrzeiten sind so lang, dass man sich nur selten sieht. Das zweite Solidarsystem, die Nachbarschaft, ist durch die Verstädterung und den Verlust der traditionellen Gemeinschaftswerte ebenfalls im Schwinden begriffen. Früher ließen die Eltern, wenn sie die Wohnung verließen, ihre Kinder gewöhnlich in der Obhut der Nachbarn. Heute bleiben sie sich selbst überlassen.

Die Eltern – insbesondere der Vater, der die Autorität darstellt – nehmen sich immer weniger Zeit für die Kinder. „Die Japaner haben ein Haus, aber sie haben kein Heim mehr“, stellt Inspektor Naritada Nishioka, der stellvertretende Direktor der Abteilung für Jugendkriminalität bei der Polizei in Osaka fest. Heutzutage ist es äußerst schwierig, der jungen Generation gegenüber gesellschaftliche Werte hochzuhalten, wenn diese überall um einen herum zusammenbrechen: Man denke nur an die wirtschaftspolitischen Skandale der letzten zehn Jahre, in welche die traditionellen Vorbilder – Unternehmer, Politiker, Staatsbeamte – verwickelt waren, oder an die Allmacht des Geldes, wie sie in dem Phänomen der Schülerinnenprostitution zum Ausdruck kommt.

Nicht nur die Institution der Familie, auch das Erziehungssystem befindet sich in einer tiefen Krise. Jenes nach 1945 allein am Wirtschaftswachstum ausgerichtete Schulmodell passt einfach nicht mehr richtig. „Heute haben alle Jugendlichen das gleiche Ziel: auf das beste Gymnasium zu gehen, um auf die beste Universität zu kommen, um in das beste Unternehmen zu gelangen und gut zu verdienen und reich zu werden“, fasst der Journalist Juniuchi Seto zusammen. „Ihre Sicht der Dinge ist äußerst materialistisch.“

Die Auslese erfolgt früh. Nach der dreijährigen Mittelstufe entscheidet eine Prüfung über die Zukunft der Fünfzehnjährigen. Denn um in ein bedeutendes Unternehmen oder in ein hohes politisches Amt zu gelangen, muss man in einer der fünf Eliteuniversitäten studiert haben, in welche man nur hineingelangt, wenn man nach dem Besuch eines der wenigen renommierten Gymnasien eine entsprechende Aufnahmeprüfung bestanden hat.

Um dieses Ziel zu erreichen, büffeln die Gymnasiasten unentwegt: Nach sechs Stunden Unterricht pro Tag plus ein oder zwei Stunden im schulinternen, quasi obligatorischen Sport- oder Kulturklub besuchen zwei Drittel der Schüler zwei- bis viermal pro Woche noch einen jaka, einen Privatkurs. Die Eltern bringen dafür beträchtliche finanzielle Opfer. Eine Wiederholung der Klasse gibt es nicht. „Die Lehrer versuchen, den schlechten Schülern zu helfen, aber ehrlich gesagt, viel tun können sie nicht“, räumt Saeki, der Schulleiter in Sendai ein. Unter dem massiven Druck der Eltern und der Schule werden viele Gymnasiasten gewalttätig, oder sie resignieren und weigern sich, weiter in die Schule zu gehen. Längst ist allen Beteiligten im Erziehungssystem bekannt, dass dieses Verhalten zu einem Hauptproblem wird.

In Politik, Medien und Gesellschaft erheben sich immer mehr Stimmen, die das (vor fünfzig Jahren unter US-amerikanischem Einfluss erlassene) Jugendstrafgesetz revidieren wollen, das stark auf eine Reintegration der Kriminellen ausgerichtet ist. Die vor zwei Jahren entstandene „Vereinigung der Opfer von Jugendkriminalität“ verlangt eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters von sechzehn auf vierzehn Jahre, die Beteiligung eines Staatsanwalts am Prozess und die Öffentlichkeit der Verhandlung. Eine Revision des Gesetzes käme zwar gewiss dem Gerechtigkeitswunsch der Opfer wie der Bevölkerung insgesamt entgegen, aber das Ansteigen der Gewalt würde dadurch voraussichtlich nicht verhindert werden, wie man am Beispiel der US-amerikanischen Gesellschaft ersehen kann.6

Für Dr. Nakazawa „ist nicht die Jugend gestört, gestört sind vielmehr die Erwachsenen. Betrachten Sie die Entwicklung des Landes in den letzten fünfzig Jahren, betrachten Sie die Situation heute: Die Regierung investiert gewaltige Summen zur Rettung der Banken, aber so gut wie nichts im sozialen Bereich.“

dt. Sigrid Vagt

* Journalist, erhielt 1998 den Preis „Reporter Japans“.

Fußnoten: 1 Die Jugendkriminalität ist in Osaka, der zweitgrößten Stadt Japans, überdurchschnittlich hoch. 2„Enjo“ bedeutet 'wirtschaftlich unterstützen‘ und „kosai“ 'Leute frequentieren‘. 3 Gesamtzahl der Vorfälle, einschließlich des „ijime“. 4 „La société japonaise et le psychopathe“, von Takamura Kaoru und Noda Masaaki, Cahiers du Japon, Paris, Frühjahr 1998. 5 In Millionen Exemplaren verkaufte Comics manchmal Gewalt verherrlichenden oder erotischen Inhalts. 6 Vgl. Dudhie Venkatesh, „Jeunes à la dérive dans les villes américaines“, Le Monde diplomatique, Mai 1994, und Loic Wacquant, „Die Armen bekämpfen“, Le Monde diplomatique, April 1999.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von DAVID ESNAULT