Bouteflikas raffiniertes Spiel mit Allianzen
Von AKRAM ELLYAS und HATEM HAMANI *
NATIONALE EINTRACHT“ heißt der Gesetzentwurf, über den das Volk in Algerien am 16. September abstimmt, doch im Vorfeld des Referendums ist es im Land keineswegs einträchtig zugegangen. Zehn Jahre dauert nun der Krieg, und über 100 000 Menschen sind bereits ums Leben gekommen. Die Menschen erhoffen sich nichts so sehr wie Frieden und Versöhnung. Der neue Präsident des Landes wird danach beurteilt werden, ob ihm die gesellschaftliche Aussöhnung gelingt und ob er dem sozialen Elend und der Korruption ein Ede bereiten kann.
Am 16. September 1999 werden die Algerier – zum siebten Mal seit 1995 – zu den Urnen gerufen, um in einem „Volksreferendum“ über eine Gesetzesvorlage zur „nationalen Eintracht“ abzustimmen. Das von Präsident Abdelaziz Bouteflika initiierte Gesetz, das bereits die parlamentarischen Hürden genommen hat – am 8. Juli im Parlament (228 Jastimmen, keine Gegenstimme, 16 Enthaltungen) und am 11. Juli im Senat (131 Jastimmen, keine Gegenstimme, 5 Enthaltungen) –, sieht eine Amnestie für alle Islamisten vor, die nicht an kollektiven Massakern, Vergewaltigungen oder Attentaten auf öffentlichen Plätzen beteiligt waren. Alle übrigen Mitglieder bewaffneter Gruppen, die in Verbrechen dieser Art involviert waren, sollen nach den Bestimmungen in den Genuss von Strafmilderungen kommen oder Bewährungsstrafen erhalten, unter der Bedingung, dass sich die Betroffenen nach Verkündigung des Gesetzes den Behörden stellen und eine detaillierte Liste ihrer bisherigen Aktivitäten vorlegen.
Im Falle einer Ablehnung der Gesetzesvorlage werde er zurücktreten, ließ Bouteflika im Vorfeld feierlich verkünden. Doch mit dieser Möglichkeit dürfte kaum zu rechnen sein, denn innerhalb der Bevölkerung stößt der Text auf allgemeine Zustimmung. Außerdem gibt es nur wenige Algerier, die sich den vorzeitigen Abgang eines Präsidenten wünschen, der mit seinen zahlreichen Versprechungen während des Wahlkampfs ungeheure Erwartungen geweckt hat.
„Es wird Zeit, dass dieser Krieg zu Ende geht“, sagt Nasser, ein Chirurg des Mustafa-Krankenhauses in Algier. „Man kann doch nicht einfach so weitermachen und sich ständig gegenseitig massakrieren. Natürlich gibt es Leute, die nicht verstehen, wie man den Islamisten verzeihen kann. Aber die Mehrheit – das heißt all diejenigen, die unter der Gewalt zu leiden hatten – wünscht sich nur eins: Dieses Gesetz soll verabschiedet werden, damit endlich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen wird.“
Diese Auffassung ist durchaus verbreitet. Spricht man jedoch von den Familien der Opfer, von ihrem Unverständnis und ihrer Empörung über die „schmähliche Kapitulation vor dem bewaffneten Islamismus“, wie es zahlreiche französischsprachige Zeitungen formulieren, so bekommt man ein gewisses Unbehagen zu spüren. „Schauen wir uns doch andere Länder an, die Erfahrung mit dem Terrorismus machen mussten. Frieden und Amnestie sind nun einmal nicht voneinander zu trennen. Die einzigen Verlierer sind dabei die Familien der Opfer, weil sie das Gefühl haben, dass man ihnen keine Gerechtigkeit widerfahren lässt. Aber was wäre denn die Alternative? Man muss den Islamisten vergeben oder zumindest ein Gesetz akzeptieren, das zwar moralisch ungerecht sein mag, aber unerlässlich ist. Das Problem ist, dass der Staat diesen Text mit Gewalt durchzusetzen versucht. Die Angehörigen der Opfer bräuchten aber auch psychologische Beratung, man müsste mehr auf sie eingehen und sie finanziell wirklich unterstützen. Stattdessen werden diejenigen von ihnen, die gegen das Gesetz zur nationalen Eintracht sind, zusammengeknüppelt, wenn sie auf der Straße demonstrieren; und wenn nichtstaatliche Organisationen aus dem Westen Kinder in Europa aufnehmen wollen, die von der Gewalt traumatisiert sind, dann fällt der Regierung nichts Besseres ein, als sie an der Ausreise zu hindern“, empört sich Hamid, ein 43-jähriger Psychiater aus Blida.
Zusammen mit zahlreichen seiner Kollegen beklagt er die „Missachtung der Opfer der Gewalt“ und fürchtet, die gleichgültige Haltung der Regierung könnte Racheakte und Vergeltungsmaßnahmen fördern – immerhin habe man ja schon erlebt, dass Überlebende von Massakern von staatlichen Vertretern beleidigt wurden: Sie hätten sich nicht oder nur unzureichend zur Wehr gesetzt ... Trotz aller Bemühungen ist es der Regierung tatsächlich nicht gelungen, auch nur eine antiislamistische Persönlichkeit des öffentlichen Lebens für die Unterstützung des Gesetzes zu gewinnen. So wurden etwa die Witwen bekannter Intellektueller, die bewaffneten Gruppen zum Opfer gefallen sind, wiederholt von Politikern kontaktiert, darunter übrigens auch von solchen, die zunächst die völlige Ausrottung der Islamisten propagiert hatten, ehe sie dann die Kandidatur von Bouteflika unterstützten. Die Frauen lehnten es aber ab, sich für das Gesetz zu engagieren, auch wenn manche von ihnen die Notwendigkeit einer nationalen Versöhnung einräumen.
Ungeachtet aller Polemiken, die sie hervorruft, bedeutet die Gesetzesvorlage zur nationalen Eintracht einen wirklichen Wendepunkt, denn hier wird die Versöhnungspolitik Präsident Bouteflikas zum ersten Mal ganz konkret. Zwar wäre es verfrüht zu behaupten, dass mit seiner Wahl die Wiederherstellung des inneren Friedens tatsächlich garantiert ist, immerhin aber bleibt festzustellen, dass es ihm seit seinem Machtantritt gelungen ist, die Krise wieder in ihren politischen Zusammenhang zu stellen, was ihn in die Lage versetzt, auch nichtmilitärische Lösungen vorzuschlagen.
So ist es durchaus als symbolische Geste zu verstehen, dass er das Treffen in Sant'Egidio vom Januar 1995 positiv erwähnte1 , bei dem acht Oppositionsparteien – darunter auch die Islamische Heilsfront (FIS) – in Rom einen „nationalen Vertrag“ zur Rückkehr zum inneren Frieden vorgeschlagen hatten: Von der damaligen Regierung war das Papier noch kompromisslos abgelehnt worden.2
„Zum ersten Mal seit 1992 analysiert ein algerischer Staatsmann diesen Bürgerkrieg unter politischem Aspekt. Die Wiedereingliederung der Islamisten ins politische Lager oder Verhandlungen mit ihnen sind kein Tabu mehr“, sagt ein amerikanischer Diplomat. Die Versuchung, das Problem durch die radikale Ausrottung sämtlicher bewaffneter Gruppen – und vielleicht sogar eines Großteils der islamistischen Strömung – zu lösen, gehört also offenbar der Vergangenheit an. Vergessen sind wohl auch jene allzu einseitigen Erklärungsmodelle, denen zufolge die Krise durch die kränkelnde Wirtschaft oder ein ausländisches Komplott verursacht sei. Und auch keine Schönfärberei mehr, wenn es darum geht, das Fazit der Krise zu ziehen: Immerhin hat der Präsident nicht nur die Annullierung der Wahlen von 1991 als „Gewaltakt“ bezeichnet, sondern auch bestätigt, dass die Zahl der Opfer seit diesem Datum durchaus derjenigen entspricht, die von westlichen Menschenrechtsorganisationen genannt wird (über 100 000 Tote).3
In Worten und Taten untergräbt der ehemalige Gefolgsmann von Präsident Houari Boumedienne (1965 bis 1978) fast tagtäglich ein seit langem erstarrtes System und vermittelt damit der Bevölkerung den Eindruck, als würde es nach sieben Jahren der Stagnation endlich wieder vorangehen. Innerhalb nur weniger Monate hat Präsident Bouteflika die Aussöhnung mit Marokko und Frankreich vorangetrieben und sich gleichzeitig Washington angenähert. Konnte er auf der Gipfelkonferenz der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) im vergangenen Juli in Algier seine internationale Legitimität festigen, so brachte er die algerische Diplomatie auch wieder in den Nahost-Friedensprozess ein, als er dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak bei den Trauerfeierlichkeiten für Hassan II. die Hand schüttelte. Auch zögerte er nicht, gegen das Gesetz über die allgemeine Einführung der arabischen Sprache zu verstoßen4 und vor Funktionären eine Rede auf Französisch zu halten; schließlich bekannte er sich nicht nur zur Existenz einer jüdischen Komponente in der algerischen Geschichte, sondern rehabilitierte auch mehrere historische Persönlichkeiten, darunter Messali Hadj.5 All dies ging über die Bühne, ohne dass es im Land für besondere Unruhe gesorgt oder gar die Militärhierarchie vor den Kopf gestoßen hätte.
FREILICH, dieses fleißige Lavieren könnte sich auch gegen ihn selbst kehren, falls es nicht bald zu konkreten Veränderungen im Leben der Algerier kommt. „Je öfter ich die Reden des Präsidenten höre, desto klarer wird mir, dass er alles verspricht – und auch jeweils das Gegenteil. Die Zeit der Versprechungen ist vorbei. Die Algerier brauchen etwas Konkretes, und das Gesetz zur nationalen Eintracht reicht dazu nicht aus. Ebensowenig wie diese ganze diplomatische Betriebsamkeit. Die Verhältnisse müssen sich ändern, und zwar schnell“, warnt Akéla, Volksschullehrerin und Aktivistin bei der Front der sozialistischen Kräfte (FFS).
„Bouteflika hat Clinton die Hand geschüttelt? Er wird nach New York fahren? Na und? Wir sind nicht so blauäugig wie unsere Eltern, die stolz darauf waren, dass Boumedienne eine Rede vor der UNO hielt, während die Regierung ihnen gleichzeitig alles vorenthielt, was sie zum Leben brauchten. Ich will Arbeit und eine Wohnung, und ich möchte heiraten. Und wenn die Franzosen uns weiterhin das Visum verweigern, dann ist das auch kein Beinbruch – wenn ich mir in meinem eigenen Land ein Leben aufbauen kann. Bouteflika soll seine Versprechungen halten! An dem Tag, an dem ich meine Befreiung vom Wehrdienst erhalte, werde ich den Hut vor ihm ziehen“, erklärt Hassan, 29-jähriger Jurist, der ebenso wie tausende anderer junger Arbeitsloser weder eine Anstellung findet noch ausreisen kann, solange er keine carta hat, jenes Dokument, das ihm bescheinigt, dass er seinen Wehrdienst absolviert hat oder von ihm befreit worden ist.
Abgesehen von den Erwartungen, die Bouteflika mit seinen zahllosen Wahlversprechungen geweckt hat, gibt es auch eine ganze Reihe Fragen zu seiner Amtsführung als Staatspräsident. Kann er beispielsweise – trotz aller Versicherungen, unabhängig zu handeln – die „Wiederherstellung des algerischen Hauses“ erfolgreich durchführen, ohne die Armee zu brüskieren?
„Die politisch einflussreichen Generäle haben sich in das Unvermeidliche gefügt und sich darauf verständigt, Bouteflika zu unterstützen. Was aber nicht ausschließt, dass einige von ihnen jeden Schritt, der seine Autorität untergräbt und ihn daran hindert, an Autonomie zu gewinnen, mit Wohlgefallen verfolgen“, erklärt ein ehemaliger höherer Offizier. Nach seiner Ansicht hätten manche Hetzartikel gegen den Präsidenten ohne die Billigung – oder gar aktive Förderung – bestimmter Generäle, die ihm gegenüber Vorbehalte haben, nie veröffentlicht werden können.6
Mit Skepsis wird auch die höchst heterogene Umgebung des früheren algerischen Außenministers beäugt: ehemalige Gefolgsleute Boumediennes, Drahtzieher des „Chadlismus“, alte FNL-Bonzen, denen der ganze Abscheu der Aufständischen vom Oktober 1988 galt, Stützen des Regimes seit Beginn der achtziger Jahre – ein „bunt zusammengewürfelter Haufen“, wie ein Leitartikler schrieb, dessen unterschiedliche „Bestandteile“ ihre je eigenen Interessen verfolgen. Von einem Mitarbeiter auf diese wohl wenig verlässliche Umgebung angesprochen, soll Bouteflika gesagt haben: „Es gibt solche, die die Trommel schlagen, und andere, die arbeiten. Ich brauche beide.“ Womit er bestätigte, dass er ein subtiles Spiel der Allianzen treibt, die ihm vor allem helfen sollen, eine größere Autonomie gegenüber den Militärs zu gewinnen, ohne sich auf eine direkte Konfrontation mit ihnen einzulassen.
Diese Vorsicht gegenüber der Armee würde auch erklären, wieso die Anführer des ehemaligen FIS zur Zeit noch unter Hausarrest bleiben. Ihre Freilassung steht nicht auf der Tagesordnung, auch wenn hartnäckige Gerüchte wollen, dass diese zum kommenden 1. November – dem Nationalfeiertag, an dem des Beginns des Unabhängigkeitskriegs (1954 bis 1962) gedacht wird – verkündet werden soll.
„Bouteflikas große Stärke besteht darin, dass er stets genau weiß, bis wohin er gehen kann. Er weiß, dass es Grenzen gibt, die er – zumindest im Augenblick – nicht überschreiten darf. Auf jeden Fall braucht er einigen Spielraum, denn hinsichtlich der Reformen gibt es noch eine Menge zu tun, ehe man die heiklen Probleme in Angriff nehmen kann. Im Augenblick geht es darum, ein Land wieder auf die Beine zu bringen, es neu zu ordnen und sich nicht auf eine Kraftprobe mit den politischen Clans hinsichtlich der rente pétrolière einzulassen. Im Gegensatz zu Boudiaf, der zu keinem Kompromiss bereit war, weiß Bouteflika, dass die Zeit für ihn arbeitet. Seine ganze Amtsführung muss folgendermaßen interpretiert werden: Er verankert sich, um sich immer unentbehrlicher zu machen. Einen amtierenden OAU-Präsidenten oder einen entscheidenden Akteur der arabisch-israelischen Annäherung schickt man nicht einfach in die Wüste, wie man es mit einem vereinsamten und schlecht beratenen Boudiaf machen würde“, lautet die Analyse des Politologen Ryadh Cherchali.
Und in der Strategie des Präsidenten zeichnet sich nach Auffassung zahlreicher Beobachter eine Entwicklung „à la de Gaulle“ ab. Tatsächlich hat Bouteflika nie einen Hehl aus seiner Bewunderung für den General gemacht, vor allem für dessen Art, wie er die Idee der Unabhängigkeit Algeriens gegenüber einer Armee durchsetzte, mit deren Hilfe er an die Macht gelangt war. Das Mittel eines Referendums zur Legitimierung seiner Politik, die Wiederbelebung einer intensiven diplomatischen Aktivität, um sein Land aus der Isolierung herauszubringen, das Misstrauen gegenüber den politischen Parteien: Die Ähnlichkeiten sind nicht zu übersehen. Das Referendum über das Gesetz zur nationalen Eintracht wird – reiner Zufall oder bewusste Anspielung auf die Geschichte? – auf den Tag genau vierzig Jahre nach der berühmten Rede vom 16. September 1959 stattfinden, in der de Gaulle zum ersten Mal von der Selbstbestimmung des algerischen Volkes sprach.
Trotz der Neutralität der Streitkräfte ist das Rennen aber noch lange nicht gelaufen. Die Transformation der Gesellschaft geht einher mit beunruhigenden Perspektiven, einer Verschlechterung des sozialen Klimas und einem allgemeinen Besessensein vom materiellen Erfolg. Die gesamte Elite des Landes – Akademiker, Intellektuelle, Ärzte – ist wie besessen von der Geschäftemacherei, oft unter Missachtung jeglicher Ethik. „In bestimmten Vierteln von Algier spürt man wieder das Geld fließen, und das stachelt den Appetit der Mittellosen an“, beobachtet der Journalist Saadoune El Maqari.
Die nobelsten Restaurants, in denen eine annehmbare Mahlzeit nicht unter dem Viertel eines Ingenieursgehalts zu haben ist, sind überfüllt. In den großen Hotels finden tagtäglich Empfänge, Hochzeiten und Tanzabende statt. Auf den Straßen sind wieder teure Limousinen zu sehen, und allenthalben werden wieder Luxusvillen gebaut. In einem Algerien ohne Arbeitsplätze und Ressourcen, mit 500 000 Arbeitern, die den großen, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderten Umstrukturierungsmaßnahmen zum Opfer gefallen sind, und tausenden Ruheständlern, die seit mehreren Monaten auf ihre Rente warten; in einem Algerien, das bedroht ist vom Wiederauftreten von Infektionskrankheiten, die in den siebziger Jahren ausgerottet waren, und wo am Rande der großen Städte neuerlich Slums entstehen: In diesem Land erscheint in aller Öffentlichkeit ein anderes Algerien. Das der „Import-Export-Firmen“ und der schnellen Geschäfte.
In Algier, Oran oder anderswo gilt nur eine Devise: die chippa beziehungsweise Provision. Gestern träumte ein junger Müßiggänger vielleicht davon, trabendiste (Schmuggler) zu werden; heute will er chippiste werden. Alles lässt sich zu Geld machen, und für die kleinste Gefälligkeit darf man zu Recht eine chippa einfordern. Diese kann ein Schmiergeld von mehreren Millionen Dollar für einen Importvertrag sein oder ein einfaches Bakschisch von einigen hundert Dinar7 , um ein behördliches Dokument zu erhalten.
„Um ein Familienstammbuch zu bekommen, muss ein Jungvermählter eine Chippa von tausend Dinar bezahlen. Dasselbe gilt für ein Flugticket in der Sommersaison, eine Anstellung oder einen Geschäftsabschluss. Die Korruption breitet sich wie ein Krebsgeschwür in der ganzen Gesellschaft aus, und das Problem ist, dass niemand etwas daran auszusetzen hat“, beklagt Ryadh Cherchali. Und auch der Soziologe Amer Ferhani ist skeptisch: „Bouteflika kann möglicherweise dafür sorgen, dass wieder Frieden herrscht, aber dann? Die Jungen träumen nur vom Geld, vom Business und von Autos. Die Politik sagt ihnen überhaupt nichts, zumal ja auch ihre Eltern sich blindlings in die Geschäfte stürzen.“
Eine Besorgnis, die in der Umgebung von Präsident Bouteflika als berechtigt anerkannt wird: „Der Präsident ist sich bewusst, dass zahlreiche Werte innerhalb der Gesellschaft verschwinden. Deshalb wird die vorrangigste Aufgabe für das kommende Jahr auch die Reform des Erziehungswesens sein“, sagt einer seiner wichtigsten Mitarbeiter. Wie wird diese Reform aussehen? Hat der Präsident tatsächlich die Absicht, den Französischunterricht in den Grundschulklassen wieder einzuführen? Auch in diesem Punkt sind seine Pläne noch alles andere als eindeutig, und man wird erst die Zusammensetzung seiner ersten Regierung abwarten müssen, um konkrete Antworten zu bekommen.
Alle Hoffnungen und Illusionen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es verfrüht wäre, die Gewalt als ein Phänomen der Vergangenheit zu betrachten. Im Innern des Landes halten sich die alten Feindseligkeiten hartnäckig, um so mehr als manche Leute jetzt zu reden beginnen. So weiß man inzwischen etwas mehr über bestimmte Massaker an Dorfbewohnern oder über falsche Straßensperren, die häufig etwas mit materiellen Fragen (Schutzgelderpressung) zu tun hatten oder mit Racheakten, die zurückgehen auf alte Stammesrivalitäten. Je näher das Referendum rückt, desto mehr wird das Land von einer Welle neuer Gewaltakte überzogen, die den Algeriern plötzlich wieder in Erinnerung rufen, dass bewaffnete Formationen wie etwa die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) sich nicht im mindesten vom Gesetz über die nationale Eintracht betroffen fühlen.
dt. Matthias Wolf
* Journalisten in Paris bzw. Algier.