10.09.1999

Über die freiwillige Knechtschaft

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Über die freiwillige Knechtschaft

SECHS Monate bevor Gerhard Schröder und Tony Blair in ihrem berühmten Papier auch die letzten Ungewissheiten beseitigten (siehe den Artikel von Riccardo Petrella auf Seite 23), hatte Roland Hureaux bereits in einer brillanten Studie aufgezeigt, dass die europäische Sozialdemokratie heute die Verkörperung der modernen Rechten ist.1 Dies tat er nicht etwa, wie seine Argumentationsführung auf den ersten Blick nahe legen könnte, von einem linksradikalen Standpunkt aus, sondern ganz im Gegenteil unter Bezugnahme auf die republikanischen Rechte und die Werte des Gaullismus. Dieselbe Aufklärungsarbeit betreibt der Autor jetzt noch einmal in einem kürzlich veröffentlichten Buch, das den Aufbau Europas als rein ideologische Chimäre beschreibt.2 Und ganz bewusst macht er im Titel eine Anleihe bei dem klassischen Werk des ehemaligen sowjetischen Dissidenten Alexander Sinowjew3 .

Mit seinem pädagogischen Ansatz, der sich weitgehend auf Hannah Arendt stützt, arbeitet Roland Hureaux die wichtigsten Charakteristika des totalitären Modells heraus, um sie dann mit denjenigen Jean Monnets und seiner Nachfolger zu vergleichen, ohne dabei natürlich Faschismus, Kommunismus und Europagedanken gleichzusetzen. Und das funktioniert bemerkenswert gut. Es sind dieselben Kategorien, mit denen uns hier ein wahres Röntgenbild des „monetisierten und monetaristischen“ Europa geboten wird: Primat abstrakter Prinzipien, Pseudowissenschaftlichkeit, universalistische Zielsetzung, Funktionärsjargon, Fehlen von Demokratie, Verweigerung der Diskussion, Herabsetzung des Gegners, übertriebene Zentralisierung, ausufernde Macht von Technokratie und Bürokratie, Ablehnung von Gewaltenteilung, Verheißungen einer „strahlenden Zukunft“ – die freilich zunächst einmal Opfer verlangt, Unwiderruflichkeit, allgemeine Nivellierung, Beseitigung der Politik, Gefühl von Absurdität.

Roland Hureaux geht der Frage nach, warum diese Ideologie, vor allem in Frankreich, derart erfolgreich ist – übrigens weniger in der Geschäftswelt als vielmehr in den Medien und bei hohen Funktionären. Für diese „Eliten“ ist „Europa“ ein höchst willkommenes Alibi, sich ihrer eigentlichen Aufgaben zu entziehen, das heißt, sich um die Interessen ihres jeweiligen Landes zu kümmern und seine Hauptprobleme zu lösen, in erster Linie die Arbeitslosigkeit. Sie haben es nicht nötig, auf irgendjemanden zu hören, denn sie wissen Bescheid und wähnen sich im Besitz einer Wahrheit, die man einem widerspenstigen Volk nur richtig einzuhämmern braucht – einem Volk, das man im Übrigen verachtet, da es noch den „Dämonen“ eines anderen Zeitalters anhängt, insbesondere dem Nationalgefühl. „Da Europa die erhabene Hoffnung in sich birgt, alle Probleme lösen zu können [...] muss man die Lösung in Brüssel suchen“, schreibt der Autor. Und weiter: „Jene, die das französische Volk für seine natürlichen Führer hielt, gefallen sich heute als vorbildhafte Erfüllungsgehilfen.“

Letzten Endes, erklärt er, braucht der Geist der freiwilligen Knechtschaft – die Versuchung aller Eliten – ein ideologisches Alibi, so wie es für die Vichy-Regierung die „nationale Revolution“ war. Diese Funktion erfüllt heute eine europäistische Ideologie, die sehr wenig zu tun hat mit der – ganz realen – Notwendigkeit, ein Europa aufzubauen, „das die Völker angeht“, wie De Gaulle formulierte.

BERNARD CASSEN

Fußnoten: 1 Roland Hureaux, „Les trois Ûges de la gauche“, Le Débat, Januar 1999. Siehe auch Ignacio Ramonet, „Die moderne Rechte“, Le Monde diplomatique, April 1999. 2 Roland Hureaux, „Les Hauteurs béantes de l'Europe. La dérive idéologique de la construction européenne“, Paris (François-Xavier de Guibert) 1999. 3 Alexander Sinowjew, „Les Hauteurs béantes“, Paris (Lafont) 1976 [dt. „Gähnende Höhen“, Zürich (Diogenes) 1981].

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von BERNARD CASSEN