10.09.1999

Wachstum muss unten beginnen

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Wachstum muss unten beginnen

Von PHILIPPE ENGELHARD *

AFRIKA, das Stiefkind der Globalisierung, hat den immer wieder angekündigten wirtschaftlichen Aufschwung nicht geschafft. Die von den internationalen Finanzinstitutionen diktierte Entwicklungsstrategie – Wirtschaftswachstum durch Investitionen und Exporte – entspricht nicht den Bedürfnissen des Schwarzen Kontinents. Andere Entwicklungsmöglichkeiten, die mehr bei Afrikas „real existierender Wirtschaft“ ansetzen würden, wären jedoch durchaus vorstellbar. Der Kampf gegen die Armut könnte der Motor für ein eues Wachstum sein.

In den achtziger Jahren sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Afrika jedes Jahr um durchschnittlich 1,3 Prozent je Einwohner. Zwischen 1990 und 1994 verminderte es sich noch rapider, mit einer Quote von 1,8 Prozent jährlich1. Zur Erklärung dieses Phänomens werden immer wieder die negativen Stereotypien über den Schwarzen Kontinent herangezogen: starker demografischer Druck, schlechte Wirtschaftspolitik, Korruption, ungünstige geografische und klimatische Bedingungen, dürftige staatliche Dienstleistungen usw.

Wirtschaftsbeobachter, die der Weltbank nahe stehen, haben dafür inzwischen eine weniger geläufige, aber ebenso schlichte Erklärung parat: Afrika leide an einem Mangel an „Sozialkapital“.2 Dieser Begriff umschreibt die Fähigkeit der Gesellschaft und der staatlichen Institutionen, insbesondere der juristischen, Unsicherheiten zu verringern und mithin Vertrauen zu wecken, vor allem jenes der Investoren. Wie es zu diesem Defizit kam? Schuld sei die ethnische Vielfalt, die in Afrika weitaus größer sei als anderswo.

Doch ist diese Vielfalt keineswegs gleichzusetzen mit Gegnerschaft. In der Sahelzone zum Beispiel stellt die „Mehrfachidentität“ ein einzigartiges politisches Modell für den Umgang mit der Heterogenität der Bevölkerungsgruppen dar: Das Nachbarvolk wird wie ein Verwandter behandelt. Obwohl zweifellos eine Art „Monopolwirtschaft“3 herrscht – die aber eher auf das Clanwesen als auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe zurückgeht – liefert dieser Tatbestand keine befriedigende Erklärung der Probleme. Warum sollte die Clanbildung hier schädlichere Auswirkungen als in anderen geografischen Breiten zeitigen?

Die Erschütterungen, von denen der afrikanische Kontinent seit drei Jahrhunderten heimgesucht wird, hatten verheerende Auswirkungen. Massendeportationen von Sklaven (mindestens zwölf Millionen junger Männer und Frauen), Eroberungen, Kolonisierung, neokoloniale Regime; all diese Ereignisse haben zwangsläufig ihre Spuren hinterlassen. Die Krise der siebziger Jahre schließlich löste ein wahrhaftes Erdbeben aus4. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind das Clanwesen und das Aufflammen der Gewalt Nachwirkungen dieser Erschütterungen, der brutalen Unsicherheit, die sie ausgelöst haben und des kollektiven Unvermögens, das daraus hervorging bzw. noch verstärkt wurde.

Doch in Wahrheit liegt das Problem der Entwicklung ganz woanders: Gibt es einen Gesellschaftsentwurf, der dem afrikanischen Kontinent erlaubt, sich zu erneuern, und der zugleich die Grundlage für eine demokratische Gesellschaft darstellt? Mit den herrschenden ökonomischen Lehrmeinungen wird sich ein solches Modell wohl nur schwer vereinbaren lassen. Angesagt ist eine „neue Ökonomie“, die den Gegebenheiten des afrikanischen Kontinents Rechnung trägt und zwei grundlegende Probleme berücksichtigt: Gerechtigkeit und Effizienz. Eine solche Ökonomie lässt sich nur entwickeln, wenn man die Bekämpfung der Armut als Hebel für soziale und politische Veränderungen, aber auch für Wachstum und Entwicklung einsetzt. Einzig eine solche Strategie, die sich gleichermaßen mit ethischen wie mit logischen Kriterien vereinbaren lässt, kann den Schraubstock lockern, der noch immer die Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung umklammert.

Die Standardvorstellung von Entwicklung beruht seit zwei Jahrzehnten auf dem expliziten oder impliziten Dogma, dass der Armut allein durch Wirtschaftswachstum Einhalt geboten werden könne. Dieses Wachstum müsse aus Exporten und ausländischen Investitionen resultieren, die wiederum vom globalen Wirtschaftswachstum abhängen.5 Diese „moralische Spirale“ sei umso effizienter, wenn die Schranken für die freie Marktwirtschaft auf der gesamten Welt fallen würden (daher die Forderungen nach Steuersenkungen und Privatisierung). Die Einrichtung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schließlich stellt eine weitere Grundvoraussetzung des Wachstums dar, weil dadurch die sozialen, ökonomischen und politischen Dysfunktionen verringert werden, die ihm im Wege stehen. Derartige Behauptungen erweisen sich, trotz einer gewissen Logik, als äußerst fragwürdig:

Erstens: Selbst wenn in diesem Jahrhundert das Wachstum in Europa (aber auch in gewissem Maße jenes, das in jüngster Zeit in den ostasiatischen und in einigen Staaten Lateinamerikas, wie etwa in Chile, verzeichnet wurde) die Armut verringert oder gar abgeschafft hat, ist daraus nicht der Schluss zu ziehen, dass dies immer und überall der Fall sein wird. Der wirtschaftliche Aufschwung einiger afrikanischer Staaten in der jüngsten Vergangenheit dürfte keineswegs das Elend verringert haben. In Mali zum Beispiel stieg die Zahl der Armen seit 1995 trotz eines Wachstums von 6 Prozent um 28 Prozent der Gesamtbevölkerung an.

Zweitens ist es sehr unwahrscheinlich, dass im Afrika südlich der Sahara eine Zunahme der Exporte und ausländischen Investitionen einen hinreichenden Faktor für Wachstum darstellt. Die in dieser Region gelegenen Länder erwirtschaften nur 2 Promille der gesamten Weltexporte (gegenüber 5 Promille im Jahre 1976)!6 Und die Lage wird sich auch in der näheren Zukunft nicht ändern. Der Bericht der französischen Entwicklungsagentur umfasst sechzehn Erfolgsstorys von afrikanischen Unternehmen, doch keines von ihnen spielt eine Rolle auf der Ebene des Weltmarkts.7 Auch das ausländische Engagement wird kaum ausreichen, um spürbare wirtschaftliche Verbesserungen herbeizuführen. Die direkten ausländischen Investitionen in Afrika (sie betragen bloß 3 bis 4 Prozent der Gesamtinvestitionen in den Ländern des Südens) fließen hauptsächlich in die Erdöl produzierenden Länder bzw. in die besser entwickelten Ökonomien.

Drittens: Angenommen – und das ist eine sehr optimistische Annahme –, es würde sich ein starkes, anhaltendes Wirtschaftswachstum einstellen, angenommen – und dies ist noch optimistischer –, dieses Wachstum würde gerecht verteilt, dann würden die südlich der Sahara gelegenen Länder bei einem jährlichen Wachstum des BIP von 5 Prozent etwa in einem Vierteljahrhundert das gegenwärtige Pro-Kopf-Einkommen Tunesiens erreichen. Die jungen Generationen, die immer weniger traditionell sozialisiert sind und einen zahlenmäßig wachsenden Anteil ausmachen, werden kaum so lange warten wollen. In zahlreichen afrikanischen Hauptstädten herrscht heute schon ein äußerst explosives Klima. Es reicht daher nicht mehr, stolz auf Wachstumsraten zu verweisen, sondern es geht darum, die Armut zu beseitigen.

Regional angepasste Modelle

VIERTENS: Wenngleich die Globalisierung der Wirtschaft, der Kommunikation und der Finanzmärkte unleugbare Fakten sind, folgt daraus noch nicht, dass alle Länder von dem daraus resultierenden Wachstum profitieren. Allzu leicht vergisst man nämlich, dass mehr als die Hälfte der Menschheit außerhalb der „modernen Ökonomie“ lebt. Der Aufschwung im Zuge der Globalisierung – wenn man überhaupt von einem solchen sprechen kann – kommt zunächst einmal nur einigen wenigen prosperierenden und immer enger miteinander verbundenen Wirtschaftsregionen und -sektoren zugute, die den harten Kern des weltweiten Makrokapitalismus darstellen. Weite Teile der südlichen Hemisphäre, darunter auch Afrika, partizipieren nur marginal an diesem – eigentlich gar nicht so globalen – Aufschwung. Beunruhigen müsste uns in diesem Zusammenhang übrigens auch die Beobachtung, dass weder die Wachstumsraten noch die Pro-Kopf-Einkommen weltweit konvergieren.8

Und zu guter Letzt: Wenn man die Globalisierung nicht einem Minimum an Koordination und, vor allem, einem Mehr an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie unterwirft, läuft sie Gefahr, zu einem riesigen Chaos auszuufern. Um welche Rechtsstaatlichkeit, um welche Demokratie handelt es sich hier aber? Afrika muss die Demokratie an sein Temperament und seine historischen Gegebenheiten anpassen. Diese Anpassung kann nur durch einen tief greifenden gesellschaftlichen und politischen Wandel erfolgen. Allgemein gültige Regeln (die symbolisch verinnerlicht werden) müssen eingeführt und den Gesetzen muss Respekt verschafft werden – angefangen bei jenen, die den schwächsten Schichten gelten. Solange den Armen – also der Mehrheit – nicht die Institutionen und Instrumente der Demokratie zugänglich gemacht und die bisher Benachteiligten so in die Lage versetzt werden, eine auch ihnen zugute kommende Politik und Ökonomie zu schaffen, bleibt die Demokratie in Afrika eine Scheinveranstaltung.

Die gegenwärtige Entwicklungsstrategie wird unter den herrschenden Bedingungen in absehbarer Zukunft kaum bessere wirtschaftliche, soziale und politische Resultate liefern. Wir müssen uns folglich eine völlig andere Vorstellung von Wachstum zu eigen machen. Sie wird auf das Hauptproblem des Schwarzen Kontinents abzielen: die Bekämpfung der Armut. Eine in diesem Sinne gerechtere und effizientere „neue Ökonomie“ muss sich auf zwei Hauptsäulen stützen bzw. zwei Hebel ansetzen: Zum einen geht es um ein Umdenken bei der Grundversorgung, zum anderen muss man sich der „real existierenden Ökonomie“ des Schwarzen Kontinents zuwenden und künftige Entwicklungsstrategien deren spezifischen Zügen anpassen.

Die meisten Schätzungen kommen zum gleichen Resultat: 60 Prozent der Bewohner der südlich der Sahara gelegenen Länder leben an oder unter der Armutsgrenze. Jeder vierte Afrikaner leidet an Unterernährung; nirgendwo anders ist die Lebenserwartung so niedrig. Dieses Elend zeigt sich dramatisch in der Verwehrung oder Beschränkung des Zugangs der Bevölkerung zur Grundversorgung (Bildung, Gesundheitswesen, Trinkwasser, Abwassersysteme, öffentliche Verkehrsmittel, Energie, Telekommunikation usw.) – jenen Gütern und Dienstleistungen also, die ein menschenwürdiges Leben erst ermöglichen. Der Grund dafür liegt bei den Kosten, die zumeist jenen der Industriestaaten entsprichen. So kosten eine Kilowattstunde Strom, ein Kubikmeter Wasser oder ein Liter Treibstoff in Paris etwa gleich viel wie in Dakar, Abidjan oder Bamako. Doch betragen die Gehälter in Bamako, Abidjan und Dakar nur ein Dreißigstel bis ein Vierzigstel jener in Paris! Dieses Ungleichgewicht zwischen Preisen und Einkommen bedingt die Armut gleichermaßen wie sie sie festschreibt. Eine Strategie zur Armutsbekämpfung muss darauf abzielen, die Grundversorgung möglichst vieler Menschen zu niedrigen Kosten zu gewährleisten. Denn hier liegt der wahre Reichtum der Nationen.

Dieses Ziel kann erreicht werden, wenn man Produktions- und Versorgungstechniken massiv fördert, die auf die regionalen Gegebenheiten abgestimmt sind. Auf lokaler Ebene haben sich bereits zahlreiche alternative Technologien im Bereich des Gesundheitswesens, der Kanalisation, der Trinkwasserversorgung, des Wohnungsbaus sowie im Energie- und Verkehrssektor bewährt.9 Doch behindern Interessenegoismus, unreflektierte Nachahmung westlicher Praktiken, Routine und mangelnde Information ihre Durchsetzung. Mit dieser Logik muss schnellstmöglich aufgeräumt werden. Ein Erfolg wird sich allerdings wohl nur durch Druck von Seiten der Bevölkerung und ausländischer Akteure einstellen.

In der „Realwirtschaft“ des Kontinents kommt den Kleinstunternehmen eine große Bedeutung zu. In den Entwicklungsländern insgesamt arbeiten mehr als 60 Prozent der einkommensschwachen erwerbstätigen Bevölkerung in diesem Sektor.10 In den südlich der Sahara gelegenen Staaten lebt der überwiegende Teil der Bevölkerung (im Senegal etwa sind es 70 Prozent) von städtischen oder ländlichen Kleinstunternehmen. Diese Mikrobetriebe, die sich oft durch einen innovativen Charakter auszeichnen, sind im buchstäblichen Sinne „Volkswirtschaften“, doch erwirtschaften sie mangels Kapital, Know-how, Grundausbildung, Technologie und Krediten nur ein sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen. Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die mangelnde Nachfrage. Die geringe Produktivität kann als Hauptursache der Armut Afrikas angesehen werden, denn sie schlägt sich zwangsläufig in sehr niedrigen Löhnen nieder, die wiederum die geringe Nachfrage bedingen. Daran konnten auch die Strukturanpassungsprogramme bisher nichts ändern. Indem sie die Binnennachfrage bremsten, haben sie wahrscheinlich zu einem „potenziellen Wachstum“ und einem Produktionsniveau geführt, die unter dem liegen, was möglich wäre.11 Ohne die erwähnten „Volkswirtschaften“ hätten weite Teile der Bevölkerung gar nicht überleben können, denn der Zugang zur so genannten modernen Wirtschaft war praktisch unerschwinglich (die Einrichtung eines Arbeitsplatzes in der Industrie kostet um die 80 000 US-Dollar). Neben der Grundversorgung müsste also auch den „Volkswirtschaften“ Priorität eingeräumt werden, will man die Armut der Bevölkerung wirksam bekämpfen.

Oft hört man den Einwand, die afrikanischen Staaten müssten den Anschluss an die „industrielle Moderne“ über die großen Unternehmen suchen. Doch dieses Argument erscheint mir nicht stichhaltig. Die Industriestaaten verdanken ihre Entwicklung einer immer dichteren Vernetzung kleinerer Produktions- und Handelsaktivitäten, die häufig „aus dem Nichts“ entstanden waren12 . In vielen Ländern Ostasiens, auch in Chile, erfolgte der Aufschwung durch den Ausbau eines dichten Netzes von Mikro- und Kleinunternehmen, die sich auf diese Weise allmählich den Anschluss an die „Moderne“ verschafft haben. Zudem genügen die Ökonomien der südlich der Sahara gelegenen Länder kaum den Erfordernissen des professionellen Managements und der Beteiligung an den von Großunternehmen bedienten Märkten. Diese Unternehmen beschäftigen zudem ohnehin nur einige hundert Menschen. Im Senegal etwa zählt der so genannte moderne Sektor kaum mehr als 70 000 Beschäftigte. Eine Ausweitung dieses Sektors (falls dies überhaupt möglich ist) hätte zweifellos positive Auswirkungen für die Produktion und das Wachstum, doch würde davon wiederum bloß ein geringer Teil der Bevölkerung profitieren. In Südafrika, dem industriell am höchsten entwickelten Land des Kontinents, sind 70 Prozent der Township-Bewohner arbeitslos.

Darüber hinaus vernichtet die technologische Revolution, die heute in den Industriestaaten stattfindet, alte Arbeitsplätze, und die neuen, die sie schafft, erfordern in den meisten Fällen hoch qualifiziertes Personal.13 Unter dieser Perspektive mutet es noch unwahrscheinlicher an als in den vorangegangenen Jahrzehnten, dass ein größerer Teil der afrikanischen Bevölkerung rasch in der Industrie Fuß fassen wird.

Aus all dem folgt, dass die Entwicklung der Kleinst- und Kleinunternehmen unverzichtbar ist. Die daraus resultierende Steigerung der Nachfrage würde sicher auch zu einem „modernen“ industriellen Aufschwung beitragen. Dazu muss aber das entscheidende Hindernis beseitigt werden, das in einer mangelnden inneren Nachfrage liegt, die wiederum ein zu schwaches Angebot bedingt – und umgekehrt.

Maßnahmen, die das Angebot betreffen, könnten auf eine Stärkung der „Volkswirtschaften“ abzielen, aber auch auf die strukturbildenden Wirtschaftszweige. Förderungsprogramme für Berufsbildung, Management (einfach und praktisch), für Kredite und Kleininvestitionen müssen differenziert nach Sektoren, aber zugleich in großem Maßstab aufgelegt werden. Nach Schätzungen der Weltbank gibt es 500 Millionen Mikrounternehmen; doch weniger als 2 Prozent von ihnen kommen an Kredite heran. Für Afrika ist dieses Verhältnis noch ungünstiger.

Maßnahmen, die auf die Nachfrage abzielen, müssen der Stärkung des Binnenmarktes dienen. Lockerungen der budgetären Zwänge (dies muss von Fall zu Fall entschieden werden) wären ganz besonders wichtig. Am dringendsten erscheint jedoch die Streichung der Schulden (siehe den Artikel auf Seite 7): Im Senegal beträgt der Schuldendienst nur 19 Prozent, gegenüber 67 Prozent in Guinea-Bissau und 60 Prozent in Sierra Leone.14

Eine Kostensenkung der Grundversorgung hätte gewiss positive Auswirkungen auf die Inlandsnachfrage und auf die Konkurrenzfähigkeit mit dem Ausland.

Bleiben noch die Exporte: Von ihnen ist in absehbarer Zeit keine Ankurbelung der Wirtschaft zu erwarten. Aus diesem Grunde werden bestimmte protektionistische Maßnahmen – Zölle, Importkontingente – für die einzelnen Sektoren (vor allem die landwirtschaftlichen) wohl unverzichtbar sein.

Maßnahmen zur gleichzeitigen Förderung von Angebot und Nachfrage bedürfen geduldiger Arbeit – Verbindungen herstellen, vermitteln, häufig bei Null anfangend. In der Tat funktioniert der Austausch zwischen den einzelnen Sektoren oder Zweigen der Wirtschaft, ob der städtischen oder der ländlichen, der formellen oder informellen, nur ungenügend. Hier liegt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit einer der Gründe für das schwache Produktivitätswachstum, aber auch für die geringe Bedeutung der Exporte für die Gesamtwirtschaft.15 Es wäre die Aufgabe kleiner Planungsteams, die mit der Gesellschaft und den realen Gegebenheiten vertraut sind, Synergien zwischen den lokalen, regionalen und nationalen Märkten zu erzeugen oder zu erleichtern. À la longue werden diese Wechselwirkungen eine wirkliche Integration ermöglichen.

Die Lehren, die man aus den zahlreichen Erfahrungen und Untersuchungen zum Thema Entwicklung ziehen kann, sind noch alles andere als überzeugend.16 An dem strategischen Einsatz, aus der Armutsbekämpfung einen Ansatz für Wachstum und Wandel zu machen, muss jedoch festgehalten werden – schon angesichts der Dringlichkeit des Problems. Und die immer noch notwendige (und immer noch unzureichende) ausländische Hilfe muss sich dieser letzten Endes unausweichlichen strategischen Perspektive unterwerfen.

Noch entscheidender ist aber, dass die Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung so schnell wie möglich ihre passive Rolle aufgibt: Sie darf nicht länger bloßes Objekt von Tradition, Scheindemokratie, kurzsichtiger Anpassung oder von außen aufgedrängter Projekte sein, sondern muss zu einem handelnden Subjekt werden. Frauen und junge Leute wehren sich immer energischer gegen die abgedroschenen Phrasen in Politik und Gesellschaft. Auf ihre Erwartungen müsste die „neue Wirtschaft“ eingehen – eine „neue Wirtschaft“, die dank ihrer besseren Abstimmung auf die je verschiedenen Gegebenheiten der Kontinente die Voraussetzungen für Veränderungen und für die Zukunft einer echten, will sagen unausweichlich hybriden Moderne zeigen könnte.

dt. Andrea Marenzeller

* Philosoph und Ökonom, Autor von „L'Afrique miroir du monde. Plaidoyer pour une nouvelle économie“, Paris (Arléa) 1998.

Fußnoten: 1 Vgl. Christian de Brie, „Wunder der Statistik und Niederungen des Alltags“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997. 2 Vgl. Paul Collier und Jan Willem Gunning, „Explaining African Economic Performance“, Journal of Economic Literature, Vol. XXXVII, Pittsburg, März 1999. 3 Jean-François Bayart, „L'Etat en Afrique et la politique du ventre“, Paris (Fayard) 1989. 4 Vgl. John Iliffe, „Les Africains, Histoire d'un continent“, Paris (Flammarion) 1997. 5 Vgl. Gabriel Kolko, „Exportieren, exportieren!“, Le Monde diplomatique, Mai 1998. 6 CEPIL, „L'économie mondiale 1998“, Paris (La Découverte, coll. Repères) 1997. 7 „L'Afrique des entreprises“, Paris (La documentation française) 1998. 8 Jonathan Temple, „The New Growth Evidence“, Journal of Political Economy, Vol. XXXVII, Chicago, März 1999, S. 112-156. 9 Vgl. Jean-Marc Ela, „Die Moderne der Afro-Renaissance“, Le Monde diplomatique, November 1998. 10 G. Suarez Croters, „Développement de la micro-entreprise – expérience latino-américaine“, Techniques financières et développement, Januar 1995. 11 Diese Konjunktur gleicht jener, die Hervé Le Bihan, Henri Sterdynak und Philippe Cour bezüglich Europa beschreiben: „La notion de croissance potentielle a-t-elle un sens?“, Economie internationale, Nr. 69, Paris (La Documentation française) 1997, S. 136. 12 Fernand Braudel, „Die Dynamik des Kapitalismus“, aus dem Franz. von Peter Schöttler, Stuttgart (Klett-Cotta) 1991. Vgl. auch Patrick Verley, „La Révolution industrielle“, Paris (Gallimard, Coll. Folio Histoire) 1997, S. 136. 13 Manuel Castells, „La societé en réseaux“, Paris (Fayard) 1998. 14 Vgl. den „Bericht über die menschliche Entwicklung“ des UNDP von 1998. 15 Dominique Guellec und Pierre Ralle, „Les nouvelles théories de la croissance“, Paris (La Découverte) 1996. Vgl. auch Paul Romer, „Endogenous Technical Change“, Journal of Political Economy, Vol. 5, Chicago 1990, S. 71-102. 16 „The New Growth Evidence“, op. cit.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von PHILIPPE ENGELHARD