10.09.1999

Falsche Lehren aus alten Fehlern

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Falsche Lehren aus alten Fehlern

Von XAVIER BOUGAREL *

Von den 5,1 Milliarden Dollar Hilfsgeldern, die seit 1995 an Bosnien-Herzegowina gegangen sind, soll rund 1 Milliarde versickert sein. Das geht aus einem 4 000 Seiten starken Bericht hervor, den die Antikorruptions-Arbeitsgruppe des UN-Bosnienbeauftragten erarbeitet hat und dessen Resultate am 17. August in der „New York Times“ veröffentlicht wurden. Statt sich dem Wiederaufbau des Landes zu widmen, hätten sich die nationalistischen Machthaber der muslimischen, serbischen und kroatischen Volksgruppe schmlos bereichert. Einige werden namentlich genannt, an prominentester Stelle der Sohn von Präsident Alija Izetbegovic. Die Angelegenheit illustriert aufs Neue, in welche Sackgasse der Westen mit seinen „Protektoraten“ in Bosnien wie neuerdings im Kosovo zu geraten droht. Und sie erinnert zugleich an zehn Jahre eines verfehlten Krisenmanagements in der Balkanregion.

Dass es zur Beendigung der Konflikte in Jugoslawien der Androhung und Anwendung von Gewalt bedurfte, lässt sich schwerlich in Frage stellen. In Bosnien-Herzegowina hatten erst die Luftschläge der Nato gegen die serbischen Streitkräfte im September 1995 die Aufhebung der Belagerung Sarajevos möglich gemacht und den Weg zu einem Verhandlungsprozess geebnet, der dann zum Abkommen von Dayton führte. Damit ist freilich nicht gesagt, dass die militärische Intervention, die die Nato vom 24. März bis zum 10. Juni 1999 gegen Jugoslawien praktizierte, legitim oder letzten Endes auch angemessen und nützlich gewesen wäre.

Diese Intervention hat die menschliche Katastrophe nicht verhindert, sondern im Gegenteil noch beschleunigt. Das Ergebnis ist ein zerstörtes Kosovo, eine zerrüttete serbische Wirtschaft und auf beiden Seiten eine dauerhaft traumatisierte Bevölkerung. Auch die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens ist umstritten. Manche Juristen vertreten die Rechtsmeinung, es habe gegen die Charta der Vereinten Nationen, die Charta der Nato und die Verfassungen mehrerer Staaten verstoßen. Die nachträglich vorgebrachte Rechtfertigung, man habe mit den Bombardierungen die Verbrechen der jugoslawischen Streitkräfte stoppen müssen, lässt sich nicht als Entschuldigung dafür anführen, dass die Nato mit ihrer mutwilligen Bombardierung ziviler Ziele ihrerseits Kriegsverbrechen begangen hat. Statt sich – wie unsere Politiker – gegenseitig auf die Schultern zu klopfen, sollte man vielmehr fragen, was in der Wahrnehmung und Behandlung des Kosovo-Konflikts und im Kontext der jugoslawischen Krise insgesamt schief gelaufen ist.

Eine solche Bilanz sollte vielleicht damit beginnen, den oft gezogenen Vergleich zwischen der Situation im Kosovo 1999 und der in Bosnien-Herzegowina 1995 in Frage zu stellen. Die Verteidiger der albanischen Sache,die das Eingreifen der Nato aus der Luft für unzureichend hielten, haben stets auf einen wichtigen Unterschied verwiesen: 1995 war die Wirksamkeit der Luftangriffe der gleichzeitig durchgeführten Offensive der kroatischen und bosnischen Streitkräfte zu verdanken. Konsequenterweise verlangten sie den Einsatz von Bodentruppen oder die Lieferung von Waffen an die Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK).

Ein solcher Vergleich scheint aus zwei Gründen zumindest zu kurz zu greifen. Erstens konnten die Unterhändler in Dayton nicht nur an die vollendeten Tatsachen der territorialen Umverteilung des Sommers 1995 anknüpfen, sondern auch an die Substanz früherer Friedenspläne1 ; zweitens hätte eine Intervention von Bodentruppen oder die Bewaffnung der UÇK mehrere Monate in Anspruch genommen, die jugoslawischen Streitkräfte hätten also genügend Zeit gehabt, ihre „ethnischen Säuberungen“ im Kosovo zu Ende zu führen.2 Das Problem liegt also nicht oder zumindest nicht hauptsächlich in der Entscheidung zugunsten eines Luftangriffs.

Ein ernsthafter Vergleich zwischen der Situation in Bosnien und im Kosovo fördert allerdings weitere Unterschiede und andere Fragen zutage. Zum einen ist die Gleichsetzung der Bombenangriffe von 1995 und von 1999 insofern falsch, als erstere das Ende und letztere den Anfang eines Krieges markierten.

Das verweist aber nur auf die zaudernde Haltung der Diplomaten und Politiker, die innerhalb weniger Wochen ein Problem lösen wollten, das sie zuvor zehn Jahre lang vernachlässigt hatten. Zum anderen verfolgten die Luftschläge 1995 das Ziel, mit der Durchbrechung der Belagerung Sarajevos eine Art Verhandlungsgleichgewicht herzustellen, während sie 1999 als Verhandlungsersatz gedacht waren, insofern man der jugoslawischen Seite das so genannte Abkommen von Rambouillet aufzwingen wollte.

Man muss diese beiden grundlegenden Unterschiede im Kopf haben, um zu begreifen, warum die Nato-Intervention im Kosovo die Gewalt, die sie zu verhindern vorgab, erst zum Ausbruch gebracht hat. Mit der Vorlage eines Plans, der zwischen den Zeilen nach einer Übergangsperiode von drei Jahren die Selbstbestimmung für das Kosovo beinhaltete, verzichteten die Nato-Länder auf das einzig mögliche „Zuckerbrot“, das sie Jugoslawien anbieten konnten; mit dem Versuch, diese Regelung gewaltsam durchzusetzen, machten sie hingegen unmäßigen Gebrauch von ihrer „Peitsche“. Die jugoslawische Bundesregierung hatte also nichts mehr zu erhoffen und nichts mehr zu verlieren und stürzte sich in ihre massive ethnische Vertreibungskampagne. Damit wollte sie das Atlantische Bündnis destabilisieren, das Rambouillet-Abkommen über den Haufen werfen und schließlich ihren seit mindestens zehn Jahren gehegten Plan umsetzen, die Bevölkerungsstruktur im Kosovo gewaltsam umzuwälzen. Es wäre also sicher vernünftiger gewesen, einen von Natur aus langwierigen und komplexen Verhandlungsprozess weiterzuführen und sich die Androhung und Anwendung von Gewalt für den Moment aufzusparen, da eine konkrete Eskalation vor Ort unterbunden werden musste. Im Übrigen hatte das erste Ultimatum der Nato im Oktober 1998 – dessen Logik eher der Konstellation von 1995 ähnelte – die Entsendung einer internationalen Beobachterkommission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ermöglicht, was immerhin ein deutliches Abebben der seit März 1998 anhaltenden Kampfhandlungen bewirkte.

Solchen Einwänden begegnen die Befürworter einer Nato-Intervention mit zwei Argumenten: Seit Januar 1999 habe man im Kosovo eine Verstärkung der Einheiten der jugoslawischen Armee und ein Wiederaufflammen der Kämpfe beobachtet; und die serbische Delegation in Rambouillet habe niemals ernsthaft verhandeln wollen. Beide Einwände sind zumindest in dieser Form nicht haltbar. Zum einen war die Verstärkung der jugoslawischen Truppen teils eine Antwort auf die Stationierung der Nato-Einsatztruppe (Extraction Force) in Makedonien, die die jugoslawische Armeeführung immer mehr als Bedrohung wahrnahm, teils war die Wiederaufnahme der Kämpfe auch als Antwort auf die bewussten Provokationen der UÇK zu sehen. Was den zweiten Einwand betrifft, so ist zwar einzuräumen, dass niemand genau weiß, inwieweit die von den Serben für ihre Ablehnung des Rambouillet-Vertrags vorgebrachten Argumente nur ein Vorwand waren. Aber diese Argumente waren zugegebenermaßen nicht gänzlich unbegründet. Indem der Vertragsentwurf der albanischen Delegation ein Referendum über die Selbstbestimmung anbot und bestimmte Rechte und Operationsmöglichkeiten der KFOR (Kosovo Force) auf das gesamte jugoslawische Staatsgebiet ausdehnte3 , überschritten die westlichen Diplomaten den von der Kontaktgruppe gesteckten Rahmen und forderten von Belgrad nicht weniger als die Kapitulation.

Das multiethnische Kosovo ist Heuchelei

DIE westlichen Diplomaten halten sich zugute,mit der Konferenz von Rambouillet die Lehren aus dem Dayton-Abkommen und den früheren Konflikten in Jugoslawien beherzigt zu haben. Aber wie sich zeigen sollte, waren sie von einem neuen Dayton meilenweit entfernt und brachten lediglich ein neues Lissabon zustande – eines jener Friedensabkommen, die ursprünglich einen Konflikt verhindern sollen, ihn letzten Endes aber nur beschleunigen.4

Statt sich an ihrer eigenen Weisheit zu berauschen, hätten sich diese Diplomaten fragen sollen, welche Lehren Albaner und Serben aus acht Jahren Jugoslawien-Konflikt gezogen haben. Dann hätten sie begriffen, dass die albanische Seite mit ihrer Unterzeichnung des Rambouillet-Abkommens einzig und allein die Absicht verfolgte, eine Militärintervention der Nato zu ermöglichen. Und dass die Ablehnung der Serben auch durch die Erfahrungen in Bosnien-Herzegowina erklärbar ist, wo die Vorrechte des internationalen Hohen Repräsentanten ständig ausgeweitet wurden. Das in Dayton festgelegte institutionelle Gleichgewicht wurde damit grundlegend verändert, ohne dass sich die Unterzeichnermächte darüber verständigt hätten.

Ebenso hätte man begreifen können, dass die albanische Seite auf dieselbe Opferstrategie setzte wie einige Jahre zuvor die Bosnier und dass die serbische Seite sich anschickte, die Intervention mit einer Politik der vollendeten Tatsachen zu beantworten. Das heißt mit einer Politik, die sich zwischen 1991 und 1995 für beide Seiten ausgezahlt hatte und die der Westen noch im Sommer 1998 bestärkte, indem man der jugoslawischen Armee diskret zu verstehen gab, sie habe freie Hand zur Zerschlagung der UÇK. Doch diesmal zahlte sich die Politik der vollendeten Tatsachen nicht aus. Die jugoslawischen Machthaber mussten sich den Bedingungen der internationalen Gemeinschaft unterwerfen. Und im Gegensatz zu den meisten Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina und der Kraijna (Kroatien) konnten hunderttausende vertriebene Albaner in ihre Häuser und Wohnungen oder das, was davon übrig geblieben ist, zurückkehren.

Im Rückblick wird dies als entscheidende Wende im Umgang mit den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien gesehen und als letztendlicher Beweis für den Erfolg der Nato. Besieht man sich das Argument genauer, ist auch dieser angebliche Erfolg ein unsicherer und widersprüchlicher. Zwar bedeutete die Annahme des Friedensplans der G-8-Staaten (die G 7 plus Russland) am 6. Mai 1999 und dessen Verabschiedung durch den UN-Sicherheitsrat am 10. Juni 1999 für Präsident Slobodan Miloševic zweifellos eine Niederlage, und die durchgesetzten Bedingungen (totaler Rückzug der jugoslawischen Armee, Aufstockung der KFOR-Truppen auf 50 000 Mann und Ähnliches) sind teilweise härter als die des „Abkommens“ von Rambouillet.

Doch obwohl die jugoslawischen Machthaber nicht durchsetzen konnten, die KFOR aus Nicht-Nato-Ländern zu rekrutieren oder dem russischen Kontingent einen eigenen Sektor zu geben, kann sich die Nato noch nicht als absoluter Sieger präsentieren. Denn die Resolution 1244 des Sicherheitsrates enthält nicht mehr die Übergangsperiode von drei Jahren aus den Rambouillet-Verträgen. Stattdessen ist „ein politischer Prozess vorgesehen, der den künftigen Status des Kosovo unter Berücksichtigung des Rambouillet-Abkommens festlegen soll“5 . Es fragt sich also, welche Seite in welchem Punkt nachgegeben hat, und, wichtiger noch: ob dasselbe Ergebnis nicht auch ohne Gewalt zu erzielen gewesen wäre.

Eine ähnliche Frage stellt sich angesichts der aktuellen Lage im Kosovo. Auch hier sollte der Beginn der KFOR-Tätigkeit und der internationalen Zivilverwaltung die Repression und vielfältige Diskriminierung beenden, die die serbischen Behörden vor zehn Jahren begonnen hatten. Nach drei Monaten serbischen Terrors und Machtmissbrauchs vollzieht sich die Wiederherstellung der Rechte der albanischen Bevölkerung allerdings um den Preis von Racheakten gegen die Angehörigen anderer ethnischer Gemeinschaften und der Massenflucht der serbischen Bevölkerung. Angesichts dessen von der Erhaltung eines „multiethnischen Kosovo“ zu sprechen, ist reinste Heuchelei.

Auch die notwendigen Bedingungen für eine Autonomie oder Unabhängigkeit des Kosovo liegen heute in weiterer Ferne als noch vor dem Krieg. Die systematischen Zerstörungen durch die serbische Armee und die Bombardierungen der Alliierten haben die Provinz weitgehend verwüstet, und die politischen Umgruppierungen der letzten Monate haben den noch in Rambouillet erweckten Schein einer politisch geeinten albanischen Gemeinschaft zerstört.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die Gefahr ab, dass das Kosovo auf Dauer zu einem Protektorat wird, in dem Elend und politische Gewalt nur schwer zu überwinden sind. Und es ist keineswegs auszuschließen, dass die gerade aus Albanien und Makedonien zurückgekehrten Flüchtlinge demnächst ihr Glück in Deutschland, der Schweiz oder den USA suchen werden.

Wenn die Nato sich heute brüstet, im Kosovo das Schlimmste verhindert zu haben, muss man auch nach dem Preis fragen. Denn in materieller und politischer Hinsicht ist die gesamte Bundesrepublik Jugoslawien heute viel schlechter dran als vor dem Krieg. Die Zerstörungen zu beseitigen, die elf Wochen Bombenangriffe verursacht haben, wird nach Schätzung unabhängiger Ökonomen 30 Milliarden Dollar kosten. Und die jugoslawische Wirtschaft dürfte erst in fünfzehn Jahren wieder das Niveau von 1998 erreichen.6

Zugleich haben sich die Beziehungen zwischen Montenegro, Serbien und der jugoslawischen Armee weiter verschlechtert. Deshalb ist mit neuen Spannungen zu rechnen oder sogar mit dem Auseinanderbrechen der Bundesrepublik, in deren Rahmen die Autonomie des Kosovo verwirklicht werden sollte.

Ob die jugoslawische Krise im Kosovo ihr Ende findet, wie manche Leute meinen, ist also durchaus offen. Die Entwicklung hängt zum Teil natürlich vom Schicksal des Slobodan Miloševic und seiner Regierung ab. Nachdem die Nato-Intervention die serbische Bevölkerung in patriotischen Gefühlen geeint hatte, folgt nunmehr eine Welle sozialer und politischer Proteste. Es ist gewiss noch zu früh, die reale Stärke dieser Protestbewegung abzusehen, aber schon jetzt stellt sich die Frage, ob sie überhaupt die so lange ersehnte Demokratisierung herbeiführen kann.

Wie die Ansetzung rascher Wahlen durch das Miloševic-Regime zeigt, dürfte die Zerrüttung von Wirtschaft und Gesellschaft wohl eher die Fortführung der eingefahrenen klientelistischen und populistischen Praktiken begünstigen als einen wirklichen Demokratisierungsschub. Angesichts hunderttausender Flüchtlinge und der aufgestauten nationalen Frustrationen ist eine rasche Beilegung der „serbischen Frage“ nicht zu erwarten.

So gesehen dürfte das Vorgehen der Nato selbst dann, wenn es am Ende den Sturz von Miloševic begünstigen sollte, dazu beigetragen haben, die jugoslawische Krise zu verschärfen und über die Herrschaftszeit ihres Hauptanstifters hinaus zu verlängern.

Am Ende einer Bilanz der Nato-Intervention gegen Jugoslawien stellt sich die Frage nach den Folgen für die gesamte Region. Auf dieser Ebene sind offenbar die positivsten Auswirkungen zu verzeichnen. Nicht nur ist eine Destabilisierung der so genannten Frontstaaten (Albanien, Makedonien, Bosnien-Herzegowina) ausgeblieben, nach elf Wochen Krieg hat sich unter den führenden westlichen Politikern auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Europäische Union der Balkanregion unbedingt wirtschaftliche Hilfe und die Aussicht auf Integration in die Europäische Union bieten muss. Aus dieser Einsicht entspringt die Idee eines „Marshallplans“ und eines „Stabilitätspakts“ für Südosteuropa. Doch auch in diesem Punkt sind etliche Vorbehalte und eine differenzierte Sicht angebracht. Zum einen ist es wohl weniger der Nato-Intervention zu verdanken, dass die befürchtete Kettenreaktion ausgeblieben ist, die auch die anderen Balkanstaaten destabilisiert hätte. Es war vielmehr die positive Entwicklung in diesen Ländern, dank deren die „kollateralen“ Schäden der Intervention begrenzt geblieben sind. Man möchte sich nicht ausmalen, welche Folgen die Krise für die Region gehabt hätte, wenn an Stelle des griechischen Ministerpräsidenten Kostas Simitis oder der bulgarischen und rumänischen Präsidenten Petar Stojanow und Emil Costantinescu noch die populistischen und neokommunistischen Führungskräfte der frühen neunziger Jahre regiert hätten.

Andererseits stehen den ehrgeizigen Wiederaufbau- und Integrationsplänen für den Balkan zwei Haupthindernisse im Wege. Das erste ist Serbien. Solange dieses Land isoliert und zerrüttet bleibt, wird es auf dem Balkan weder Stabilität noch Wohlstand geben. Das zweite Hindernis ist die mangelnde Verlässlichkeit des Westens. Werden die während des Krieges gemachten Versprechungen nicht eingehalten, würde das eine Welle von Ressentiments auslösen und alle möglichen Demagogen begünstigen. Allerdings kommt die Erkenntnis, dass der Balkan wirtschaftlich unterstützt und als vollwertiger Bestandteil Europas betrachtet werden muss, einigermassen spät. Die jugoslawische Krise hätte vielleicht nicht in eine dramatische Sackgasse geführt, wenn die führenden westlichen Politiker und Intellektuellen (unterstützt von gewissen Stimmen aus Prag) 1989, zum Zeitpunkt des Sturzes des Kommunismus, nicht von einer unüberbrückbaren kulturellen Kluft zwischen Mitteleuropa und dem Balkan ausgegangen wären. Oder wenn man Jugoslawien nicht in zwei Teile zerschnitten7 hätte, oder wenn die europäischen und internationalen Finanzinstanzen den ersten jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Markovic unterstützt hätten, statt ihn in die Enge zu treiben. So gesehen können die guten Absichten nach dem Krieg die Fehler der letzten zehn Jahre nicht aufwiegen, zumal sich bei der Nato-Intervention, entgegen dem äußeren Anschein, die Linie der begangenen Fehler fortgesetzt hat.

So war etwa der Hauptfehler der Konzeption, die dem Rambouillet-Prozess und der Nato-Intervention zugrunde lag – den Verhandlungsweg zu versperren und zugleich vor Ort die Entfesselung der Gewalt zuzulassen – schon im Vorgehen der Europäischen Gemeinschaft im Herbst 1991 angelegt. Damals verzichtete die Gemeinschaft auf den Versuch einer umfassenden Verhandlungslösung für die jugoslawische Krise, die man noch auf der Konferenz von Den Haag angestrebt hatte. Stattdessen beschränkte sie sich auf eine jeweils isolierte und fallweise Behandlung der daraus resultierenden Konflikte, indem sie die sezessionistischen Republiken anerkannte (was keine Lösung brachte) und die albanische Frage stillschweigend beerdigte.

So gesehen ist die Lösung des Kosovo-Problems um den Preis einer Verschärfung der Gesamtprobleme der Bundesrepublik Jugoslawien nur das bisher letzte Beispiel einer seltsamen Salamitaktik, die von der westlichen Diplomatie seit 1991 verfolgt wird. Diese Taktik läuft darauf hinaus, jede „Etappe“ der jugoslawischen Krise so zu bewältigen, dass die anfallenden Kosten auf die nächste Etappe überwälzt werden: 1991 nahm man als Preis für die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens die Destabilisierung von Bosnien-Herzegowina in Kauf, 1995 als Preis für den Abschluss des Dayton-Abkommens die Ausklammerung des Kosovo-Problems.

Dass die westlichen Diplomaten immer wieder denselben fatalen Irrtum begehen, hat stets den gleichen Grund: Da sie im ehemaligen Jugoslawien keine lebenswichtigen Interessen verfolgen und deshalb nicht wirklich die Absicht haben, zu helfen oder die Region in Europa zu integrieren, wollen sie diese nur rasch und zu möglichst geringen Kosten befrieden. Das Fatale ist dabei nur, dass jeder dieser Versuche bislang zur Verschärfung der Krise geführt hat: 1991 behaupteten deutsche Diplomaten, die sofortige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens sei das einzige Mittel, um die Krise schnell zu überwinden; acht Jahre später glaubte Madeleine Albright, nach dem Abwurf einiger Raketen über Serbien werde Miloševic das Rambouillet-Abkommen schon brav unterzeichnen.

Diese Kontinuität des Irrens wirft eine Reihe von Fragen auf. Kann man überhaupt noch von Irrtümern reden? Muss man nicht hinter der Haltung des Westens ganz andere Motive vermuten? Die Tatsache, dass der jugoslawische Raum nach 1989 deutlich an strategischer Bedeutung verloren hat, ändert letzten Endes nichts daran, dass die jugoslawische Krise von weiter reichenden Umstrukturierungen im europäischen Machtgefüge und Denken überlagert wurde. Ein Indiz dafür könnte man darin sehen, dass jede Etappe dieser Krise zugleich eine wichtige Neuordnung der Kompetenzbereiche und Legitimationsmuster von Institutionen wie UNO, Nato und Europäischer Union brachte, die sich auf ihre innere Balance wie auf ihre wechselseitigen Beziehungen auswirkte.

Man mag also die Charakterisierung der jugoslawischen Krise als imperialistische oder von Deutschland und dem Vatikan gesteuerte Verschwörung als lächerliche und verkürzte Wahrnehmung abtun, aber genauso verkürzt und lächerlich wäre es, die internationalen Protagonisten als völlig selbstlose Akteure darzustellen.8 Und wenn Václav Havel behauptet, die Nato-Intervention sei der erste Krieg, der „um Werte und Prinzipien“ geführt wurde9 , zeigt dies nur, wie sehr der humanistische und moralische Diskurs, der vor zehn Jahren zum Zusammenbruch des Kommunismus geführt hat, inzwischen auf den Hund gekommen ist.

Wer auf der Notwendigkeit besteht, die real existierenden Interessen in Rechnung zu stellen, behauptet damit keineswegs, dass die Analyse der einzelnen Fehler unwichtig sei. Denn die geschilderte Häufung politischer Fehlentscheidungen könnte auch auf fehlerhafte theoretische und konzeptuelle Ansätze zurückgehen. Seit 1991 stehen die führenden westlichen Politiker und Diplomaten vor einem grundlegenden Widerspruch der nationalstaatlichen Ordnung, deren Vertreter sie sind – dem Widerspruch zwischen territorialer staatlicher Integrität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Mit dem Zerfall der Bundesrepublik Jugoslawien, in der es keine Übereinstimmung zwischen den Grenzen der Republiken und denen der Siedlungsgebiete der ethnischen Gemeinschaften gab, musste dieser Widerspruch zwangsläufig aufbrechen. Anstatt ihn zu überwinden, haben die europäischen Politiker nur von Fall zu Fall reagiert und nur zufällige, willkürliche Lösungen angeboten. Das führte am Ende, um den Preis von hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen, zur Herausbildung ethnisch homogener territorialer Einheiten, also von Nationalstaaten, die bereits vollendet oder noch in der Entstehung begriffen sind.10

Hier geht es nicht darum, den westlichen Ländern die Verantwortung für die Verbrechen aufzuladen, die gewisse Politiker und Militärs in Jugoslawien begangen haben, allen voran Slobodan Miloševic. Doch die Art und Weise, wie die westlichen Führungen mit dem Fall Miloševic und infolgedessen auch mit der „serbischen Frage“ umgegangen sind, macht deutlich, wie ihre Einschätzungsfehler eine Reihe von kriminellen Handlungen begünstigt haben. In Wirklichkeit haben sie nie aufgehört, Slobodan Miloševic mit dem serbischen Volk gleichzusetzen. Sie taten es ganz offenkundig beim Abschluss des Dayton-Abkommens im Jahr 1995 und erneut 1999, als wiederum die gegen Miloševic eingestellten Kosovo-Serben nicht nach Rambouillet eingeladen wurden (während die albanische Delegation aus Vertretern verschiedenster politischer Strömungen zusammengesetzt war).

Und sie haben Slobodan Miloševic auch insofern das Monopol für die „serbische Frage“ überlassen, als sie das von ihm errichtete politische System ausschließlich als kruden Nationalismus interpretierten, zugleich aber der serbischen nationalen Frage jegliche reale Grundlage und Berechtigung absprachen. Schließlich haben sie auch total übersehen, wie sehr der Niedergang der serbischen Wirtschaft zwischen 1992 und 1995 oder die Zerstörung der industriellen Infrastruktur Serbiens 1999 die klientelistischen und mafiosen Praktiken gefördert hat, auf die sich das Regime vor allem stützt.

Auch das Denken in vorschnellen Analogien hat entscheidend dazu beigetragen, die jugoslawische Krise simplifizierend und verzerrt wahrzunehmen. Konfrontiert mit unerwarteten traumatischen Ereignissen, haben die Beteiligten vor Ort wie auch die internationalen Beobachter versucht, die Konflikte in Jugoslawien durch Vergleiche mit früheren Kriegen zu entziffern. Umso erstaunlicher ist in diesem Zusammenhang, dass weder die örtlichen Akteure noch die internationalen Beobachter auf die gewaltsame Teilung Zyperns im Jahr 1974 Bezug nahmen, obwohl die zahlreichen Ähnlichkeiten mit dem Konflikt in Jugoslawien offenkundig sind und Slobodan Miloševic sich wohl eher am Vorgehen der Türkei orientiert hat als an dem des Dritten Reiches.

Aber der vergleichende Hinweis auf den Zypern-Konflikts wäre in der europäischen Öffentlichkeit nicht nur auf weitgehendes Unverständnis gestoßen, er hätte auch keinem der Beteiligten in den Kram gepasst: den Serben nicht, die sich in der fatalen Rolle der verabscheuten Türken wiedergefunden hätten; aber auch den westlichen Ländern nicht, die auf einmal hätten erklären müssen, warum sie Serbien etwas verweigern, was sie einem Mitgliedstaat des Atlantischen Bündnisses durchgehen lassen.

Seit 1991 ist der Zweite Weltkrieg ganz gewiss einer der wichtigsten Bezugspunkte für die inneren und äußeren Teilnehmer des aktuellen Geschehens. Dieser Bezug ist insofern normal und berechtigt, als der jugoslawische Raum und ganz Europa zutiefst vom letzten Weltkrieg geprägt sind und die heutigen Konflikte gewisse Bezüge und Ähnlichkeiten zu diesem Krieg aufweisen. Doch der Zweite Weltkrieg bietet sich auch für alle möglichen Manipulationen an (wie Slobodan Miloševic selbst mit seinem Vorgehen zeigt) und kann sogar Anlass für handfeste Irrtümer sein.

Auf ihre vorwärtstreibende Rolle bei der Intervention gegen Jugoslawien befragt, hat Madeleine Albright wiederholt auf die Angst vor einem zweiten „München-Syndrom“ hingewiesen. Obzwar auch diese Sorge legitim ist, wäre freilich erst einmal zu klären, was mit diesem Syndrom genau gemeint ist. Oder konkreter gefragt: was Chamberlain und Daladier dazu bewogen hat, das Münchner Abkommen zu unterzeichnen. Es war weder ihre besondere Sympathie für Adolf Hitler noch reiner Pazifismus, sondern wahrscheinlich eher die Erinnerung an das Gemetzel des Ersten Weltkrieges und die Angst, dass sich Ähnliches wiederholen könnte. Sie machten mit anderen Worten den Fehler, über einen aktuellen Konflikt in den Kategorien eines vergangenen Konfliktes nachzudenken. Offensichtlich riskiert Madeleine Albright in ihrem Bemühen, den moralischen Irrtum der Unterzeichner des Münchner Abkommens zu vermeiden, erneut einer ähnlichen Fehleinschätzung zu unterliegen.

dt. Birgit Althaler

* Forscher am staatlichen französischen Forschungsinstitut CNRS. Autor von „Bosnie: Anatomie d'un conflit“, Paris (La Découverte) 1996.

Fußnoten: 1 Zwar wurden im Dayton-Abkommen die Ergebnisse der kroatisch-muslimischen Offensive vom September 1995 abgesegnet, zugleich aber auch die der kroatischen Offensive im August in der Krajina und der serbischen Offensive im Juli gegen die muslimischen Enklaven Srebrenica und Zepa. Im Übrigen wurden die territoriale Aufteilung (Kroatisch-Muslimische Föderation mit 51 Prozent und Serbische Republik in Bosnien mit 49 Prozent) sowie die meisten institutionellen Vorkehrungen übernommen, welche die Kontaktgruppe seit 1994 ausgearbeitet hatte. 2 Das Argument, wonach es genügt hätte, Bodentruppen bereits vor dem Luftkrieg aufmarschieren zu lassen oder die UCK zu bewaffnen, löst das Problem nicht, da die jugoslawische Armee wahrscheinlich „präventive“ ethnische Säuberungen vorgenommen hätte, sobald sie sich durch solche Maßnahmen bedroht gefühlt hätte. 3 Während der zweiten Verhandlungsrunde des Abkommens, die im Internationalen Konferenzzentrum der Avenue Kléber in Paris stattfand, erhielt Madeleine Albright die Unterschrift der albanischen Delegation gegen die informelle Zusicherung, nach einer Übergangszeit von drei Jahren ein Referendum über die Selbstbestimmung abhalten zu können. Zudem gewährte Artikel 8 im Anhang B des Rambouillet-Abkommens der KFOR auf dem gesamten Territorium der Bundesrepublik Jugoslawien „das Recht zur Errichtung von Lagern, das Abhalten von Manövern sowie das Recht zur Nutzung sämtlicher Gebiete und Einrichtungen, die für den Nachschub, Übungen oder Operationen benötigt werden“. Hinzu kommt in Artikel 21 das Recht, „Individuen festzunehmen und diese so schnell wie möglich den zuständigen Behörden zu übergeben“. Der viel strapazierte Vergleich mit dem Dayton-Abkommen trifft in diesem Punkt nicht zu: Den Ifor-Truppen sind zwar auf dem Territorium von Bosnien-Herzegowina dieselben Rechte eingeräumt wie in Artikel 8, aber für das Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien ist nur ein einfaches Transitrecht vorgesehen. 4 Kurz vor Ausbruch des Bosnien-Konflikts war es dem portugiesischen Diplomaten und EG-Unterhändler José Cutileiro zwei Mal gelungen, die muslimische, serbische und kroatische Delegation zur Unterschrift unter ein „Kantonisierungsabkommen“ für Bosnien-Herzegowina zu gewinnen (am 22. Februar 1992 in Lissabon und am 23. März 1992 in Sarajevo). Doch dieses Abkommen, das jede der Delegationen aus diametral entgegengesetzten taktischen Überlegungen unterzeichnet hatte, beschleunigte nur den Ausbruch des Konfliktes, anstatt ihn zu verhindern. 5 Siehe den Resolutionstext auf der Website der UNO (http://www.un.org/Docs/scres/1999/99sc1244.htm). Zudem ist im Abkommen, das am 9. Juni 1999 zwischen der Nato und der jugoslawischen Armee geschlossen wurde, auch nicht mehr von der Ausweitung gewisser Vorrechte und Aufträge der KFOR auf das gesamte Staatsgebiet Jugoslawiens die Rede. (Vgl. dazu den Text dieses Abkommens auf der Website der Nato: http:/ www.nato.int/kosovo/docu/a990609a.htm) 6 Vgl. das Interview mit dem Ökonomen Mladjan Dinkic in der Wochenzeitschrift Vreme, Belgrad, 26. Juni 1999. 7 Vgl. Maria Todorova, „Imagining the Balkans“, Oxford University Press, 1997; Milica Bakic-Hayden und Robert Hayden, „Orientalist Variations on the Theme 'Balkans‘: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics“, Slavic Review, Frühjahr 1992, S. 1-15. 8 Vgl. Thanos Veremis, „As Pure as the West Virginia Snow? Great Power Motivations and Southeast Europe“ auf der Website des Center for Democracy in Southeastern Europe (http://www.cdsee.org). 9 Václav Havel, „Kosovo and the End of Nation-State“, The New York Review of Books, 10. Juni 1999, S. 6. 10 An dieser Stelle ist die Behauptung zu relativieren, wonach die Art des Umgangs der internationalen Staatengemeinschaft mit dem Konflikt in Jugoslawien den Niedergang des Nationalstaats und des Souveränitätsprinzips signalisiere. Im Übrigen hat die Nato-Intervention zwar die Souveränität der Bundesrepublik Jugoslawien im Namen der Menschenrechte in Frage gestellt, gleichzeitig aber die Souveränität der Vereinigten Staaten und die Vorherrschaft der Nato gegenüber dem UN-Sicherheitsrat deutlich bestätigt.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von XAVIER BOUGAREL