10.09.1999

Armut ist ein dehnbares Wort

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Armut ist ein dehnbares Wort

Von GODFRIED ENGBERSEN *

JAHR für Jahr registriert der UN-Weltbericht über die Entwicklung der Menschheit eine wachsende Kluft zwischen reichen und armen Gesellschaften, die vor allem entlang dem Nord-Süd-Gegensatz verläuft. Aber auch innerhalb der entwickelten Welt werden im Zuge von Globalisierung und Deregulierung die Einkommensunterschiede immer größer, und mit dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen ist die Zunahme der Armen auch in den reichen Ländern programmiert. Aber gibt es einen objektiven Begriff von Armut, der einemSlumbewohner in Bangladesch ebenso gerecht wird wie einem arbeitslosen Dänen? Die Frage verweist auf das grundlegende Problem, ob Sprache das real existierende Elend überhaupt erfassen kann.

Die Zunahme der sozialen Ungleichheit, die im Weltmaßstab zu verzeichnen ist1 , geht seit Mitte der achtziger Jahre mit einer wachsenden Armut auch in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten einher. Der Gegensatz von öffentlicher Armut und privatem Wohlstand ist also nichts Neues.

Im Lauf der Nachkriegszeit hat das Thema Armut mehrfach heftige Debatten ausgelöst. Doch erst in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren wurden Probleme wie die der Randgruppen (der so genannten Ausgegrenzten), der zunehmenden Beschäftigungsunsicherheit, der Infragestellung des Sozialstaats und der Integrationsprobleme der ethnischen Minderheiten in ihrem vollen Umfang wahrgenommen. Die Armut wird also in gewissen Abständen immer wieder neu entdeckt. All diese Einzelphänomene konnten jedoch bis heute kein dauerhaftes Interesse auslösen. Deshalb blieb das Thema Armut – als gesellschaftlicher Makel – stark vernachlässigt, vor allem im Vergleich mit anderen Fragen wie etwa der, welches Niveau sozialstaatlicher Absicherung finanziell verkraftet werden könne.

Dieses unstete Hin und Her, das sich in der öffentlichen Meinung der reichen Länder niederschlägt, bietet das klassische Beispiel einer politischen Streitfrage, die durch die Berufung auf die „Fakten“ allein nicht beizulegen ist. Denn kontrovers ist nicht nur die Relevanz der herangezogenen Statistiken, sondern auch die Frage, wie diese zu interpretieren seien.

So sehen die einen im Besitz von langlebigen Gebrauchsgütern (Auto, Computer, Videorekorder) bei einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen den Beweis dafür, dass diese Gruppen gar nicht so arm sind. Für andere zeigt derselbe Sachverhalt im Gegenteil an, dass die heutige Form von Armut sich nicht nur auf der Ebene der materiellen Bedürfnisse äußert, sondern vor allem als soziale Frustration. Ein weiteres Beispiel: Die große Zahl von Arbeitslosen unter den Armen lässt sich mit der „Faulheit“ der „Sozialhilfeempfänger“ oder aber vor allem mit dem realen Mangel an verfügbaren Arbeitsplätzen begründen. Wie diese Beispiele verdeutlichen, sind Auswahl und Interpretation der Fakten weitgehend von dem zugrunde liegenden Wertesystem abhängig.

Das zeigt sich auch in der sprachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Armut, bei der mindestens fünf verschiedene Sprachformen zu unterscheiden sind: die bürokratische, die moralisierende, die dramatisierende, die akademische und nicht zuletzt die Sprache der Armen selber.2 Diese Vielfalt erklärt auch teilweise das babylonisch anmutende Begriffsdurcheinander. Wer an eine romanhafte Sprache gewöhnt ist, verdammt die Kälte der bürokratischen Ausdrucksweise, wohingegen das komplizierte Idiom der Wissenschaftler, die dem Problem mit zahlreichen Definitionen zu Leibe rücken, die Politiker zur Verzweiflung bringt. Und die Hauptbetroffenen erkennen sich in keinem dieser Jargons wieder. Für sie ist Armut keine „Definitionssache“, sondern die harte Realität, unter der sie leiden.

Die bürokratische Sprache konzentriert sich auf die Definition einer Armuts-„Grenze“. Arm sind danach die Menschen, deren Einkommen ein bestimmtes Niveau unterschreitet. In vielen europäischen Ländern setzt der Staat fest, unterhalb welcher Grenze er eine Unterstützung gewährt. Die entsprechende Terminologie ist abstrakt, technisch, sachlich.

Ganz anders die moralisierende Sprache. Sie fällt ein Urteil über das Verhalten der Armen und stellt sie entweder als unverantwortlich, gefährlich und motivationslos hin oder umgekehrt als unglücklich, unschuldig und bedürftig. Diese in den Traditionen der amerikanischen Sozialhilfe wurzelnde Sprache, die insbesondere zwischen würdigen und unwürdigen Wohlfahrtsempfängern unterscheidet, hat in den letzten zehn Jahren eine deutliche Neubelebung erfahren.

Die dramatisierende Sprache trug in den achtziger und neunziger Jahren entscheidend dazu bei, dass den Armen materiell geholfen und, ganz allgemein, die Öffentlichkeit in dieser Frage mobilisiert wurde. Im Gegensatz zum bürokratischen Jargon benennt sie auf konkrete, anschauliche und emotionale Weise die alltäglichen Probleme der Armen: die unerschwinglichen Kosten für den Schulweg, die Demütigung durch die Sozialhilfe, die Bitterkeit der verheimlichten Armut usw. In dieser Sprache hat sich zum Beispiel der niederländische Bischof Martinus Muskens ausgedrückt, als er erklärte, ein Armer habe sehr wohl das Recht, sich in einem Laden einen Laib Brot zu nehmen, wenn er sonst nichts mehr zum Leben habe. Der heutige Ministerpräsident der Niederlande benutzt die gleiche Sprache, wenn er dem Bischof antwortet: „Ich komme aus einer Familie, in der jeder Pfennig umgedreht werden musste, doch wir waren zu stolz, nach etwas zu greifen, was uns nicht von Rechts wegen gehörte.“

Auch die Sprache der Wissenschaft will, wie die bürokratische Sprache, eine Armutsgrenze definieren. Allerdings ist sie weniger kategorisch und eindimensional. Sie entwickelt alternative Begriffe wie soziale Ausgrenzung oder underclass (Unterschicht) und interessiert sich mehr für die Ursachen der Armut, wenn auch nur selten – jedenfalls in Europa – gemeinsam mit den Armen. Im Vordergrund stehen bei ihr zumeist allgemeine Erscheinungen wie zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit (beim Übergang in die postindustrielle Gesellschaft), Brüchigkeit der sozialen Beziehungen, demografische Entwicklungen (wachsender Anteil an Älteren und Immigranten) und Abbau des Sozialstaats.

Die Sprache der Armen ist die, in der sie selbst ihre Situation darstellen. Deren Stimmen erreichen uns indirekt durch ihre Repräsentanten und Interessengruppen oder auf dem Umweg über Untersuchungen, die sich um eine getreue Wiedergabe ihrer Ausdrucksweise bemühen. „Das Elend der Welt“3 ist dafür ein gutes Beispiel, denn Pierre Bourdieu und sein Team haben Interviews mit Menschen veröffentlicht, die zur Schicht der „sozial Schwachen“ gehören. Doch auch hier wurden die Auszüge von Außenstehenden ausgewählt und redigiert. Die Sprache der Armen ist in zweierlei Hinsicht wichtig. Zum einen liefert sie eine „Innen“-Ansicht des sozialen Status, so wie er erlebt wird. Inwieweit sehen sich die Armen noch als Mitglieder der Gesellschaft? Erfahren Sie sich als überflüssig, als vergessene Menschen? Benutzen sie das Wort Armut, um ihre Situation zu beschreiben? Zum anderen erlaubt es die Sprache der Armen, ihre innere Einstellung zu erfassen. So wird etwa das ständig kolportierte Opferklischee durch die kämpferische Haltung vieler benachteiligter Familien entschieden dementiert.

Diese verschiedenen Sprachen stoßen in den öffentlichen und politischen Diskussionen aufeinander, und in dieser Konfrontation bestätigen sich die unterschiedlichen Positionen der Beteiligten – Politiker, Staatsangestellte, Forscher, Gewerkschaftler – und die Rollen, die sie spielen müssen. Aber sie macht auch deutlich, wie grundverschieden das Problem der Armut gesehen und angegangen wird.

Solange es um die Feststellung geht, dass die Armen Hunger leiden oder vom Tod bedroht sind, gibt es keinerlei Differenzen. Die treten allerdings sofort zutage, wenn sich der Begriff Armut auf moderne Formen sozialer Ungleichheit bezieht. Dieses erweiterte Verständnis von Armut führt zu kontroversen Diskussionen und vielfältigen Missverständnissen.

Für viele Europäer ist es selbstverständlich, die afroamerikanischen Bürger der schwarzen Ghettos in Nordamerika genauso als Arme zu bezeichnen wie die Bewohner von Elendshütten im indischen Surat, wo 1994 die Pest erneut ausgebrochen ist. Aber inwieweit trifft dieser Begriff für unsere eigene Bevölkerung zu? Gilt er auch für die Immigranten in den französischen Vorstädten, für die alleinstehenden Mütter in Polen, für die arbeitslosen Arbeiter in den ehemaligen englischen Industriestädten oder die Sozialhilfeempfänger in den Großstädten der Niederlande – für Gruppen also, die sich nach Einkommen, sozialer Absicherung und Lebenserwartung sehr stark unterscheiden? Der allmähliche Wandel des Armutsbegriffs im Lauf dieses Jahrhunderts ist auch eine Antwort auf diese Fragen. Heutzutage geht es nicht mehr um die absolute, physische Bedrohung der Existenz (Armut als Gefährdung des Überlebens), sondern um eine Situation, in der ein Mensch nicht an die üblichen Standards seiner Gesellschaft heranreicht und deshalb nicht an ihr teilhaben kann.

Das bedeutet keine Gleichsetzung von Armut und sozialer Ungleichheit. Armut impliziert zweifellos soziale Ungleichheit, ist aber nicht automatisch deren Resultat. Wenn man die 10 oder 20 Prozent am unteren Ende der Einkommensskala als arm bezeichnet, gibt es immer Arme. Und doch kann es dem einkommensschwächsten Segment einer reichen Gesellschaft gut gehen. „Arm“ bezeichnet also nicht nur die relative Benachteiligung einer Gruppe gegenüber den anderen, sondern auch ein besonders niedriges Sozialniveau. Ein Haushalt ist arm, wenn sein Einkommen unterhalb einer bestimmten Grenze liegt, seine Mitglieder also die materiellen und sonstigen Voraussetzungen entbehren, die eine umfassende, angemessene Teilhabe an der Gesellschaft erlauben.

Sisyphusarbeit

NATÜRLICH sind die Armutsgrenze und die damit zusammenhängenden Einkommenskriterien von Land zu Land verschieden. In einigen Regionen reichen Gesundheit und das notwendige Minimum an Nahrung und Bekleidung für eine soziale Teilhabe voll und ganz aus. In einer postindustriellen Gesellschaft hingegen braucht der Mensch, um wirklich am sozialen Leben teilnehmen zu können, außer Nahrung, Kleidung und einem Dach über dem Kopf auch eine angemessene Ausbildung und moderne Kommunikations- und Informationsmittel wie Fernsehen, Telefon und einen Computer. Amenya Sen, der amerikanische Volkswirtschaftler und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, vertritt denn auch die Position, dass eine volle Teilhabe am sozialen Leben je nach Kultur, Region und Zeit von unterschiedlichen finanziellen Kriterien abhängt. Wobei allerdings aus einem neueren Bericht der Vereinten Nationen hervorgeht, dass diese Kriterien im Zuge der Globalisierung immer mehr Allgemeingültigkeit erlangen.4

Arm sein könnten nach dieser Überlegung also sowohl ein holländischer Sozialhilfeempfänger (dem alle sozialen Rechte zustehen), als auch eine staatlich unterstützte Mutter in Neapel oder ein illegaler Arbeiter in Berlin (der keinerlei sozialen Schutz genießt). Doch man muss sich auch vor dem inflationären Gebrauch des Armutbegriffs hüten. Wenn zu viele Menschen in den reichen Ländern als arm gelten, verliert der Begriff seine Glaubwürdigkeit. Er sollte vielmehr vor allem für solche Staatsbürger (und Nichtstaatsbürger) reserviert bleiben, die auf Dauer mit minimalen Einkommen leben müssen und aus den wichtigsten sozialen Sphären – wie Arbeitsmarkt und Freizeitaktivitäten – ausgeschlossen sind.

In der aktuellen Armutsforschung gibt es eine Fülle von Ansätzen, dieses Problem anzugehen. Doch viele von ihnen werden der Komplexität des Gegenstandes nicht gerecht. So zum Beispiel, wenn Armut unter dem Aspekt der unmittelbarsten Lebensbedürfnisse betrachtet wird, die der Definition von Armut in den USA zugrunde liegen. Als arm gelten dort Haushalte, deren Einkommen nicht die notwendigen Mindestausgaben für die Befriedigung einer Reihe elementarer Bedürfnisse abdeckt. Es gibt aber auch relativistische Ansätze, die auf das Einkommen abheben, wobei die Armutsgrenze bei 50 bzw. 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in dem jeweiligen Lande gezogen wird. Zu erwähnen sind ferner die Definitionen, die die Politiker liefern, die subjektiven Ansätze, die sich aus der Meinung der Bürger selber ergeben, sowie die Ansätze, die herauszufinden suchen, wie Menschen ohne die notwendigen Güter und Dienstleistungen leben können.

Gegen alle diese Ansätze gibt es ernsthafte Einwände. So ist in den USA die offizielle Armutsgrenze sehr niedrig angesetzt und erlaubt keine Befriedigung der Bedürfnisse, die für eine volle Teilhabe am sozialen Leben unerlässlich sind. Umgekehrt kann der relativistische Ansatz dazu führen, dass Gruppen als „arm“ gelten, deren Angehörige durchaus komfortabel leben. Der politische Ansatz wiederum impliziert, dass sich mit jeder Anhebung des Mindestlebensstandards die Zahl der Armen erhöht. Auch der subjektive Ansatz führt generell zu einem hohen Prozentsatz von Armen, insofern er nicht die Armut misst, sondern den Grad der Zufriedenheit, den die Menschen hinsichtlich ihres Einkommens empfinden. Letzten Endes lässt sich nur schwer entscheiden, welche Bedürfnisse und Dienstleistungen in einer entwickelten modernen Gesellschaft unabdingbar sind. Wer keinen Fernseher besitzt oder keinem Klub angehört, ist nicht unbedingt Opfer von Armut.

Die Bewertung von Armut wird zuweilen als Sisyphusarbeit dargestellt. Tatsächlich ähnelt die Aufgabe des „Armutsforschers“ den Anstrengungen des legendären Königs von Korinth, der unablässig einen Felsen zum Gipfel eines Hügels hinaufrollen musste, von dem dieser aber immer wieder hinunterrollte. Armut ist orts- und zeitgebunden. Sie muss ständig neu definiert und aktualisiert werden.

Das gilt auch für den so modisch gewordenen Begriff der gesellschaftlichen Ausgrenzung, der seit 1989 auch im offiziellen politischen Vokabular der Europäischen Union auftaucht und sich in den wissenschaftlichen Arbeiten über Ungleichheit und sozialen Zusammenhalt ausbreitet. Natürlich stammt dieser Begriff aus der sozialkritischen französischen Literatur, die sich mit Randgruppen, insbesondere mit Obdachlosen beschäftigt. Aber im europäischen Kontext hat sich seine Bedeutung beträchtlich erweitert. Und in den politischen Dokumenten wird nicht genau geklärt, worauf sich „soziale Ausgrenzung“ bezieht und vor allem von was die Betroffenen „ausgegrenzt“ werden.

Diese Unschärfe des Begriffs erklärt zum Teil auch die Vorliebe für seine Verwendung: Jeder kann in ihm finden, was er sucht. Das gilt exemplarisch für die Diskussion in Frankreich. Alle Parteien sprechen sich gegen die Armut aus, aber ihre Motive sind ebenso unterschiedlich wie die jeweilige Politik, die sie zu ihrer Bekämpfung vorschlagen. Die Ungenauigkeit des Begriffs erklärt auch die verbreitete Skepsis hinsichtlich seiner Bedeutung. Die Versuchung, einen anderen Begriff für die Armut zu modifizieren, ist groß. Doch die neue Bezeichnung könnte eher verschleiernd als entschleiernd wirken.

dt. Sigrid Vagt

* Professor für Soziologie an der Erasmus-Universität in Rotterdam, Redaktionsleiter der Zeitschrift „Arm Nederland“, Amsterdam (University Press).

Fußnoten: 1 Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), „Weltbericht über die Entwicklung der Menschheit 1999“, Bonn (UNO-Verlag) 1999. 2 Siehe John Friedman, „Rethinking Poverty-Empowerment and Citizen Rights“, International Social Science Journal, Paris (Unesco), Bd. 48 (1996), Nr. 2, S. 61-122. 3 Pierre Bourdieu u. a., „Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft“, Konstanz (Universitätsverlag) 1997, Übersetzerkollektiv. 4 a. a. O.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von GODFRIED ENGBERSEN