Operation gelungen, Nato außer Gefecht
Von GABRIEL KOLKO *
EIN militärischer Erfolg in einem politischen Vakuum kommt einer Niederlage gleich, lautet eine der grundlegenden Lehren aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Die Operation im Kosovo hat nicht nur zur weiteren Destabilisierung des Balkans beigetragen, sie stellt auch die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, die Welt zu regieren, in vielerlei Hinsicht in Frage. Die Nato hat sich im Kosovo-Konflikt als ein wenig zuverlässiges Instrument erwiesen, weil sich eine Kluft auftat zwischen ihren Verpflichtungen un der öffentlichen Meinung in den Mitgliedstaaten, die einen langwierigen, brisanten Konflikt nicht unterstützen wollte.
Die blutigsten nationalistischen und irredentistischen Rivalitäten in Europa nehmen seit Jahrhunderten ihren Ausgang von der Balkanregion. Insofern ist es kein Zufall, dass der Erste Weltkrieg gerade durch Ereignisse in Bosnien und Herzegowina ausgelöst wurde.
Die jüngste jugoslawische Krise begann 1990 mit dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und mit der Sezession Kroatiens, die damals erfolgte, ohne den rechtlichen Status der serbischen Minderheit (12 Prozent der Bevölkerung) auf kroatischem Territorium geklärt zu haben.
Die Gewalt produzierte weitere Gewalt, die zu einem regelrechten ethnischen Krieg führte, in dem Zehntausende Menschen verwundet oder getötet und annähernd drei Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Den UNO-Truppen, die seit Anfang 1992 in der Region stationiert sind, gelang es erst im November 1995, die Gewalt zu stoppen.
Welche Kriterien man auch immer zugrunde legt: Der erste Einsatz der Vereinten Nationen war in politischer, humanitärer und wirtschaftlicher Hinsicht ein Misserfolg; und bis heute ist Exjugoslawien von tief greifenden ethnischen Konflikten gekennzeichnet.
Die Vereinigten Staaten zögerten während der ersten Phase der Krise, sich voll zu engagieren. Bei dieser jugoslawischen Tragödie schien jeder Versuch einer Lösung vergeblich, und die US-Nachrichtendienste hatten im Laufe der neunziger Jahre die vertrackten Konstellationen der Balkanregion immer wieder detailliert dargestellt. Jugoslawien wurde mithin zu einem weiteren Beispiel dafür, wie politische Entscheidungsträger genau diejenigen Informationen ignorieren, die ihnen nicht ins politische Konzept passen.
Die Krise, die sich 1998 im Kosovo zuspitzte (die Region gehört rechtlich zu Jugoslawien), fiel in eine Zeit, da die Vereinigten Staaten unbedingt eine Gelegenheit brauchten, um ihre Führungsrolle in der Nato durchzusetzen und ihre ehrgeizige neue Rolle in Europa zu rechtfertigen. Die politischen Ereignisse, die zu der Tragödie führten, waren zweitrangig gegenüber diesem überragenden Nato-politischen Ziel.
In den USA verabscheute man die jugoslawischen Führer, aber man verurteilte auch die Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK), die seit 1996 mit ihren sporadischen Terrorakten dazu beigetragen hatten, die serbische Repression erheblich zu verschärfen und die Gewaltspirale in Gang zu setzen. Die US-Regierung hatte sich den irredentistischen Bestrebungen der UÇK stets widersetzt, die auf einen unabhängigen Staat und über Grenzveränderungen auf die Gründung eines Großalbanien zielte.
Drei Tage sollten die Luftangriffe auf Jugoslawien dauern! Sie begannen am 23. März 1999, als sich die Vereinigten Staaten bereits in einer widersprüchlichen Lage befanden: Sie sollten ihre Waffen einsetzen, um einer Bewegung zum Sieg zu verhelfen, die sie politisch verurteilte. Jugoslawien war für die Nato der erste Kriegseinsatz in ihrer fünfzigjährigen Existenz. Und angesichts der riesigen Vorteile, die ein rascher Sieg für die Verwirklichung der großen politischen und bündnispolitischen Pläne der Regierung Clinton bedeutet hätte, war sich die Führung der Allianz sicher, dass der Einsatz lohnend wäre.
Die pausenlosen Luftangriffe auf Jugoslawien, die elf quälende Wochen lang die Welt in Atem hielten, markieren einen Einschnitt und eine historische Wende in den Beziehungen der Vereinigten Staaten zu ihren europäischen Partnern wie auch zu Russland und China. Die Operation stürzte die USA und ihre Alliierten in Jugoslawien und im Balkan in eine Krise von nie gekannter Komplexität, von der sie sich wahrscheinlich noch lange nicht erholen werden.
Erstes und offensichtlichstes Ergebnis des Nato-Einsatzes: Das Ansehen der Organisation als wirksame und glaubwürdige politische Koalition wurde unterhöhlt – vielleicht für immer. Auf politischer Ebene hatten die neunzehn Bündnispartner von Anfang an Differenzen über einige der diplomatischen Ziele, aber auch über die militärischen Leitlinien, die sich im Laufe des Krieges noch verstärkten. In Europa wie in den USA (und hier namentlich im Kongress) erwies sich die öffentliche Meinung als ein einschränkender Faktor von entscheidender Bedeutung; in Italien und Deutschland drohte bei einer Zuspitzung des Konflikts sogar die Gefahr, dass die regierenden Koalitionsregierungen auseinanderbrechen könnten.
Die Machthaber konnten seitdem nicht mehr davon ausgehen, dass die Bevölkerung künftig eine risikoreiche Außenpolitik automatisch unterstützen würde. Eine Niederlage bei den nächsten Wahlen könnte durchaus der Preis dafür sein, dass sie die öffentliche Meinung missachtet haben. Die Köpfe der Allianz verbrauchten ihre kostbare Zeit vornehmlich mit dem Bemühen, einen Kompromiss zwischen ihren ganz gegensätzlichen Positionen zu finden.
Unter demokratischen Bedingungen setzt sich innerhalb einer kriegführenden Koalition der kleinste gemeinsame Nenner durch. Herrscht über die politischen und diplomatischen Ziele in der Praxis keinerlei Übereinstimmung, ist das Funktionieren der Allianz gefährdet. Aber die Nato hatte sich seit ihrer Gründung in ihrem strategischen Kalkül niemals mit so vorhersehbaren und so entscheidenden Realitäten auseinandergesetzt.
Vor Beginn der Luftangriffe waren bei der Nato ausnahmslos alle Verantwortlichen überzeugt, dass ihre Spitzentechnologie und ihre massive Feuerkraft die Serben binnen weniger Tage zum Nachgeben bringen würden. Das Vertrauen in die eigene militärische Stärke – einer der maßgeblichen Gründe für die Intervention der USA in Vietnam – war auch im März 1999 für viele Entscheidungsträger in Washington ein wichtiges Motiv. Die amerikanischen Entscheidungsträger gehen davon aus, dass ihre tatsächlichen und potentiellen Feinde ihnen zutrauen, dass sie ihre Kriegsmaschine auch erbarmungslos einsetzen werden; vorhergehende Verhandlungen sind deshalb oft gar nicht möglich.
Die Nato hat, indem sie die serbischen Streitkräfte zum Abzug aus dem Kosovo zwang, die Wahrscheinlichkeit beträchtlich erhöht, dass die UÇK letzten Endes der politische Sieger bleiben wird. Womit garantiert ist, dass der destabilisierte Balkan auch in den kommenden Jahren ein Krisenherd sein wird. Und was die USA betrifft, so hat ihre Glaubwürdigkeit wie ihre Fähigkeit, den politischen Ausgang eines Krieges zu diktieren, sehr stark gelitten.
Risse zwischen Europa und den USA
DEN Vereinigten Staaten und ihren Alliierten ist es zwar gelungen, ihr unmittelbares militärisches Ziel zu erreichen, doch gleichzeitig haben sie ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der Nato als Organisation aufkommen lassen. Der erste militärische Einsatz des Bündnisses hat nur die grundlegende Lehre bestätigt, die uns alle Kriege des 20. Jahrhunderts geboten haben: Ein militärischer Sieg in einem politischen Vakuum kommt einer Niederlage gleich. Die USA stehen nach dieser neuen Tragödie isolierter da als je zuvor, und mehr denn je ohne jede realistische und stimmige Vorstellung über ihre europäische Rolle und ihre Beziehung zum Rest der Welt.
Wie sich schon in Korea und Vietnam gezeigt hat, hat selbst eine übermächtige Luftwaffe nur höchst begrenzte Möglichkeiten, sobald sie gegen eine dezentralisierte Armee eingesetzt wird. Entsprechend war es einer Luftstreitmacht von tausend Flugzeugen (von denen die meisten für den Transport von Atombomben und den Einsatz gegen Städte und konzentrierte militärische Ziele konstruiert waren) nicht möglich, den Großteil der serbischen Armee zu zerstören. Die trat erst nach intensiven Verhandlungen über die Evakuierungsbedingungen den geordneten Rückzug aus dem Kosovo an.
Immer häufiger suchte sich die Nato unbewegliche Ziele, und dabei insbesondere zivile Einrichtungen (Infrastruktur der Wasserversorgung, der Verkehrswege und der Energieproduktion), wobei sie von der unaufrichtigen Annahme ausging, die Bevölkerung werde die autoritären jugoslawischen Machthaber schon zwingen, auf die Bedingungen der Nato einzugehen. Doch die pausenlosen Bombardements führten nicht etwa zu einem politischen Sieg, sondern binnen kurzem in einen neuen Schlamassel. Allein der Einsatz von Bodentruppen hätte die Serben zur bedingungslosen Kapitulation zwingen können, und die Allianz war weder fähig noch willens, einen solchen zu organisieren. Der Krieg in Jugoslawien endete mit einem Pyrrhussieg: Am Ende waren alle die Verlierer.
Die gleichen Gründe, die viele Menschen in den wichtigsten Nato-Staaten davon abhielten, die proklamierten politischen Ziele gutzuheißen, führten unter den Bündnispartnern bei Kriegsbeginn zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten. So waren etwa intensive Verhandlungen nötig, um sich überhaupt auf Ziele für die Bombenangriffe zu einigen. Der Einsatz von Bodentruppen – ein enormes Risiko, das sich mit der Eröffnung eines Krieges unvermeidlich stellt – kam faktisch nicht in Frage, nicht einmal für die Vereinigten Staaten.1 Und Deutschland, Italien und Griechenland widersetzten sich entschieden einem Bodenkrieg, der aller Wahrscheinlichkeit nach sehr lange gedauert und Tausende von Todesopfern auch unter den Nato-Streitkräften gefordert hätte.
Die Vereinigten Staaten sahen letzten Endes ein, dass die Innenpolitik ihrer Alliierten weitaus wichtiger war als die symbolischen Verpflichtungen der Allianz. Die europäischen Verbündeten wiederum nahmen zur Kenntnis, dass jeder Krieg, den die USA künftig auf ihrem Kontinent oder anderswo führen würden, höchstwahrscheinlich ohne US-amerikanische Bodentruppen stattfinden würde. Weder der Kongress noch die Bevölkerung, die immer noch unter dem Vietnam-Schock steht, waren bereit, der Regierung in Washington in einer so entscheidenden Frage freie Hand zu lassen.
Letzten Endes zerstörte der Kosovokrieg den Traum, die Nato könne als praktisches Instrument zur Krisenbewältigung in Europa oder gar anderswo dienen. Die Allianz hatte in der Theorie genau so lange überleben können, wie in Europa eine stabile politische Situation ohne Krieg herrschte – und das war vor allem auf die Absichten der Sowjetunion und die allgemeine Angst vor einem nuklearen Holocaust zurückzuführen. Die Nato wird sich nicht auflösen, doch der Krieg im Kosovo hat deutlich gemacht, dass sie als Organisation überholt ist. Das Bündnis ist auf allen Ebenen gescheitert: Auf politischer Ebene, denn die Situation in Jugoslawien und auf dem Balkan ist heute fragiler als je zuvor; auf militärischer Ebene, weil trotz einer beträchtlichen Schädigung der jugoslawischen Wirtschaft die gigantische militärische Überlegenheit nicht zu einem klaren Sieg geführt hat.
Am wichtigsten ist jedoch, dass die führenden Politiker vieler großer Mitgliedstaaten, einschließlich der USA, letztlich feststellen mussten, dass die eigenen Bürger eine Verwicklung in Konflikte von beträchtlicher Tragweite oder Dauer ablehnen. Und dass sie deshalb ihre Karriere aufs Spiel setzen, falls sie diese entscheidende politische Realität vergessen sollten.
Der Krieg im Kosovo kündigt den Beginn einer neuen Phase in den internationalen Beziehungen an. Die großen Ziele, die die Vereinigten Staaten auf der ganzen Welt verfolgen, aber auch ihr künftiges Verhältnis zu Russland und China sind heute einer neuen, gründlichen Prüfung zu unterziehen. Die zivilen Konflikte in Europa und in den Nachbarstaaten signalisieren jedoch vor allem das Ende einer langen, für die Region beispiellosen Friedensphase, und sie zeigen zugleich die Grenzen auf, die der Nato als einzigem europäischen Sicherheitssystem gesetzt sind.
In den USA sind sehr einflussreiche strategische Denker (darunter auch ehemals leidenschaftliche Befürworter der im Zeichen des Kalten Krieges unternommenen Missionen) anlässlich des Kosovokrieges zwangsläufig zu dem Schluss gekommen, dass es für die USA ein schwerer Fehler war, sich in Konflikte von minderer Bedeutung einzumischen und in kleineren Ländern zu intervenieren, insoweit dies zu Lasten essentiell wichtiger Beziehungen – etwa zu Japan oder zu den ehemaligen kommunistischen Feinden – geht und auch auf Kosten wichtiger innenpolitischer Verantwortlichkeiten. Sie mussten am Ende einräumen, dass der Instinkt, der die Vereinigten Staaten fast an allen Ecken der Welt in den Krieg ziehen ließ, zu einer inkohärenten Außenpolitik führt, die sich weit mehr Aufgaben aufbürdet, als sie zu bewältigen in der Lage ist.2
Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Vorstellung, die sich die Vereinigten Staaten von der Welt machen, wie auch ihre Vorstellung von der angemaßten eigenen Führungsrolle alles andere als klar. Dasselbe gilt für ihre Vorstellungen über die Mittel und Institutionen, mit deren Hilfe sie ihre Ziele erreichen wollen. Weder die Vereinten Nationen noch die Nato verfügen über die notwendigen politischen oder militärischen Mittel, um ihre Ambitionen zu realisieren. Und die internationalen Organisationen und Institutionen stellen Hindernisse dar, die immer schwieriger zu überwinden sind. Und es gibt auch keine realisierbaren Ersatzlösungen, die sich abzeichnen würden. Die Träume der USA übertreffen bei weitem ihre Möglichkeiten, das erträumte Endziel zu erreichen: überall dort eine globale Führungsrolle zu spielen, wo es ihr maßloser Ehrgeiz gebietet, ob in Europa oder in den unstabilen Regionen der Dritten Welt.
Washington verfügt über historisch beispiellose militärische Machtmittel. Doch der Kosovokrieg hat bewirkt, dass sich einige Entscheidungsträger allmählich fragen, ob eine starke Luftwaffe allein ausreicht, um einen zu allem entschlossenen Feind zu bezwingen oder um in zwei relativ unbedeutenden Konflikten gleichzeitig engagiert zu sein. Mit ihren ungeheuer komplexen politischen und sozialen Realitäten entzieht sich die Welt zusehends der Kontrolle der Vereinigten Staaten – so wie sie sich immer wieder der Kontrolle aller Mächte entzogen hat, die in früheren Jahrhunderten eine Weltherrschaft angestrebt haben.
dt. Gabriela Zehnder
* Historiker, Autor von „Das Jahrhundert der Kriege“, Frankfurt 1999. Auszug aus dem Schlusskapitel für die französische Ausgabe, die im Februar 2000 bei Les Presses de l'université de Laval erscheint.