12.11.1999

Die mobilen Grenzen auf dem Schwarzen Kontinent

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Die mobilen Grenzen auf dem Schwarzen Kontinent

Von ACHILLE MBEMBE *

AFRIKA bietet den Anblick eines zerrissenen Kontinents. Regionale Wanderungsbewegungen, auseinanderbrechende Staaten, Regionen, die sich geopolitisch neu formieren: Vor dem Hintergrund von Bevölkerungsexplosion und massenhafter Verstädterung sieht sich Afrika in einen Strudel der Veränderungen hineingerissen, nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlicher, militärischer und religiöser Ambitionen seiner großen und kleinen Führer. Nur selten decken sich die Konfliktlinien mit den vorhandenen staatlichen Einheite.

Im Laufe der letzten 200 Jahre haben sich die sichtbaren materiellen, symbolischen, historischen und natürlichen Grenzen auf dem afrikanischen Kontinent unaufhörlich verschoben. Dabei entstanden neuartige und unerwartete Formen der Gebietsaufteilung, die sich nicht notwendig mit den bestehenden Staatsgebieten, Normen und Landessprachen decken. Doch paradoxerweise verhindern die gängigen Erklärungsansätze zumeist eine Erkenntnis der Veränderungen.

Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei voneinander unabhängige Thesen gegenüber. Auf der einen Seite herrscht die Vorstellung, die Grenzen der afrikanischen Staaten seien ein Produkt der Kolonialzeit. Auf der anderen Seite wird behauptet, „von unten“ sei derzeit eine Art regionale Integration im Gange, die sich außerhalb der Institutionen, durch soziokulturelle Solidargemeinschaften und grenzüberschreitende Handelsverbindungen herausbilde. Beide Ansichten beruhen auf einer verkürzten Vorstellung von der Bedeutung der Grenzen in der afrikanischen Geschichte; sie verkennen überdies die eigentliche Natur der kolonialen Grenzziehungen.

In Wirklichkeit vollzieht sich in Afrika, das seit dem Ende des Kalten Kriegs ein Ghetto der internationalen Strategien geworden ist, eine Umordnung des geographischen Raums und eine Neubestimmung der geopolitischen Verhältnisse. Zum Teil liegen diese Entwicklungen in der Kontinuität der großen Bewegungen von Zerstörung und Wiederaufbau des Staates im 19. Jahrhundert, wobei sich der heutige Wandel mitunter an denselben geographischen Einheiten orientiert wie damals. Doch dieser Prozess wurde im Zuge der Kolonialzeit durch neue dynamische Kräfte überlagert, die im Wesentlichen auch nach der Unabhängigkeit fortwirkten. Und genau diese ineinander verflochtenen dynamischen Kräfte münden nun – forciert durch den Krieg und die Abschaffung des demokratischen Projekts – in einem „Weg vom Staat“, das heißt in der Entstehung außerstaatlicher Souveränitätsformen wie politisch-gesellschaftlicher Regulierungen.

In der Hauptsache lassen sich hierbei drei territoriale Figurationen ausmachen, deren erste am nördlichen und am südlichen Rand des Kontinents anzutreffen ist. Nordafrika sieht sich im Zuge des weltweiten Strukturwandels durch zwei parallele Kräfte zerrissen. Einen Teil der Region zieht es zum Mittelmeerraum hin; dieser sucht seine wirtschaftliche Zukunft in engeren Beziehungen zu Westeuropa, wobei man dessen kulturelle Werte freilich nicht unbedingt teilt. Ein anderer Teil blickt nach dem Nahen Osten, den Stammländern des Islam. Was den afrikanischen Anteil an der Identität der Ländern des Maghreb und des Maschrek anbetrifft, so ist er für die übrigen Länder des Kontinents ebenso problematisch wie für diese Länder selbst.

Wer die nordafrikanischen Bevölkerungsgruppen ausschließlich mittels ihrer arabischen Identität definiert, vernachlässigt den „kreolischen“ Anteil, der historisch auf die politische Eigenständigkeit der Region vor Ankunft der Araber und des Islam zurückgeht. Südlich der Sahara stößt der muslimische Einfluss Nordafrikas zunehmend auf die Konkurrenz von Saudi-Arabien und dem Iran. Beide Länder entfalten ein breites Spektrum an Aktivitäten: Sie besorgen die Ausbildung islamisch ausgerichteter Intellektueller, die Sozialisierung der Prediger, den Bau von Moscheen und die Finanzierung von karitativen Einrichtungen und diversen Stiftungen. Der Einfluss Marokkos ist zwar rückläufig, zumal im muslimischen Teil Westafrikas, in Mali und in Senegal, aber noch immer spürbar.1

Die Kanäle, die den übrigen Kontinent mit dem Nahen Osten verbinden, werden von der alteingesessenen libanesischen Diaspora kontrolliert, die sich auf die Hauptzentren Westafrikas verteilt.2 Während sich Nordafrika zunehmend vom Rest des Kontinents abkoppelt, lässt sich an den Rändern der Sahara ein Prozess der „Deterritorialisierung“ beobachten, eine Erosion staatlicher Souveränität, die sowohl Nordafrika als auch das eigentliche Schwarzafrika betrifft. In jenem weitläufigen Gebiet, das sich von der Südgrenze Algeriens über die Sandsteinplateaus Borkou und Ennedi sowie das Bergmassiv Tibesti im nördlichen Tschad bis zu den westlichen Grenzgebieten des Sudan erstreckt, geraten die bestehenden Grenzen mehr und mehr in Bewegung, wobei stammesinterne Segmentierungsprozesse, Clan- und Handelslogiken die Richtung angeben.3

Das Jahrhunderte alte Nomadentum der hiesigen Bevölkerungsgruppen und die damit einhergehenden gegenseitigen Durchmischungs- und Akkulturationsprozesse resultierten in der Ausprägung vielschichtiger Identitäten. Nach wie vor ist dieser Raum, der staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, Nomaden, Kaufleuten und Abenteurern gleichermaßen ein Betätigungsfeld bietet, gekennzeichnet durch eine Kultur der Raub- und Beutezüge, die sich politisch in einem Nacheinander verschiedener lokaler Mächte manifestiert. Stärker als anderswo ist hier das Nomadentum die hauptsächliche Territorialitätsform.

Asymmetrische Beziehungen

AM anderen Ende des Kontinents liegt Südafrika, das sich virtuell vom Kap bis nach Katanga im Süden der Demokratischen Republik Kongo erstreckt. Auch dieses multiethnische Land ist zwischen mehreren Welten zerrissen. Nach dem Ende des Apartheidsregimes gelang es durch aktive Wirtschaftsdiplomatie, den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr mit Japan, Malaysia, Südkorea, China, Taiwan, Hongkong und Indien zu intensivieren und die Beziehungen zur Europäischen Union, aber auch zu den Vereinigten Staaten auszubauen. Die Konsolidierung der Finanz- und Handelsströme mit den übrigen afrikanischen Ländern macht unterschiedliche Fortschritte.

Im südlichen Afrika nutzte Pretoria die institutionelle Schwäche seiner Nachbarstaaten zum Aufbau ausgesprochen asymmetrischer Beziehungen. Die regionalen Handels- und Investitionsströme reduzieren Swasiland, Lesotho und zunehmend auch Mosambik auf den Status von südafrikanischen Provinzen.4 Mit dem Ausbau des Transportwesens und der maritimen Infrastruktur – der Häfen von Maputo, Beira und Nacala – entwickeln sich die beiden Enklavenstaaten mehr und mehr zu abhängigen Absatzmärkten für den südafrikanischen Waren- und Dienstleistungsexport. Im übrigen Afrika investiert die südafrikanische Privatwirtschaft in solch unterschiedliche Branchen wie den Tourismus, den Bergbau, das Transportwesen, die Elektrizitätswirtschaft, den Bankensektor und das Brauereigewerbe.

Der politische, diplomatische und kulturelle Einfluss Südafrikas entspricht dagegen bei weitem nicht der (ohnehin relativen) wirtschaftlichen Macht des Landes. Die Binnenwirtschaft reagiert äußerst sensibel auf die Krisenanfälle der Weltfinanzmärkte. Zudem geraten die makroökonomischen Zielsetzungen, die darauf abgestimmt sind, Auslandskapital anzulocken, in fortschreitenden Widerspruch zu den sozialpolitischen Modernisierungsbestrebungen. Die Stellung Pretorias in Afrika ist noch immer höchst zwiespältig, und die Einbindung des Landes in die afrikanische Staatengemeinschaft lässt klare Konturen nach wie vor vermissen. In jedem Fall stoßen die regional- und handelspolitischen Entscheidungen Südafrikas bei den ehemaligen „Frontstaaten“, insbesondere bei Angola und Simbabwe, auf heftigen Widerstand.

Während die südafrikanische Diplomatie auf der Stelle tritt und die Realitäten des übrigen Kontinents partout nicht zur Kenntnis nehmen will, streckt die Wirtschaft, zumal der Bergbau und die Sicherheitsindustrie, ihre Fühler bis nach Mali, Ghana und Guinea aus.5 Der offizielle und halboffizielle Waffenhandel erreicht ungeahnte Ausmaße, und der Zustrom von legalen und illegalen Migranten führt zu einem drastischen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit.6 Um die neue transregionale Wanderungsbewegung nach Südafrika zu stoppen, wurden systematisch Ausweisungen vorgenommen und eigens geschaffene Polizeieinheiten damit betraut, illegale Einwanderer (insbesondere afrikanischer Herkunft) aufzuspüren.7

Die zweite territoriale Figuration von Bedeutung präsentiert sich in Form eines diagonalen Landstreifens, der sich mit den Kriegsgebieten am Horn Afrikas, an den Großen Seen und im Kongo deckt und über Angola und Kongo-Brazzaville in den Atlantik mündet. Hinter der Maske der aus der Kolonialzeit stammenden autoritären Staaten ist hier seit zwanzig Jahren eine fortlaufende Zersplitterung der politischen Macht zu verzeichnen – eine Entwicklung, die an ähnliche Verhältnisse im 19. Jahrhundert anknüpft. Während sich die Beziehungen zwischen dem zentralen Staatsapparat und seinen Untertanen zusehends auflösen, übernehmen in Ruanda, Uganda und Burundi, in geringerem Maße auch in Äthiopien und Eritrea, „Militärherrschaften“ das Regiment.

Charakteristisch für diese Regime ist, dass sie ihre innen- und außenpolitischen Ziele häufig mit Gewalt durchsetzen. Gewaltsam an die Macht gelangt, suchen sie ihr Sicherheitsbedürfnis angesichts fortwährender innerer Unruhen auf zwei Wegen zu befriedigen: Zum einen umgeben sie sich mit einem Schutzwall gegen all jene Gruppen, die sie von der Teilhabe an der Macht zuvor gewaltsam ausgeschlossen haben, zum anderen suchen sie ihre personelle Machtbasis zu erweitern, indem sie zumal in Nachbarländern mit schwachen und instabilen staatlichen Strukturen, wie etwa der Demokratischen Republik Kongo, Ableger bilden.

Da solche Militärherrschaften nicht in der Lage sind, das gesamte Gebiet mit seinen „informellen“, wenn nicht inexistenten staatlichen Strukturen zu kolonisieren oder auch nur zu erobern, suchen sie Verbündete unter den in der Diaspora lebenden Mitgliedern ihrer Ethnie, die trotz langjähriger Ortsansässigkeit nicht als vollwertige Staatsbürger anerkannt sind. Darüber hinaus nehmen sie die Dienste von „Rebellen“, Dissidenten und anderen Dahergelaufenen in Anspruch, deren Regimeopposition einen willkommenen Vorwand für Militärinterventionen liefert.

Die jugendlichen Söldnerarmeen, die sich in den von ihnen kontrollierten Gebieten als parastaatliche Gebilde etablieren, bestehen zum einen aus „vertrauten“ Fremden, die sich an die alteingesessene Bevölkerung nicht völlig assimiliert haben, zum anderen aus Einheimischen, die dem Staat die Gefolgschaft aufgekündigt haben und sich nun der einen oder anderen Fraktion anschließen. Dies ist zumal im östlichen Landesteil des Kongo zu beobachten. Die zunehmende Durchlässigkeit der Staatsgrenze infolge der Implosion des Landes wird von bewaffneten Oppositionsgruppen aus Uganda, Ruanda und Burundi zum Aufbau von Operationsbasen genutzt, die als Ausgangspunkt für destabilisierende Aktionen in den Heimatländern dienen.8

Siege der einen oder anderen Fraktion sind in diesen Kriegen fast immer nur von kurzer Dauer. Ein Teufelskreis der Gewalt entsteht, deren Intensität mit jeder Runde zunimmt. In manchen Fällen, wie etwa in Somalia, hat sich der aus Kolonialzeiten stammende Staat im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen schlicht und einfach aufgelöst. In anderen Ländern, wo es keiner der Parteien gelingt, einen entscheidenden Sieg zu erringen, zieht sich der Krieg in die Länge, und humanitäre Organisationen greifen ins Geschehen ein, deren Präsenz die Souveränitätsfrage zusätzlich kompliziert.9

So entstehen langsam gesellschaftliche Formationen, in denen sich der Krieg – und die Organisation für dessen Bedürfnisse – tendenziell in eine reguläre soziale Funktion verwandelt. Bewaffnete Konflikte dienen unter diesen Bedingungen nicht mehr nur dem Zweck der Verteidigung eines zu klein gewordenen Staatsgebiets, wie es in Ruanda der Fall war. Vielmehr gräbt der Krieg das gesamte soziale und politische Feld um, profiliert sich als Faktor regionaler Differenzierung und trägt gerade durch sein zerstörerisches Werk zur gesellschaftlichen Reproduktion bei. Dies wird an den zyklisch wiederkehrenden Massakern und Menschenschlächtereien ebenso deutlich wie an den zur Normalität gewordenen Plünderungen und dem grassierenden Banditentum – eine Wirtschaftsweise, die an die Raub- und Beutezüge des 19. Jahrhunderts anknüpft.

Die dritte territoriale Figuration geht auf die globale Diversifizierung des Handels mit Erdöl, forstwirtschaftlichen Produkten und Diamanten sowie auf die Einführung neuer Fördertechnologien zurück. Zumal Erdöl hat sich in der Region zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Gravitationszentrum ist hier der Golf von Guinea, der sich – großzügig interpretiert – von Nigeria bis Angola erstreckt. Das küstennahe Binnenland liefert forstwirtschaftliche Erzeugnisse, aber auch die weiter im Landesinneren liegenden Gebiete bis hin zum Tschadsee sind auf die eine oder andere Weise in den Welthandel integriert. Die Großregion ist zu einem der geopolitisch wichtigsten Zentren der weltweiten Erdölwirtschaft aufgerückt – eine transnational bedingte Entwicklung, die im Zusammenspiel mit lokalen Faktoren zu erheblichen Verwerfungen führt.

Im Einzelnen: Im Laufe der achtziger Jahre vergaben die Golf-Anrainerstaaten umfangreiche Förderkonzessionen an mehrere westliche Erdölgesellschaften. Waren zu Beginn der achtziger Jahren erst drei Unternehmen in der Region tätig (Shell, Agip und Elf), so hat sich der Kreis seither auf über zwanzig Gesellschaften erweitert, darunter Chevron, Texaco, TotalFina, Norsk Hydro, Statoil, Perenco und Amoco. Gestützt auf neue Fördertechnologien wurden erhebliche Summen in die Exploration und Erschließung neuer Ölfelder von mitunter gigantischen Ausmaßen investiert (Dalia, Kuito, Landana und Girassol in Angola, Nkossa, Kitina und Moho im Kongo, Zafiro in Äquatorialguina sowie Bonga in Nigeria). Darüber hinaus wurde auch die Ausbeutung bisher bekannter Vorkommen, inbesondere die Unterwasserförderung in Tiefen von 200 bis 300 Metern, intensiviert.

Kurzlebige Koalitionen

AUF der anderen Seite sind die in Afrika zu verzeichnenden Auflösungserscheinungen des Staates auch und gerade in den genannten Förderländern brisant. Symptomatisch in dieser Hinsicht ist die Situation in Nigeria, Angola und Kongo-Brazzaville. In Nigeria zeigt die tendenzielle „Deterritorialisierung“ Afrikas völlig neue Züge. Unter der Oberfläche eines formell einheitlich strukturierten Bundesstaats dominiert ein komplexes Gefüge vielfältiger Kontroll- und Regulationsformen, deren Ursprung sich bis auf die indirect rule der britischen Kolonialherren zurückverfolgen lässt.

So zerfällt das Staatsgebiet in eine Vielzahl sich überlagernder Einheiten historischer, institutioneller, kultureller und territorialer Natur. Jeder Ort unterliegt nicht nur der staatlichen Gerichtsbarkeit, sondern auch der Rechtsprechung traditioneller und religiöser Instanzen. Vielfältige lokale Konflikte stören die friedliche Koexistenz der miteinander verflochtenen „Länder“ und „Gemeinschaften“. In den meisten Fällen äußern sich diese Konflikte als Gegensatz zwischen alteingesessenen und zugewanderten Bevölkerungsgruppen. Von Staatsbürgerschaft kann hier nur im Sinn ethnischer und territorialer Zugehörigkeit die Rede sein; in den Genuss der an die Stelle von allgemeinen Bürgerrechten tretenden Sonderrechte kommen nur die Mitglieder der jeweiligen Ethnie oder regionalen Gemeinschaft.

Die Auflösung des Staats lässt sich auf zwei scheinbar entgegengesetzte Entwicklungen zurückführen: zum einen auf die Entstehung konkurrierender Territorialitätsformen, die einander abwechseln, überschneiden und widersprechen – wobei sie endogene Kräfte freizusetzen pflegen, die sich gegenseitig neutralisieren und aufheben; zum anderen auf autoritäre Denkstrukturen, die sich insbesondere als paranoische Militärinstitution und als Kultur des systematischen Betrugs äußern. Immer wieder wird daher die Kernregion der afrikanischen Ölförderung von bewaffneten Konflikten heimgesucht. Dabei handelt es sich nicht um klassische Kriege, sondern vielmehr um interethnische Auseinandersetzungen innerhalb ein und desselben Landes, und dies in einer Region, deren Rohstoffreichtum von zahlreichen multinationalen Unternehmen ausgebeutet wird.

Im Mündungsgebiet des Niger etwa, einem Labyrinth aus Sümpfen, Inseln und Mangrovenwäldern, führen die Ogoni, die Ijaw, die Itsekiri und die Urhobo vor dem Hintergrund einer verheerenden Umweltkatastrophe sowohl gegeneinander wie auch gegen Staat und Ölgesellschaften Krieg.10 Angriffe auf Ölanlagen, Sabotageakte gegen Pipelines und Blockaden der Schleusen gehen auf das Konto bewaffneter Jugendlicher. Massaker sind in diesen Low-Intensity-Konflikten keine Seltenheit. Und da ein erheblicher Teil des nigerianischen Erdöls off-shore gefördert wird, bilden innere Unruhen und Profitorientierung in diesen Auseinandersetzungen keineswegs Gegensätze, sondern ergänzen und verstärken einander vielmehr.

Im Fall von Angola nimmt die Auflösung des Staats die Form einer politisch motivierten Spaltung des Territoriums an. Der Verlauf der Grenzen, innerhalb derer der Staat in der Lage ist, seinen Souveränitätsanspruch durchzusetzen, bleibt unklar. Ein Teil des Territoriums wird von der Regierung, ein anderer Teil von bewaffneten Dissidenten kontrolliert. Beide Zonen besitzen ihr eigenes Rechts- und Abgabensystem und agieren mit Blick auf ihre diplomatischen, militärischen, finanziellen und wirtschaftlichen Belange völlig unabhängig voneinander. Diese faktische Teilung des Landes äußert sich zunächst als Gegensatz von Stadt und Land. Die Nationalunion für die völlige Unabhängigkeit Angolas (Unita) kontrolliert einen erheblichen Teil der ländlichen Gebiete, von Zeit zu Zeit einige Städte auf den Hochplateaus von Andula und Bailundo sowie das Cuango-Tal und die Provinz Lunda.

Eine der Haupttaktiken der bewaffneten Dissidenten besteht darin, auf dem Land Angst und Schrecken zu verbreiten, um die urbanen Zentren in die Knie zu zwingen. Die Unita treibt die nicht einsetzbaren Teile der Landbevölkerung zur Flucht in die bereits überfüllten Städte, kreist die Städte anschließend ein und nimmt sie unter Beschuss.11 Zur Ausbeutung der Diamantvorkommen rekrutiert die Unita sowohl vor Ort als auch im benachbarten Kongo Arbeitskräfte. 1996 waren allein in den von der Unita kontrollierten Diamantminen im Cuango-Tal rund 100 000 Bergleute tätig. Auch die Region Mavinga und Teile der Provinz Süd-Kwanza gehören zum Einflussgebiet der Unita. Was die Soldaten anbelangt, die die Regierung in ihrem Machtbereich rekrutiert, so stammen sie zwar aus der Stadt, doch ihr Einsatzgebiet liegt auf dem Land.

Sowohl die Regierung als auch die Rebellen zahlen Sold und Lohn in „marktfähigen“ Naturalien aus. Diese finden vor allem bei den zahlreichen Schiebern Absatz, die sich mehr oder weniger auf die Versorgung der Armeen und die Vermarktung von Beutegütern spezialisiert haben. Die Kriegskassen sind mit Geld, Gold und Rohstoffen gefüllt. Beide Parteien betreiben Gold- und Diamantminen oder Ölfelder, die fast ausnahmslos als Sicherheit für Geldanleihen verschrieben sind.

Trotz mancher Ähnlichkeiten mit Angola folgt die faktische Teilung der Demokratischen Republik Kongo einer anderen Logik. Der Kongo hatte sich schon seit langem zu einer Art informeller Satrapie12 entwickelt. Teile des Landes sind nun von bewaffneten Banden erobert worden, die aus den Nachbarländern militärischen Nachschub erhalten. Die Regierungen von Ruanda, Burundi und Uganda suchen die regionalen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen, um den Wiederaufbau ihrer eigenen Staaten abzusichern. Zu diesem Zweck verfolgen sie drei Ziele. Erstens wollen sie den kongolesischen (Phantom-)Staat dauerhaft schwächen, indem sie erhebliche Teile des Staatsgebiets seiner Hoheitsgewalt entziehen. Zweitens beabsichtigen sie, das kongolesische Territorium in eine Reihe von Wirtschaftseinheiten mit je unterschiedlichen Naturreichtümern (Bergbauprodukte, Holz, Plantagen usw.) aufzugliedern und durch Abgabenerhebung und Lizenzvergabe auszubeuten. Und schließlich gedenken sie, das dadurch entstehende Chaos – die Fragmentierung der Gesellschaft und die Zersetzung der lokalen politischen Kräfte – zu nutzen, um diese Regionen informell unter Schutzherrschaft zu stellen. (Siehe den Artikel von Colette Braeckman auf den Seiten 20/21.) Dies alles führt zu einer Überlagerung von lokalen und regionalen Konflikten, die sich in unaufhörlichen militärischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen, Ethnien und Lineages äußern.

Im Gegensatz zu Südafrika, Nigeria und dem Sudan – drei Länder von vergleichbarer Größe – bietet der Kongo den Anblick eines weithin offenen Raums, dem Zugriff mehrerer anderer Staaten ausgeliefert, von einer Vielzahl innerer und äußerer Kräfte zerrissen, mit einer Zentralgewalt, die Mühe hat, das Staatsgebiet zusammenzuhalten. So blickt ein Teil des Territoriums nach dem südlichen Afrika, ein anderer verschleißt seine Kräfte in den Auseinandersetzungen im Umkreis der Großen Seen, ein dritter orientiert sich an der Region Sudan-Ubangi-Chari, während ein vierter einen Korridor durch die alten Kongo-Gebiete zum Atlantik sucht. Vor dem Hintergrund bewaffneter Auseinandersetzungen, starker Geldabwertung und eines florierenden Schwarzmarkts entstehen und vergehen Bündnisse, deren Konturen nie eindeutig definiert sind. Kurzlebige Interessenallianzen formieren sich auf regionaler Ebene, doch niemand ist in der Lage, genügend Macht anzuhäufen, um seine Gegner dauerhaft niederzuhalten. Überall zeichnen sich Fluchtlinien ab, Ausdruck einer strukturellen Instabilität, die Kongo-Kinshasa als vollendetes Beispiel für einen Prozess der Delokalisierung der Grenzen erscheinen lassen.

Demgegenüber stellt sich Kongo-Brazzaville als Beispiel für Extraterritorialisierung dar. Die Auflösung des Staates folgt hier nicht dem Modell der Teilung, sondern der Logik eines Wirbels. Epizentrum der zyklisch wiederkehrenden Wirbel ist die Hauptstadt Brazzaville, im Landesinneren gelegen, weitab von den Off-shore-Ölvorkommen, welche die Haupteinnahmequelle des Staates bilden. Die auf die Ressourcen gezogenen Anleihen bilden die wesentliche materielle Grundlage des Staates. Jenseits dieser ausgebluteten, gallertartigen Struktur hat der Staat kaum Kontrolle über sein Hoheitsgebiet. Bewaffnete Banden und Milizen suchen sich hier zu veritablen Armeen aufzuschwingen, um ihre prekären Einflussgebiete zu sichern und die wenigen noch im Umlauf befindlichen Reichtümer (Geld, Waren, kleines Mobiliar) in ihren Besitz zu bringen, vor allem durch Raub- und Beutezüge.13

In dieser im Entstehen begriffenen Geographie der virtuellen, potentiellen und realen Grenzen zeichnen sich nun drei weitere Konfigurationen ab. Hier ist zunächst einmal an jene Regionen zu denken, die plötzlich zu Randgebieten der drei erwähnten territorialen Figurationen werden, genauer: an jenen Landstreifen, der sich vom Sudan über die Sahelzone bis zur Küste Westafrikas erstreckt. Diese Region, die nunmehrige Peripherie des realen Afrika, umfasst eine Reihe kleinerer Staaten, deren Binnenverhältnisse sich vielfach entlang der Grenze zwischen Wald und Savanne differenzieren.

Durch Krieg, fahrende Händler, muslimische Missionstätigkeit und traditionelle Wanderungsbewegungen kam es hier im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer enormen Durchmischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die französische Kolonialpolitik in Französisch-Westafrika gab diesen Bevölkerungsbewegungen neue Impulse und verschärfte die Gegensätze zwischen den Ethnien an der Küste und im Hinterland. Heute verlassen in der Region mehr und mehr Menschen ihre Dörfer, um in den städtischen Agglomerationen entlang der Küste ein Auskommen zu finden. Das Einzugsgebiet dieser Metropolen erstreckt sich vielfach weit über die Staatsgrenzen hinaus, wie das beispielsweise im Falle von Abidjan und Dakar zu beobachten ist.

Extraterritoriale Zonen

DIE Polarisierung zwischen Savanne und Küste nimmt heute völlig neue Konturen an. Zahlreiche Ethnien aus dem Landesinneren finden unter dem Banner des Islam zu neuer Identität. In den urbanen Zentren bilden sich mächtige ethnische Solidargemeinschaften, die mit Unterstützung der im Umkreis lebenden Diaspora beträchtliche Vermögen anhäufen. Ihr regionaler Einfluss und ihr Bestreben, im Rahmen des Mehrparteiensystems wirtschaftliche in politische Macht umzumünzen, verleihen der Debatte über das Verhältnis von staatsbürgerlicher Gemeinwohlorientierung und ethnischem Sonderinteresse neuen Zündstoff. Insbesondere in der Elfenbeinküste mit ihren großen Ausländergruppen ist ein Anstieg der Fremdenfeindlichkeit und die Entstehung eines Ultranationalismus mit rassistischen Untertönen zu verzeichnen. Manche Städte, wie Touba in Senegal, aber auch ganze Staaten, wie etwa Gambia, entwickeln sich zu riesigen Lagerhallen regional und international verzweigter Schmugglernetze.

Die Region von Senegal bis Liberia schließlich zeigt Kristallisationspunkte nur scheinbar lokaler Konflikte, deren Ursachen und Folgen in Wirklichkeit in die überregionale Geschichte und Sozialstruktur verwoben sind. Diese Konfliktherde – die senegalesische Casamance sowie die Länder Guinea-Bissau, Sierra Leone und Liberia – strahlen bis nach Conakry/Guinea, Senegal, Gambia und die Elfenbeinküste aus. Die gesellschaftliche Dynamik in dieser Unterregion ist noch immer durch die Nachwirkungen bestimmter Entwicklungen im 19. Jahrhundert geprägt. Als die Volksgruppe der Peule ihr Siedlungsgebiet damals nach Osten und Süden ausdehnten, lösten sie mehrere von Marabus geleitete Revolutionen aus, die sich auf die gesamte Region auswirkten.14 In den Flussniederungen siedelten damals wie heute Ethnien mit dezentralen Machtstrukturen, die sich den Kolonialherren als Zwischenhändler andienten und das Tauschgeschäft zwischen den europäischen Handelsgesellschaften und der Bevölkerung im Landesinnern vermittelten. Die Südwärtswanderung der Peule verfolgte den Zweck, diesen Handel mit Sklaven, Gewehren, Vieh und Getreide unter Kontrolle zu bringen. Mit der Kolonisation fand diese Migration ein Ende. Die Machtstrukturen, die sich seither herausgebildet haben, geraten heute zunehmend unter Beschuss: Zahllose Konflikte mit subregionalen Konsequenzen sind die Folge.

Als weitere Konfiguration präsentieren sich jene weitläufigen Gebiete, die der Hoheitsgewalt der betreffenden Staaten kraft internationaler Umweltschutzpolitik faktisch entzogen sind. Dabei handelt es sich nicht nur um eine bestimmte Form der Raumpolitik, die unter dem Vorwand des Artenschutzes krampfhaft versucht, das westliche Afrikabild aufrechtzuerhalten.15 Vielmehr genießen diese Reservate und Wildschutzgebiete, deren Tierbestände von internationalen Umweltschutzorganisationen gemanagt werden, de facto einen Status regelrechter Extraterritorialität. Darüber hinaus entstehen mit zunehmendem Tourismus fast überall Safariparks und geschützte Jagdgebiete.

Als dritte Konfiguration seien abschließend die Inseln erwähnt. Am Rand des Kontinents gelegen, liegen sie im Schnittpunkt mehrerer Kulturkreise, und diese Lage ist ihr wichtigstes Kapital. In Sansibar und Mauritius etwa überschneiden sich Einflüsse vom afrikanischen Festland, aus Asien und aus der arabischen Welt. Enge Beziehungen verknüpfen die Inseln mit den Küstenmetropolen. Als Nachwirkung der einst intensiven Sklavenwirtschaft ist deren Gesellschaft im Allgemeinen stark stratifiziert, so dass sich die Zirkulation von Männern, Frauen und Waren nach wie vor an den etablierten Familien- und Diasporanetzen orientiert. Auch hier entsteht also eine afrikanische Kultur mit kosmopolitischen und „kreolischen“ Zügen.

Wie die neuere Entwicklung in Afrika zeigt, bringt im Zeitalter der Globalisierung die Weltzeit offenbar notwendigerweise eine Dekonstruktion bestehender territorialer Einheiten mit sich, desgleichen eine Aufhebung beziehungsweise Verflüssigung bisher geltender Grenzen bei gleichzeitiger Schaffung von geschlossenen Räumen zur Einschränkung der Mobilität „überflüssiger“ Bevölkerungsgruppen. Parallel zu dieser materiellen Dekonstruktion der territorialen Rahmenbedingungen an der Peripherie der großen technologischen Veränderungen unserer Zeit kristallisiert sich eine Zwangswirtschaft heraus, deren einziger Zweck in der Vernichtung überflüssiger Bevölkerungsgruppen und in der als Ausbeutung wohlverstandenen Förderung von Rohstoffen besteht. Die Funktionsweise und -fähigkeit dieser Wirtschaftsform ist durch die gesellschaftliche Verteilung der Waffen bedingt. Insofern verläuft die eigentliche Front in diesen als allgemeine Wirtschaftsweise sich profilierenden Kriegen nicht mehr unbedingt zwischen den sich bekriegenden Armeen und Milizen, sondern auch und vor allem zwischen Waffeninhabern einerseits und Waffenlosen andererseits.

dt. Bodo Schulze

* Exekutivsekretär des Conseil pour le Développement de la Recherche en Sciences Sociales en Afrique (Codesria), Dakar.

Fußnoten: 1 Yahia Abou El Farah u. a., „La présence marocaine en Afrique de l'Ouest: cas du Sénégal, du Mali et de la Côte d'Ivoire“, Rabat (Publications de l'Institut des Etudes africaines, Université Mohammed V) 1997. 2 C. Bierwirth, „The lebanese communities of Côte d'Ivoire“, African Affairs, Vol. 99, London 1998. 3 Karine Bennafla, „Entre Afrique noire et monde arabe: nouvelles tendances des échanges ,informels‘ tchadiens“, Tiers Monde, Nr. 152, Paris (PUF) 1997. 4 Marie-Odile Blanc, „Le corridor de Maputo“, Afrique contemporaine, Nr. 184, Paris (La Documentation française) 1997. 5 Siehe Laurence Mazure, „Die Deregulierung militärischer Gewalt“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996; François Misser u. Olivier Vallée, „Schmuggler, Söldner, Käufer und Schürfer“, Le Monde diplomatique, Mai 1998. 6 Denis Kadima, „Congolese immigrants in South Africa“, Bulletin Codesria, Nrn. 1 und 2, Dakar 1999. 7 Antoine Bouillon (Hg.), „Immigration africaine en Afrique du Sud. Les migrants francophones des années 90“, Paris (Karthala) 1998. 8 René Lemarchand, „Patterns of State Collapse and Reconstruction in Central Africa: Reflections on the Crisis in the Great Lakes Region“, Afrika Spectrum, Bd. 32 (2), Hamburg 1997. 9 Mark Duffield, „NGO relief in War Zones: Towards an Analysis of the New Aid Paradigm“, Third World Quarterly 18 (3), Hants 1997. 10 Eghosa E. Osaghae, „The Ogoni uprising: oil politics, minority nationalism, and the future of the nigerian state“, African Affairs, Vol. 94, London 1995. 11 Dazu Augusta Conchiglia, „Wer entwaffnet die Unita?“, Le Monde diplomatique, Juni 1999. 12 Im alten Persien Bezeichnung für „Provinz“. Ein Satrap zeichnet sich durch eine ausschweifende Lebensführung und despotische Herrschaftsausübung aus. 13 Elisabeth Dorier-Apprill, „Guerres des milices et fragmentation urbaine à Brazzaville“, Hérodote 86/87, Paris (La Découverte) 1997. 14 Boubakar Barry, „La Sénégambie“, Paris (L'Harmattan) 1986. 15 Dazu Roderick P. Neumann, „Primitive ideas: protected area buffer zones and the politics of land in Africa“, Development and Change, Bd. 28, Den Haag 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.11.1999, von ACHILLE MBEMBE