12.11.1999

Bedrohung Pakistan

zurück

Bedrohung Pakistan

Von IGNACIO RAMONET

ES gibt Monate in der Geschichte der Menschheit, die nichts als Unheil bringen. So der Oktober dieses Jahres, der eine fast vergessene Angst wieder aufleben ließ: die Angst vor einer Atomkatastrophe. Es begann damit, dass am 1. Oktober in der Brennelemente-Fabrik im japanischen Tokaimura ein Atomunfall bekannt wurde. Verblüfft stellte die Weltöffentlichkeit fest, dass auch in einem hoch technisierten Land regelmäßig elementare Sicherheitsvorschriften verletzt werden – eine Gefahr für Leib und Leben von Hunderttausenden.

Der nächste Schlag erfolgte am 13. Oktober. Entgegen der Empfehlung von Präsident Bill Clinton votierte der US- Senat gegen die Ratifizierung des Umfassenden Teststoppabkommens (CTBT). Diese Entscheidung, bei der kleinliche parteipolitische Überlegungen den Ausschlag gaben, stellt im Hinblick auf die globale Sicherheitslage ein wahres Desaster dar, kann sie doch als Zustimmung zu einer allgemeinen Wiederaufnahme der Atomversuche gedeutet werden. Überdies verstößt das Senats-Votum gegen das Prinzip des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) von Atomwaffen1 und lässt alle weiteren Appelle Washingtons für einen Atomteststopp unglaubwürdig erscheinen. Die US-Regierung, die eine Überarbeitung des ABM-Vertrags von 1972 anstrebt, um sich gegen die Fortschritte mancher Länder im Bereich der Raketenentwicklung zu wappnen, wird nun Schwierigkeiten haben, die Russen zu Nachverhandlungen zu bewegen. Auch steht zu befürchten, dass sich Russland und China, die beide das Teststoppabkommen noch nicht ratifiziert haben, durch die Senatsentscheidung zur Wiederaufnahme ihrer Atomversuche ermuntert fühlen könnten, um kleinere Sprengköpfe zu entwickeln, wie es Frankreich 1995 vorgeführt hat.

Der französische Ministerpräsident Lionel Jospin erklärte unlängst angesichts der Aufrüstung „gewisser Länder mit ballistischen Massenvernichtungswaffen“ seine Bereitschaft, eine „Modernisierung“ und „Modifizierung“ des französischen Atomwaffenarsenals ins Auge zu fassen, um „jedweder Bedrohung der vitalen Interessen Frankreichs zu begegnen“2 . Jospin dachte dabei zweifellos auch an das seit kurzem von Militärs regierte Pakistan.

Wenn es ein Land mit einer tragischen politischen Tradition gibt, so ist es Pakistan. Kein Regierungschef des 40 Millionen Einwohner zählenden Landes ist je freiwillig aus dem Amt geschieden. Aus der Teilung Britisch-Indiens hervorgegangen, bei der Millionen Muslime und Hindus unter apokalyptischen Bedingungen aus den Regionen flüchteten, in denen sie die Minderheit waren, wurde Pakistan, das „Land der Reinen“, 1947 zum ersten Staat auf konfessioneller Basis.

Im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass sich mit religiösem Kitt keine Nation konstituieren lässt. Bereits die Abspaltung von Bangladesch im Jahr 1971 zeigte, dass ethnische Kriterien stärkere Kräfte mobilisieren können als die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Auch das zweite Bindemittel des nationalen Zusammenhalts – der Hass auf Indien – löste sich in den militärischen Konflikten mit dem stets siegreichen Gegner zusehends auf.

Die vorerst letzte Konfrontation im Juli 1999 betraf die Kontrolle der Gebirgsregion um Kargil im Kaschmir. Indien hält einen Teil der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Region seit 1948 besetzt, sieht sich derzeit aber von einer starken islamischen Widerstandsbewegung bedrängt, die von Pakistan Unterstützung erhält. Sowohl Islamabad als auch Neu-Delhi betrachten den Kaschmir als eine vitale Frage ihrer nationalen Identität.

ZWEIFELLOS hat die militärische Niederlage Pakistans im Sommer dieses Jahres, der auf Anordnung Washingtons ein demütigender Abzug der Invasionstruppen folgte, das Los von Premierminister Nawaz Sharif besiegelt. Dieser wurde am 12. Oktober von General Pervez Musharraf gestürzt.

Es war der erste militärische Staatsstreich seit dem Ende des Kalten Krieges in einem großen Flächenstaat, der überdies – als einziges islamisches Land – Atomwaffen besitzt. Dabei hat sich die Atommacht Pakistan nicht nur mit zwei feindseligen Nachbarn, mit Indien und dem Iran, auseinanderzusetzen; auch China ist neuerdings gegenüber dem langjährigen Verbündeten argwöhnisch geworden. Und das befreundete Afghanistan, ein Hort des extremen Islamismus, dehnt seinen Einfluss mit aktiver Unterstützung Saudi-Arabiens, eines weiteren Verbündeten Islamabads, bis ins ehemals sowjetische Zentralasien und den Nordkaukasus aus (siehe Seiten 4 und 5).

Pakistan steht am Rande des Bankrotts. Das Land ist nach wie vor eine der Hochburgen des muslimischen Fundamentalismus und gleicht innenpolitisch einem Pulverfass. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten (20 Prozent der Bevölkerung) sind ebenso an der Tagesordnung wie ethnische Konflikte zwischen Paschtunen, Belutschen, Sindhis und Pandschabis. Hinzu kommt die soziale Ungleichheit: 40 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, die Zahl der Kindersklaven wird auf 20 Millionen geschätzt. Pakistan ist eines der korruptesten Länder der Welt, und die ökonomische Potenz des organisierten Verbrechens übersteigt nach UN-Angaben den Produktionswert der legalen Wirtschaft.

Bedenkt man weiter, dass dieser in Auflösung begriffene, nun von Militärs gesteuerte Staat in Kürze über Raketen verfügen wird, die Atomsprengköpfe über eine Distanz von 1 500 Kilometern tragen können, besteht in der Tat Anlass zu größter Besorgnis.

Fußnoten: 1 Der seit 1995 geltende Nichtverbreitungsvertrag (NVV) erkennt nur die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die Vereinigten Staaten – als legitime Atommächte an. Nur Kuba, Indien, Israel und Pakistan haben ihn nicht unterzeichnet. 2 Erklärung vor dem Institut des Hautes Etudes de la Défense Nationale (Ihedn), Paris, 22. Oktober 1999.

Le Monde diplomatique vom 12.11.1999, von IGNACIO RAMONET