12.11.1999

Apartheid in Israel

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Apartheid in Israel

Von EITAN FELNER *

EIN Schritt vor, fünf Schritte zurück ... Nach unzähligen Ausflüchten hat der israelische Staatspräsident Ehud Barak nun verkündet, zehn der vierzig „wilden“ Siedlungen wieder auflösen zu wollen, die die Rechten kurz vor dem Amtsantritt seiner Regierung aus dem Boden gestampft hatten. Die Siedlungspolitik Israels, die immer wieder die Resolutionen des Weltsicherheitsrates missachtet, untergräbt Schritt um Schritt die Einheit eines palästinensischen Staates und verstärkt die Diskriminierung der palästinesischen Bevölkerung im Westjordanland.

Die Wahl des Zeitpunkts hätte symbolischer nicht ausfallen können: Nachdem am 13. September 1999 die Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern über den zukünftigen Status der besetzten Gebiete begannen, besuchte der israelische Ministerpräsident Ehud Barak ausgerechnet einen Tag später, am 14. September, Maale Adumim, die größte Siedlung des Westjordanlands, am Stadtrand von Jerusalem gelegen.1 Dass Barak bei diesem Anlass versicherte, Maale Adumim werde auf immer Teil Israels bleiben, mussten die Palästinenser als Provokation verstehen. „Jedes der Häuser, die ihr hier gebaut habt, ist Teil des Staates Israel. Auf immer. Die neue Regierung wird fortfahren, den Staat Israel zu stärken und den Zugriff auf israelischen Boden aufrechtzuerhalten, und wir werden Maale Adumim auch weiterhin ausbauen.“2

Errichtet wurde die Siedlung im Winter 1975, zur Zeit der ersten Rabin-Regierung. Im Juli 1977, einige Monate nach dem Sieg der Rechten, wurde die Siedlung, zusammen mit zwei weiteren, von der Regierung Begin legalisiert, und die „zuständigen Behörden erhielten Anweisung, sie entsprechend zu behandeln“. Maale Adumim wurde „entsprechend behandelt“, sprich: als „Entwicklungszone höchster Priorität“ eingestuft. So kam die Siedlung in den Genuss unzähliger Vorteile, von Zuschüssen beim Wohnungsbau über Steuervergünstigungen bis zu zinsgünstigen Darlehen. Unter den folgenden Regierungen wurden weitere Ausbau- und Infrastrukturmaßnahmen ausgeführt und neue Straßen gebaut. Das Arbeitsangebot wuchs, die Verkehrsverbindungen nahmen zu. Durch die massiven Unterstützungen stieg die Zahl der Siedler rasch. Im Oktober 1992 schließlich erhielt Maale Adumim, als erste der Siedlungen, kommunale Selbständigkeit. Heute, 1999, leben dort 25 000 Menschen. Auf Schritt und Tritt spürt man das Wachstum. Es gibt eine Industriezone, zahlreiche Schulen, kulturelle Einrichtungen und Grünanlagen. Erst jüngst wurde ein großes Einkaufszentrum eröffnet.

Die Geschichte von Maale Adumim ist jedoch weit mehr als die Geschichte einer erfolgreichen Stadtentwicklung, wie sie in Hochglanzprospekten und einer eleganten Homepage präsentiert wird.3 Denn die Stadt wurde auf enteignetem palästinensischem Grund und Boden der Dörfer Abu Dis, Al-Isrijeh, Al-Issawijeh, Al-Tur und Anata errichtet, deren Entwicklungsmöglichkeiten zuvor rigoros beschnitten worden waren. Auch die in der Region lebenden Beduinenstämme der Dschahlin und Sawahareh wurden vertrieben und deren Territorium konfisziert.

Um zu ermessen, welche Folgen Maale Adumim und andere Siedlungen für die Palästinenser haben, genügt es jedoch nicht, auf die unmittelbar Betroffenen zu verweisen und aufzuzählen, wie viele Grundstücke beschlagnahmt und Häuser abgerissen wurden, um die jeweilige Siedlung und die dazugehörigen „Umgehungsstraßen“ bauen zu können. Solche Maßnahmen stehen vielmehr im größeren Kontext einer nationalen Enteignung der Palästinenser. Der Jurist Raja Schehadeh beschreibt es so: „Indem Israel dem einzelnen Palästinenser sein Land nimmt (...), beraubt es ihn, als Angehörigen der palästinensischen Nation, seiner Zukunft. Der palästinensischen Nation wird ein Grundrecht entzogen, das ihr wie jeder anderen zusteht: das Recht auf Selbstbestimmung. Dem Volk wird die Möglichkeit genommen, sich als Gemeinschaft gemäß seinen Traditionen und Eigenheiten auszudrücken; es muss Hoffnungen aufgeben.“4

Vom Gift der Gewohnheit

IM Jahre 1995 erstellte der Stadtrat von Maale Adumim, in Zusammenarbeit mit der Regierung Rabin, einen Stadterweiterungsplan. Endgültig genehmigt wurde das Ausbauvorhaben von Mosche Arens, Verteidigungsminister in der Regierung Netanjahu – und zwar zehn Tage nachdem Benjamin Netanjahu die Wahlen verloren hatte. Die in diesem Siedlungsplan ausgewiesenen Flächennutzungen umfassen ein Straßennetz, Wohngebiete, Tourismuseinrichtungen und Sportanlagen, Freizeitanlagen, einen Friedhof, ein regionales Gewerbegebiet, einen Müllabladeplatz samt Recycling-Anlage, ein Sand- und Kieswerk und anderes mehr.5 Nach diesem Plan hat die Siedlung, in der weniger als 30 000 Menschen leben, eine Fläche von 53 Quadratkilometern. Damit ist sie größer als das Stadtgebiet von Tel Aviv – und halb so groß wie Paris – und bildet einen Teil des Stadtgebietes von Jerusalem.6

Der Staat Israel verfolgt also mit seinen großzügigen Mittelzuweisungen und groß angelegten Bauvorhaben erkennbar geopolitische Ziele. Maale Adumim liegt sieben Kilometer östlich von Jerusalem, an der Straße nach Jericho, und das Grundmuster der Siedlungserweiterung präjudiziert bereits, was eigentlich bei den nächsten israelisch-palästinensischen Treffen über den Grenzverlauf, die Lebensfähigkeit des Palästinenserstaats und den Status von Jerusalem hätte ausgehandelt werden sollen.

Seit den Anfängen der Siedlungspolitik gehörte die Gebietserweiterung zu den wichtigsten Zielen – allerdings ohne offizielle Annexion der besetzten Gebiete. Schon 1972 hatte Golda Meir erklärt: „Unsere Grenzen werden nicht von Linien auf Landkarten bestimmt, sondern davon, wo es Juden gibt.“7 Mosche Arens hat erst kürzlich wieder klar gemacht, dass die Siedlungen eine entscheidende Rolle spielen werden, wenn es um die endgültigen Grenzen des Staates Israel geht, und er hat sich dabei ausdrücklich auf Maale Adumim und seine Bedeutung für den Grenzverlauf bezogen.8

Jerusalem steht im Zentrum des israelisch-palästinensischen Konflikts, und die Erweiterungsvorhaben in Maale Adumim sind das Kernstück der israelischen Pläne, die illegale Annexion Ost-Jerusalems festzuschreiben. Durch die Anbindung der großen Siedlungen an Jerusalem im Rahmen von Erweiterungen sollen große Teile des Westjordanlands rund um Jerusalem Israel einverleibt werden, mit der Folge, dass die Palästinenser in Ost-Jerusalem noch stärker von ihren Landsleuten im Westjordanland abgeschnitten wären.

General Baraks freimütige Erklärungen bei seinem jüngsten Besuch in Maale Adumim machen deutlich, dass für ihn die Annexion bereits beschlossene Sache ist. „Ich sage, ihr seid ein Teil von Jerusalem“, waren seine Worte. Im Falle einer Erweiterung wären die Verbindungen zwischen dem Süden und dem Norden des Westjordanlands massiv behindert; um beispielsweise von Bethlehem nach Ramallah zu gelangen, müssten die Palästinenser israelisch kontrolliertes Gebiet durchqueren. Mit dem Ausbau von Maale Adumim wird eine mögliche territoriale Einheit verhindert und folglich die Lebensfähigkeit des palästinensischen Staates in Frage gestellt.

Zum anderen ist Maale Adumim, ebenso wie die anderen Siedlungen, obwohl in besetztem Gebiet gelegen und der gleichen israelischen Militärhoheit unterstellt wie die Palästinenser, de facto längst ein integraler Bestandteil Israels. Das dichte Netz von Straßen und Autobahnen im Westjordanland ermöglicht es den Siedlern, täglich nach Israel zu fahren – und die Mehrheit der Einwohner von Maale Adumim arbeitet in Jerusalem. Weniger sichtbar, aber nicht weniger wirksam ist ein anderer Aspekt der Integration: Nach und nach erlangen sämtliche Vorschriften des israelischen Rechtssystems in den Kolonien Gültigkeit.

Im Laufe der Jahre haben die zivilen und militärischen Behörden unzählige Gesetze, Vorschriften und Befehle erlassen, die sicherstellen sollen, dass das Leben der Siedler dem der israelischen Staatsbürger in den Grenzen vom 4. Juni 1967 entspricht. Die Stadtverwaltung von Maale Adumim erläutert das folgendermaßen: „Unsere Stadt untersteht dem israelischen Recht gemäß der Anwendung der (militärischen) Anordnungen; die Oberhoheit in diesem Gebiet liegt bei der Armee. Im Alltag ist davon nichts zu spüren, die Einwohner sind israelische Bürger mit den gleichen Rechten und Pflichten wie alle anderen.“9

Indem der Staat Israel den Siedlern die gleichen Rechte gewährt wie seinen Staatsbürgern, produziert er Segregation und Diskriminierung: Zwei verschiedene Volksgruppen, die in ein und demselben Gebiet leben, unterstehen verschiedenen Rechtssystemen: Für die Palästinenser gilt das Militärrecht, und sie werden in der Regel von Militärgerichten abgeurteilt, während für Israelis, die die gleichen Straftaten begangen haben, die zivile israelische Gerichtsbarkeit zuständig ist. Jüdische Siedler genießen die gleichen Rechte wie Juden in Israel: uneingeschränkte Bewegungsfreiheit, Meinungs- und Organisationsfreiheit, Stimmrecht bei den (israelischen) Kommunal- und Parlamentswahlen, Anspruch auf die Leistungen der Sozialversicherung, des Gesundheitssystems und so weiter. Palästinensern, die vielleicht nur ein paar hundert Meter entfernt von den Siedlungen wohnen, wird dagegen die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt, sie haben nicht die Möglichkeit, durch Wahlen die Macht der Besatzungsarmee zu beschneiden, und sie haben keinen Anspruch auf israelische Sozialleistungen. Auf Afrikaans nannte man dieses System Apartheid.

Dass die gegenwärtige israelische Regierung diese staatliche Diskriminierung fortsetzen will, erkennt man nicht zuletzt daran, das auch in Baraks Regierungsprogramm den in Judäa, Samaria und Gasa lebenden Juden „die gleichen staatlichen und kommunalen Leistungen zugesichert werden wie anderen Gemeinden in Israel.“10

Da Israel nicht zuletzt wegen befürchteter heftiger Proteste aus dem Ausland de jure eine Annexion vermeiden wollte, griff der Staat zu dem Mittel einer De-facto-Annexion, bei welcher in Ruhe und Beharrlichkeit Erlass um Erlass geschaffen wurde, um die Siedler den in Israel lebenden Staatsbürgern gleichzustellen.

Nach dreißig Jahren unermüdlicher Siedlungspolitik hat man sich offensichtlich in der ganzen Welt an das Unrecht der Siedlungen gewöhnt und beschlossen, über deren katastrophale Folgen für den Frieden im Nahen Osten hinwegzusehen. Wann immer neue Vorposten eingerichtet oder in den expandierenden Stadtsiedlungen weitere Wohnungen gebaut werden, reagieren alle Beteiligten in altbekannter Manier: Jassir Arafat bringt gegenüber Hosni Mubarak oder der Europäischen Gemeinschaft sein Missfallen zum Ausdruck – allerdings in gedämpfter Tonlage, um den „Friedensprozess“ nicht zu gefährden. Die israelische Regierung erklärt, die Bautätigkeit entspräche dem „natürlichen Wachstum“ der vorhandenen Siedlung, während die US-amerikanische Regierung beide Seiten im Interesse einer Fortführung des „Friedensprozesses“ zur Mäßigung ermahnt.

Man kann der italienischen Schriftstellerin Oriana Fallaci nur zustimmen: „Die Gewohnheit ist die beschämendste aller Krankheiten, weil sie uns dazu bringt, alles Unglück, allen Schmerz und allen Tod hinzunehmen. Durch die Macht der Gewohnheit (...) lernen wir, die Fesseln zu akzeptieren, uns den Ungerechtigkeiten zu fügen und uns zurückzuziehen in Resignation und Einsamkeit, uns mit allem abzufinden. Kein Gift ist erbarmungsloser als die Gewohnheit, es dringt still und sanft in uns ein und gewinnt ganz langsam an Kraft, nährt sich von unserer Unachtsamkeit, und wenn wir bemerken, dass wir es in uns haben, sind wir bereits mit jeder Faser unseres Wesens daran gewöhnt, jede unserer Handlungen ist davon beeinflusst und es gibt kein Heilmittel mehr.“11

Im September hat die Bewegung „Peace now“ einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass in den ersten drei Amtsmonaten der Regierung Barak der Bau von 2 600 neuen Wohneinheiten im Westjordanland genehmigt worden ist. Bauminister Jitzhak Levy erklärte dazu, die Mehrzahl dieser Neubauten seien in der Gegend um Jerusalem geplant, allen voran in Maale Adumim, Givat Ze'ev und Beitar Ilit, weil diese Orte „gestärkt werden müssen, wenn die Regierung in den Verhandlungen in der Lage sein soll, Jerusalem zu bewahren“12 .

Wenn die internationale Gemeinschaft diese Politik der schleichenden Annexion nicht verurteilt und umgehend Maßnahmen ergreift, um sie zu beenden, dann wird wahr, was Mosche Dajan, der einstige Architekt der israelischen Politik in den besetzten Gebieten, vor zwanzig Jahren angekündigt hat: „Politisch ist Palästina erledigt.“13

dt. Edgar Peinelt

* Leitender Direktor von B'Tselem (Israelisches Informationszentrum zur Lage der Menschenrechte in den besetzten Gebieten), Jerusalem.

Fußnoten: 1 Der vorliegende Beitrag basiert auf einem kürzlich erschienenen Bericht von B'Tselem, der von Yuval Ginbar verfasst wurde: „Human Rights Violations Resulting from the Establishment and Expansion of the Ma'aleh Adumim Settlement“, zugänglich im Internet unter www.btselem.org. 2International Herald Tribune (Tel Aviv) vom 15. September 1999. 3www.maale-adummim.muni.il. 4 Raja Shehadeh, „Occupier's Law : Israel and the West Bank“, Washington (Institute for Palestine Studies) 1988, S. 49. 5 Zivilverwaltung für Judäa und Samaria, Maale Adumim, Örtliche Planungsbehörde, „Town Planning, Scheme 420/4“, 1995, Abschnitt 11.7.3. 6 Zum Stadtentwicklungsplan siehe auch Jan de Jong, „Verplantes Groß-Jerusalem“, Le Monde diplomatique, November 1996. 7 Erklärung vom 27. September 1972, zit. n. Geoffrey Aronson, „Palestinians and the Intifada. Creating facts on the West Bank“, London, New York (Kegan Paul Int.) 1990, S. 14. 8 Jerusalem Post vom 5. März 1999. 9 Stadtrat von Maale Adumim, „Maale Adumim, Profil einer Stadt“ (hebr.), 1998, S. 12. 10 Presseabteilung der israelischen Regierung, „Basic Guidelines of the 28th Government of the State of Israel“, Abschnitt 4.3. 11 Oriana Fallaci, „Ein Mann“, Aus dem Ital. von Toni Kienlechner, Köln (Kiepenheuer und Witsch) 1997. 12Ha'aretz (Tel Aviv) vom 27. September 1999. 13 Zit. n. Michael Curtis et al. (Hg.), „The Palestinians“, New Brunswick, NJ, (Transaction Books) 1975, S. 185.

Le Monde diplomatique vom 12.11.1999, von EITAN FELNER