Die Roma Ungarns
Von OLIVIER MEIER *
UNGARN hat 1993 ein in Europa einzigartiges Gesetz über die Anerkennung von Minderheitenrechten verabschiedet. „Das war ein beherzter Akt internationaler Politik“, urteilt die auf Minderheitenrechte spezialisierte Soziologin Angela Koczé. Für sie hat das Gesetz sehr viel mehr als nur symbolische Bedeutung: „Zum ersten Mal wurden kollektive Rechte anerkannt, wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte formuliert hatte.“
Mit der beinahe einstimmigen Verabschiedung des Gesetzes LXXVII durch das Parlament am 7. Juli 19931 hat sich Ungarn tatsächlich ein außergewöhnliches gesetzliches und juristisches Arsenal geschaffen, um die Rechte der dreizehn Minderheiten zu gewährleisten, die auf ungarischem Territorium leben. Bei zwölf dieser Minderheiten handelt es sich um Nationalitäten, die Ungarn aus der Geschichte (etwa auf Grund von Grenzverschiebungen) ererbt hat. Hinzu kommt die ethnische Minderheit der Roma, die 500 000 Menschen zählt, bei einer Einwohnerzahl von zehn Millionen also 5 Prozent der ungarischen Gesamtbevölkerung ausmacht.
Grundpfeiler des Gesetzes ist die Einrichtung von Gemeinschaftsräten oder „autonomen Minderheitsregierungen“, die auf gesamtstaatlicher Ebene von den Mitgliedern einer nationalen oder ethnischen Minderheit gewählt werden und für die Verwendung bestimmter öffentlicher Finanzmittel verantwortlich sind. Parallel dazu wurde auf staatlicher Ebene ein Büro für nationale und ethnische Minderheiten gegründet, die höchste Regierungsinstanz in Minderheitenfragen.
Im Oktober 1998 verfügten die Roma-Gemeinschaften über 766 Gemeinschaftsräte, 1994 waren es erst 415. Diese Zunahme innerhalb von vier Jahren zeugt von einer wachsenden Teilnahme am lokalen öffentlichen Leben. Der Wendepunkt von 1993 hat in der Tat eine tief greifende Veränderung im Umgang mit den Institutionen gebracht: Minderheiten und ethnische Differenzen wurden nicht länger geleugnet, man gab den Roma nicht nur ihre Würde, sondern auch eine Stimme, die ihnen einen Platz auf der politischen Bühne verschaffte.
Die praktische Umsetzung wird vor Ort allerdings durch zwei Faktoren gehemmt: Die unzureichenden Kredite, die den Handlungsspielraum der Minderheitenräte beschränken; und die konfliktträchtigen Beziehungen zwischen den Minderheitenräten und den lokalen Gemeinderäten.
Die Finanzierung der Gemeinschaftsräte ist kompliziert und weitgehend vom Wohlwollen der Gemeinderäte abhängig. In der Stadt Ozd im Nordosten Ungarns verfügt die autonome Verwaltung über das höchste Budget aller Roma-Gemeinden (etwa 40 000 Mark); wovon nach Abzug der Verwaltungskosten allerdings gerade 3 300 Mark übrig bleiben. Das Zentrum für die Rechte der Roma kritisiert, dass im 19. Bezirk von Budapest, wo die 6 000 Roma 10 Prozent der gesamten Einwohnerschaft ausmachen, der autonome Rat für 1999 nur einen Zuschuss von 6 600 Mark vom Gemeinderat erhalten habe, der slowakische Rat für seine 250 Mitglieder zählende Gemeinschaft hingegen 147 000 und der kroatische Rat für knapp 150 Personen 9 600 Mark.
Eine weitere Schwäche des Gesetzes ist die unzureichende Vertretung der Roma in den regulären Institutionen. So findet sich im gegenwärtigen Parlament kein einziger Rom, dasselbe gilt für die meisten Gemeinderäte. Das erschwert die Kooperation der Minderheitenräte mit den anderen gewählten Gremien.
Das Minderheiten-Gesetz hat mithin dazu geführt, dass die vormals engagiertesten Akteure innerhalb der Zivilgesellschaft und der sozialen Bewegung sich mittlerweile auf repräsentativen Posten ohne Macht herumdrücken. „In den Dörfern“, berichtet Angela Koczé, „hat diese Metamorphose mitunter etwas Tragisches an sich. Manche Vereinigungen hatten eine unabhängige Stimme und eigene Mittel für Aktionen, finanziert von Stiftungen. Heute sind sie verschwunden, die nichtöffentlichen Finanzquellen sind versiegt, und die Projekte sind völlig abhängig von einer unsicheren Finanzierung.“
Was tun? Für einen Mann wie Florián Farkas, den Vorsitzenden des nationalen Minderheitenrates für die Roma (OCKÖ), einer Art autonomen Minderheitsregierung für Gesamt-Ungarn, „ist es eminent wichtig, dass dieses Gesetz existiert und man über eine mögliche Verbesserung diskutieren kann“ – was er sich von der gegenwärtigen Mitte-rechts-Regierung erwartet.
Dagegen urteilt Viktória Mohácsi, Forscherin für das Zentrum zur Wahrung der Rechte der europäischen Roma, um einiges kritischer: „Mit diesem Gesetz hat sich der ungarische Staat nicht wirklich um die Verbesserung unserer Lage bemüht. Er wollte damit lediglich die Nachbarstaaten zwingen, ihren ungarischen Minderheiten ähnliche Rechte zu gewähren.“ Die Gewährung zusätzlicher Rechte für die etwa fünf Millionen Ungarn in Rumänien, in der Ukraine, der Slowakei und Slowenien, die im allgemeinen gut integriert sind, führt dazu, dass diese Minderheiten einen Platz auf der politischen Bühne erhalten.
Die ungarische Gesellschaft zeichnet sich hinsichtlich der Romafrage durch einen bemerkenswerten Widerspruch aus. Sie hat sich zwar mit der „nota“ eine Musik angeeignet, die seit der Belle Époque des 19. Jahrhunderts und ihrer Apotheose im Fin de siècle den Charme der magyarischen Stadt ausmachte und den legendären künstlerischen Ruf der Zigeuner begründete, aber dennoch haben die Ungarn zu ihrer Vergangenheit ein verschämtes und zu ihrer Gegenwart ein ironisches Verhältnis. Die Marginalisierung der Roma hat eine Jahrhunderte lange Geschichte, von den blutigen Verfolgungen der Vergangenheit bis zu der mittlerweile schon wieder vergessenen Ausrottung der Roma im Zweiten Weltkrieg und der schleichenden Ghettoisierung in der Gegenwart. Und doch erhebt sich ihre Kultur immer wieder aus der Asche, um weiterzumachen in ihrer niemals endenden Suche nach einer Begründung ihrer Legitimität.
Soziale und ethnische Diskriminierung
IN schöner Regelmäßigkeit nimmt sich die Intelligenzija der Romafrage an. Woran liegt es, dass sich die Lage sechs Jahre nach der Verabschiedung eines Gesetzes, das die Integrationspolitik revolutionieren sollte, in mancher Hinsicht verschlechtert hat? Und worin äußert sich das? Die alte Diskussion unter den „Tsiganologen“, ob die Probleme auf soziale oder ethnische Gründe zurückzuführen seien, setzt sich endlos fort.
„Die Integration scheitert nicht aus sich selbst heraus, sondern an den sozialen Gegebenheiten“, betont Angela Koczé. Die 29-jährige Soziologin fühlt sich einer Generation zugehörig, die ihren Platz in der ungarischen Gesellschaft sucht, ohne mit ihren Wurzeln und ihrer Kultur zu brechen – deren Werte sich ihrer Ansicht nach allerdings „nicht auf den Rahmen der ursprünglichen Gemeinschaft beschränken dürfen“.
In ihrer Heimatstadt Kispalád an der ukrainischen Grenze war es ihr zu eng; der Ort hatte nur fünfhundert Einwohner, die Hälfte davon Roma, es gab keine Schule und keinen Arzt. Nach dem Gymnasium suchte sie Arbeit in Budapest. Sie arbeitete in der Schwerindustrie, danach als Lehrerin, später finanzierte sie sich ihr Studium an der Columbia University in New York mit kleinen Jobs und promoviert mit einer Arbeit über die Menschenrechte. Angesichts einer solchen Biographie nimmt es nicht Wunder, dass die Soziologin mit dem Begriff „Integration“ keine Schwierigkeiten hat, vorausgesetzt, er läuft nicht auf eine Art „Verleugnung“ hinaus.
Schenkt der Staat dem Rassismus und seinen Exzessen genügend Aufmerksamkeit? Trifft er bereits in den Schulen adäquate Maßnahmen, indem er den interkulturellen Austausch fördert? Die europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), die Ungarn zu seinem Gesetz von 1993 gratulierte, bedauerte in ihrem Bericht von 1997 das Fehlen eines „Verbots von rassistisch motivierten Beleidigungen und Verleumdungen, von Diskriminierung im Alltag oder von Diskriminierung durch Beamte“3 .
Die Diskriminierung der Roma ist jedoch eine unleugbare Realität. Sie ist schon an der hohen Arbeitslosenquote abzulesen, die unter den Roma fast 70 Prozent, im Landesdurchschnitt jedoch nur 11 Prozent beträgt.4 Die Roma-Gemeinschaften lebten traditionellerweise nomadisch, bevor sie im 20. Jahrhundert sesshaft wurden. Vor allem nach 1945 wurden sie massiv – häufig auch zwangsweise – in Arbeiterberufe „integriert“. Dadurch hatte der industrielle Niedergang nach dem Umbruch Anfang der neunziger Jahre für diese Menschen fatale Auswirkungen, weil sie in der Regel unterqualifiziert waren.
In der Stadt Ozd, wo ein Drittel der 40 000 Einwohner Roma sind, kletterte mit der Stillegung der metall- und eisenverarbeitenden Industrie nach 1989 die Arbeitslosenrate auf durchschnittlich 40 Prozent, in den umliegenden Roma-Dörfern liegt sie bei fast 100 Prozent. In Hetes, einem benachbarten Roma-Dorf mit sechshundert Einwohnern, bleibt heute als einzige Erwerbsquelle der Handel mit Metallen, die aus dem gesundheitsschädigenden, toxischen Abraum alter Halden gewonnen werden. Viele der Familien leben höchst dürftig von den minimalen Sozialhilfeleistungen und staatlichen Unterstützungen.
Die Roma waren zwar nicht die einzige, wohl aber die am schwersten von den neoliberalen Maßnahmen der postkommunistischen Politik betroffene Gruppe. Laut offiziellen Statistiken liegt ihre durchschnittliche Lebenserwartung um zehn Jahre unter jener der Ungarn, und die ist bereits eine der niedrigsten in Europa. Obwohl der Prozentsatz der Roma-Bevölkerung zwischen 25 und 29 Jahren, die eine achtjährige Grundschulbildung absolviert haben, zwischen 1971 und 1993 von 26 auf 77 Prozent gestiegen ist, bringt es der Großteil von ihnen zu keinem höheren Schulabschluss, von einem Universitätsstudium ganz zu schweigen.5
Die Lösungen für die brennenden Probleme der Arbeitslosigkeit und der mangelnden Schulbildung sind auch innerhalb der Roma-Gemeinschaft umstritten: Sind die Integrationsprobleme sozialer oder kultureller Natur? Sollen die Roma durch spezielle Schulprogramme gefördert oder in das allgemeine System integriert werden? Und sollten die Medien die schwierigen Lebensbedingungen der Roma und ihre Diskriminierungen aufzeigen oder lieber ein positives Bild ihrer Traditionen und Folklore vermitteln, um sie der Mehrheit sympathisch zu machen?
Diese Debatten haben insofern eine große Resonanz, als sie sich seit dem Gesetz von 1993 in einem institutionellen Rahmen abspielen und so die gesamte ungarische Gesellschaft erreichen. „Die von mir vertretene Politik bietet für die Romafrage einen revolutionären Ansatz“, bestätigt Farkas. „Meine Vorschläge können sowohl von der Mehrheit als auch von der Minderheit akzeptiert werden.“ Als „Opportunismus“ wird diese Haltung von Aladar Horváth bezeichnet, der Hauptgegner von Farkas und eine weitere emblematische Persönlichkeit ist, die sich für die Rechte der Roma stark macht.
Angela Koczé zeigt sich dennoch optimistisch. Sie hält den eingeschlagenen Weg für sinnvoll, vergleicht ihn – nach ihrem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten – mit dem Bürgerrechtskampf der US-amerikanischen Schwarzen und setzt darauf, dass ihre Gemeinschaft in Zukunft ihre Rechte wahrnehmen und die Gesellschaft die Unterschiede respektieren wird. „Ich bin davon überzeugt“, meint sie abschließend, „dass die Europäische Union uns helfen kann, die politischen Parteien dazu zu bringen, sich für eine Verbesserung der Lage der Roma einzusetzen. Auch wenn dahinter nur das Motiv steht, einen neuerlichen Migrations-Strom nach Westeuropa zu verhindern – für uns geht es in erster Linie darum, dass die EU uns dabei unterstützt, die Respektierung der Menschenrechte durchzusetzen.“
dt. Andrea Marenzeller
* Journalist, lebte zwischen 1995 und 1999 in Ungarn.