12.11.1999

Völkermord in Ruanda: Was man heute weiß

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Völkermord in Ruanda: Was man heute weiß

SOLLTE es tatsächlich noch Leute geben, die im ruandischen Völkermord von 1994 einen Ausbruch „afrikanischer Barbarei“ erblicken, gebe man ihnen den neunhundertseitigen Bericht zu lesen, den die FIDH (Internationale Föderation der Menschenrechtsligen) herausgebracht hat.1 So wie in Armenien, so wie in Europa unter den Nazis, exakt so wurde dieser Massenmord geplant, organisiert, von oben gelenkt und ausgeführt – und die Bürger leisteten einem verbrecherischen Regime passiven Gehorsam.

Im Oktober 1990 beginnt der systematische, zielstrebige Aufbau eines ideologischen Propaganda-Apparates: Man verbreitet Lügen, schürt Angst, beschwört in Schreckensszenarien, wie katastrophal sich eine Teilung der Macht auswirken würde, diffamiert Oppositionelle, schiebt ihnen genau das in die Schuhe, was man selbst vorhat, beschwört die „ethnische Solidarität“ ... Nicht nur Armee, Polizei und kommunale Verwaltungsbeamte machen mit, auch Intellektuelle – zum Beispiel jene Universitätsprofessoren von Butare, die die Propaganda bereitstellten – und selbst die Kirchen, wie kürzlich nachgewiesen wurde.2

Heute weiß man auch, wie die Beteiligung der Bevölkerung ausgesehen hat, man weiß, dass sie zwiespältig und von den Organisatoren gewollt war, damit niemand von der kollektiven Schuld frei blieb. In dieser Beteiligung liegt die Wurzel für die gegenwärtige schlimme Lähmung der ruandischen Gesellschaft mit ihren 130 000 Häftlingen, die in überbelegten Gefängnissen dahinvegetieren und unter denen viele einfach das Pech hatten, Augenzeuge eines Mordes zu sein.

Die Staatengemeinschaft trifft erdrückende Schuld. Alles stieß überall auf taube Ohren: Informantenberichte, zufällige Entdeckungen, erhärtete Gerüchte. Der FIDH-Bericht enthält unveröffentlichte Dokumente, die nicht den geringsten Zweifel zulassen. Die UNO hörte lieber auf die beschwichtigenden Interpretationen eines Booh Booh, des schüchternen Sondergesandten ihres Generalsekretärs, als auf die schonungslose Darstellung des Kommandanten der Militärmission, General Domeo Dallaire. Als sie mit unleugbare Tatsachen konfrontiert wurde, rettete sie sich in Ausflüchte, und als auch das nicht mehr half, stahl sie sich davon. Am 8. Juni, also zwei Monate nach dem Beginn, sprach sie endlich gezwungenermaßen von „Völkermord“, schob aber Entscheidungen hinaus und intervenierte dann, als alles vorbei war. Doch nicht nur die UNO stellte sich taub, auch die US-amerikanische Regierung verschloss Augen und Ohren: Ein Bericht des CIA, der von möglicherweise 500 000 Toten spricht, wird in Washington nicht im geringsten ernst genommen. Die Rolle Frankreichs erhellt auch aus der Analyse der militärischen Zusammenarbeit mit dem ruandischen Regime.

Am „skandalösesten“ ist aber wohl der Machtmissbrauch des „Front patriotique rwandais“ (FPR) der Tutsi, der mit militärischen Mitteln dem Morden Einhalt gebot. Die „Helden“ dieser Operation begingen selbst Verbrechen gegen die Menschlichkeit und stellten sie dann als Racheakte hin, die in der allgemeinen Empörung über die Grausamkeiten begangen worden seien. Es war kein zweiter Genozid, wie manchmal behauptet wird, sondern eine ganz bewusste Politik des Terrors, mit dem sich die neuen Machthaber, die ethnisch und politisch in der Minderheit waren, durchsetzen wollten. Und darin liegt das letzte, entsetzlichste Paradox: In gewisser Weise haben die Völkermörder gesiegt. Ihre grauenvolle Ideologie hat auf ihre Bezwinger abgefärbt, sie hat alle gesellschaftlichen Beziehungen verseucht und die politischen Strategien pervertiert. Und in mancherlei Hinsicht ist der jetzige Kongokrieg, in dem Ruander aus beiden Lagern die Hauptprotagonisten sind, lediglich ein neues Kapitel in dieser Horrorgeschichte.

GÉRARD PRUNIER

Fußnoten: 1 Human Rights Watch, Fédération internationale des droits de l'homme: „Aucun témoin ne doit survivre: le génocide au Rwanda“, Paris (Karthala) 1999. 2 „Rwanda, l'honneur perdu de l'Eglise“, hg. Christian Terras. Villeurbanne (Golias, Collection „Les dossiers de Golias“) 1999.

Le Monde diplomatique vom 12.11.1999, von GÉRARD PRUNIER