Lug und Trug der Freihandelstheorie
Von BERNARD CASSEN
WENN eine Regel absurd ist, kann man immer mehr Ausnahmen erfinden, oder man kann die Regel ändern. Die zweite Alternative ist plausibler. Gleichwohl verkünden zahlreiche Politiker ihren ungebrochenen Glauben an die Heilkräfte des internationalen Handels und begnügen sich damit, eine Ausnahmeklausel für ihren eigenen Bereich einzuklagen. Sie beten unermüdlich nach, was sie aus Brüssel hören: „Diese Liberalisierung ist gut“1 hat gerade zum soundsovielten Male der neue EU-Handelskommissar Pascal Lamy verkündet, der sich von seinem Vorgänger Leon Brittan ideologisch so sehr unterscheidet wie Tony Blair von Margaret Thatcher.
Der Bericht der Abgeordneten Béatrice Marre über die anstehenden Verhandlungen auf der Ministerkonferenz von Seattle (übrigens ein recht nützliches Papier, das sich streckenweise wohltuend vom neoliberalen Küchenlatein abhebt) ist ein klassisches Beispiel für diese Methode: „Die Statistik zeigt einen unbestreitbaren Zusammenhang zwischen Handelsliberalisierung und Wirtschaftswachstum. Diesen Zusammenhang kann die Wirtschaftstheorie erklären. Nach dem Prinzip der 'komparativen Kostenvorteile‘ hängt der Wohlstand eines Landes vornehmlich davon ab, dass es seine Ressourcen nutzt und seine Anstrengungen auf Bereiche konzentriert, in denen es über die besten Produktionsvoraussetzungen verfügt.“2
Die Zahlen zeigen, die Wirtschaftstheorie erklärt: Die Berichterstatterin des französischen Parlaments stellt sich – ohne die Problematik derart generalisierender Aussagen zu reflektieren – einfach auf den Sockel der Unfehlbarkeit. Dabei zeigt gerade das Beispiel des „Prinzips der komparativen Kostenvorteile“, dass die Wirtschaftstheorie ihre Bibliographie offenbar schon geraume Zeit nicht mehr überarbeitet hat. Denn sie schreibt schlicht die Thesen fort, die vor 200 Jahren – unter völlig anderen Bedingungen also – von Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823) entwickelt wurden.
Doch nehmen wir zunächst die berühmten Statistiken unter die Lupe. Keine der Zahlen, auch nicht die von Béatrice Marre zitierten, belegen den „unbestreitbaren Zusammenhang“ zwischen Liberalisierung und Wachstum. Das Argument der Berichterstatterin, das Handelsvolumen habe zwischen 1948 und 1997 um das Siebzehnfache zugenommen, während sich das Produktionsvolumen (nur) versechsfacht hat, verweist lediglich auf parallele Trends, beweist aber keineswegs einen Kausalzusammenhang. Dieser Denkfehler allein würde ihre Thesen freilich noch nicht widerlegen. Das tun jedoch andere Zahlen. Das Centre d'études prospective et d'information internationales (Cepii) – eine staatliche Forschungseinrichtung, deren Mitarbeiter in ihrer Meinungsfreiheit nicht eingeschränkt sind – weist nach, dass „die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Entwicklungsländer, die 1986 Gatt-Mitglied waren, im Zeitraum 1980-1995 kaum höher lag als die der Nichtmitglieder (2,2 gegenüber 2,1 Prozent)“3 .
Lässt sich eine ambitionierte Theorie wie der behauptete Zusammenhang zwischen Handelsliberalisierung und Wohlstand auf ein Plus von 0,1 Prozent stützen? Die Cepii-Autoren versetzen der petitio principii4 der Freihandelsdoktrin den Gnadenstoß, wenn sie konstatieren: „ (...) empirische Untersuchungen lassen keine unbestreitbar positiven Auswirkungen der Liberalisierung des Waren- und Dienstleistungshandels auf das Wachstum erkennen“5 . Damit bricht die ganze Argumentation des IWF, der OECD, der WTO und der EU-Kommission sowie fast aller Finanzminister der entwickelten Länder in sich zusammen.
Wer hat Angst vor dem alten Keynes?
ZU den Verlierern in dieser Kontroverse gehören auch die zahllosen Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, die uns die Segnungen der „Marktöffnung“ predigen, die neoliberalen Professoren in den Schlüsselpositionen unserer Universitäten und die Wirtschaftsjounalisten, die uns jeden Morgen das wirtschaftsliberale Einmaleins einbläuen. Dabei sind die Professoren noch am wenigsten zu entschuldigen, denn zumindest ihnen müssten die wissenschaftlichen Arbeiten bekannt sein, die etliche der falschen Wahrheiten über den Protektionismus und den Freihandel widerlegen.
In diesem Zusammenhang ist auf den Genfer Wirtschaftswissenschaftler Paul Airoch zu verweisen, der drei Jahre lang für das Gatt gearbeitet hat. In seinem nicht sehr häufig zitierten Buch über die Mythen und Paradoxien der Wirtschaftsgeschichte6 zeigt Paul Bairoch, dass der Protektionismus nicht etwa die Ursache, sondern eine Folge des Wallstreet-Krachs von 1929 war. Auch belegt er anhand statistischer Reihen über den Zeitraum 1800-1990, dass die meisten heutigen Industrieländer ihre ökonomische Expansion bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein mit Ausnahme weniger kurzer Perioden einem wirtschaftspolitischen Protektionismus verdankten. Und dass sie umgekehrt den Freihandel gerade den Ländern aufgenötigt haben, die später zur so genannten Dritten Welt wurden, wofür Indien das beste Beispiel ist.
Solche Einsichten relativieren die penetrant vorgetragenen wirtschaftsliberalen Lektionen aus Washington, wo man großzügig ignoriert, dass die USA in ihren protektionistischen Phasen wirtschaftlich noch erfolgreicher gewesen sind als heute. Jedenfalls hat es etwas von einem Déja-vu-Erlebnis, wenn die Industriemächte, die multilateralen Institutionen, die multinationalen Konzerne und alle anderen Kräfte, die sich ständig als Fürsprecher „der Märkte“ betätigen, den Entwicklungsländern erneut einreden wollen, dass sie sich zu „reformieren“, zu „öffnen“, zu „modernisieren“ hätten.
Dies zu den Zahlen, und nun zur Theorie. Wenn sich Béatrice Marre pauschal auf „die klassische oder neoklassische Theorie“ (im Singular!) bezieht, so haben wir es mit einem krassen Fall von Anachronismus zu tun. Das wird schon durch ihren Verweis auf Ricardo nahe gelegt. Dabei klärt uns jedes wirtschaftswissenschaftliche Standardwerk7 über die zeitgenössischen Voraussetzungen auf, die der Theorie von Ricardo zugrunde liegen. Zum einen postulierte Ricardo innerhalb jedes Landes eine uneingeschränkte Mobilität sowohl der Waren als auch der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Zum anderen unterstellte er, dass bei vorausgesetztem Freihandel zwar die Waren international mobil seien, die Produktionsfaktoren jedoch nicht.
Die zweite Voraussetzung ist offenkundig überholt: Zwar ist heute die Arbeit noch immer weitgehend immobil (obwohl Flüchtlingsströme und legale wie illegale Migration diesen Punkt relativieren), aber für das Kapital gilt das genaue Gegenteil: Die absolute Freiheit der Kapitalzirkulation zählt neben der Investitionsfreiheit und dem freien Warenverkehr zu den drei „Grundfreiheiten“ der Globalisierung.
Man kann es also nicht mal so und mal so haben: Konsequent liberal argumentiert, muss man der Arbeitskraft dieselbe Zirkulations- und Niederlassungsfreiheit zugestehen wie dem Kapital. Das hieße für Europa: weg mit dem Schengen-Abkommen. Und für die Vereinigten Staaten: weg mit den Elektrozäunen an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Oder aber man begnügt sich mit einer Liberalisierung à la carte, dann darf man sich aber nicht mehr auf die Theorie berufen.
Will man die Migrationsströme begrenzen, muss man die intellektuelle Redlichkeit aufbringen, auch die Waren-, Dienstleistungs- und Investitionsströme zu begrenzen. WTO und IWF müssten sich also entweder an die Spitze des Kampfs für die bürgerrechtliche Gleichstellung illegaler Einwanderer setzen, oder aber Ein- und Ausfuhrvisa für Kapitalien (Devisenkontrolle) und Regulationsmaßnahmen wie die Tobin-Steuer und die Stärkung oder Wiedereinführung nationaler Sonderregelungen für ausländische Investoren befürworten.
Mit Blick auf die kapitalschwächsten und bevölkerungsreichsten Länder ist der freihändlerische Wirtschaftsliberalismus theoretisch ein glatter Schwindel. Daran werden die verbalen Artigkeiten, mit denen der neue WTO-Generaldirektor (der für seine Wahlkampagne 60 000 Dollar ausgegeben hat) die armen Länder überhäuft, ebenso wenig ändern wie die Bekundungen der EU-Kommission, die sich in ihrem Bericht an den Rat im Juli dieses Jahres in die erstaunlichsten Widersprüche verwickelt hat. Sie hat einerseits erklärt, dass die neue Verhandlungsrunde „den Entwicklungsländern Vorteile bringen“ werde, andererseits fordert sie gerade diese Länder auf, „die Grundsätze und Ziele des multilateralen Handelssystems“ zu respektieren. Indem sie für eine allgemeine Zollsenkung, das heißt für einen Nulltarif eintritt, hat sie das Lomé-Abkommen, das den AKP-Staaten (Afrikas, der Karibik und der Pazifikregion) Präferenzzölle einräumt, praktisch zur Makulatur erklärt.
Präferenzen widersprechen dem Prinzip der allgemeinen Gleichbehandlung. Aber liegt es nicht im wohlverstandenen Interesse Europas – aus Stabilitätsüberlegungen wie aus Solidarität mit seinen Nachbarn –, etwa den afrikanischen Ländern im Gegensatz zu den Ländern Asiens und Amerikas handelspolitische Vergünstigungen zu gewähren? Doch die WTO-Regeln der „Meistbegünstigung“ und der „Inländerbehandlung“ verbieten solche „Vorzugsbehandlung“.
Wer zählt beim Freihandels-Roulette zu den Gewinnern, wer zu den Verlierern? Die Frage bezieht sich nicht nur auf den Unterschied zwischen reichen und armen Ländern. Sie stellt sich auch für die innerstaatliche Ebene, als Frage nach den sozialen Unterschieden, nach demokratischerKontrolle und nachhaltiger Entwicklung. Dabei spiegeln die in Seattle vertretenen gesellschaftlichen Kräfte die unterschiedlichen Interessen wider. Da sind zunächst die offiziellen Repräsentanten der Mitgliedstaaten, die häufig die komplizierten technischen Dossiers8 gar nicht verstehen können. Da sind aber auch die Sponsoren der Veranstaltung, voran Microsoft und Boeing. Die wurden freilich gerade erst vom zuständigen WTO-Panel wegen ihrer „Foreign Sales Corporations“ (FSC) verurteilt, mit deren Hilfe sie in den letzten Jahren riesige Steuersummen gespart haben.9
Aber in Seattle werden sich auch Tausende Lobbyisten tummeln, die multinationale Konzerne und einige große nationale Privatunternehmen repräsentieren. Diese – und nur sie – fordern einen neuen Schuss Liberalisierung, insbesondere auch auf den Gebieten des Bildungs- wie des Gesundheitswesens, die bislang von der allgemeinen Kommerzialisierung verschont geblieben sind. So liegt in Seattle ein Antrag unter dem Stichwort „Dienstleistungen“ vor, der auf die Initiative der EU-Kommission und der Regierungen der fünfzehn EU-Staaten zurückgeht.
EU-Kommissar Pascal Lamy hat erklärt, Europa erwarte von den Verhandlungen, dass die europäischen Unternehmen „besseren Zugang zu bestimmten Außenmärkten erhalten, die aus verschiedenen Gründen nicht offen stehen“10 . Das ist zwar ehrlich formuliert, aber zu kurz gegriffen.
Tatsächlich geht es um ganz andere Probleme, die in Seattle auf einem „Gegengipfel“ thematisiert werden. Hier sind die politischen Kräfte aus aller Welt repräsentiert, die eine Gesellschaft anstreben, in der nicht allein das Geld regiert. Diese Bewegung wird in der Wirtschafts- und Finanzpresse mit dem Vorwurf diskreditiert, sie verteidige nur „sektorielle“, „korporatistische“, „egozentrische“ Interessen (die großen transnationalen Unternehmen haben bekanntlich nur unser aller Gemeinwohl im Sinn!).
Gewiss herrscht in dieser Bewegung nicht in allen Punkten Einigkeit. Einig ist man sich jedoch darin, dass der freihändlerische Fundamentalismus einen Angriff auf die demokratischen, sozialen und ökologischen Grundnormen unserer Gesellschaft darstellt. Nach der Asienkrise ist der freie Kapitalverkehr ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Ähnlich wird es dem Prinzip des Freihandels ergehen.
Doch was könnte an die Stelle des Freihandelsprinzips treten? Auch hier gibt uns Keynes nützliche Hinweise: „Ich hege Sympathie für die Leute, die die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Nationen eher minimieren als maximieren wollen. Die Ideen, das Wissen, die Kunst, die Gastfreundschaft und Reisen sind von Natur aus international. Doch die Waren sollten aus dem eigenen Land stammen, wo immer es möglich und angemessen ist. Und erst recht sollten die Finanzen eine vornehmlich nationale Angelegenheit sein.“11
Man wird diesen Hinweis als Sehnsucht nach den guten alten Zeiten abtun. Doch da die internationale Wirtschafts- und Finanzordnung ohnehin auf ein neues Fundament gestellt werden muss – da ihr sonst der Bankott droht, wie Weltbank oder IWF unfreiwillig bestätigen –, sollte man gleich Nägel mit Köpfen machen.
dt. Bodo Schulze