Endstation Herzlberg
Die geplante Jerusalemer Straßenbahn soll Verkehrsprobleme lösen – und kollidiert mit internationalem Recht von Dominique Vidal und Philippe Rekacewicz
Vor 2009 wird sie nicht in Betrieb gehen, aber man kann sie bereits auf den Plakatwänden bewundern: Jerusalems Straßenbahn, wie sie an den Mauern der Altstadt entlangfährt. Eine der bunten Werbetafeln kombiniert dieses Bild sogar mit dem Porträt eines nachdenklichen Theodor Herzl – das wirkt seltsam, ist aber kein Versehen: In Herzls Roman „Altneuland“, der 1902, zwei Jahre vor seinem Tod, erschien, steht das light-rail-system für die Modernität eines Jerusalem der Zukunft.
Ein Jahrhundert nach Herzls Traum gilt die Straßenbahn als die – „ökologisch wie ökonomisch“ – beste Lösung für Jerusalems Verkehrsprobleme. „Unsere Stadt erstickt im Autoverkehr“, sagt Schmulik Elgarbly, Sprecher der israelischen Straßenbahngesellschaft. „Weil die Autos deutlich billiger geworden sind, benutzen heute nur 40 Prozent der Einwohner die öffentlichen Verkehrsmittel. 1980 waren es noch 76 Prozent.“
Neue Straßen sind schon kurz nach ihrer Fertigstellung verstopft, und in den alten Gassen ist zumeist nicht genug Platz, um eine Busspur einzurichten. Dass die Stadt auf einem Felsmassiv aus weichem Gestein steht, legt den Bau einer U-Bahn nahe, aber: „Warum sollen wir die Fahrgäste um den Anblick der schönsten Stadt der Welt bringen?“
Vor nunmehr zehn Jahren ließ sich der damalige Bürgermeister, ein gewisser Ehud Olmert, für das Straßenbahnprojekt gewinnen, das allerdings nur privatwirtschaftlich zu finanzieren war. Man wählte die Form eines BOT-Projekts: Private Unternehmen übernehmen den Bau (Build), erhalten für dreißig Jahre die Betreiberrechte (Operate) und übergeben dann das Unternehmen der öffentlichen Hand (Transfer).
Nach der öffentlichen Ausschreibung im Jahr 2000 erhielten zwei in Frankreich beheimatete Global Player den Zuschlag: Alstom für den Straßenbahnbau und Connex, ein Zweig des Veolia-Konzerns, als Betreiber. Gemeinsam mit den israelischen Unternehmen Ashtrom und Polar Investment und den Banken Hapaolim und Leumi bildeten diese Firmen die Betreibergesellschaft Citypass. Im Vertrag vom 17. Juli 2005 ist das Unternehmensziel festgeschrieben: Bis 2009 sollen auf einer 18,3 Kilometer langen Strecke zwischen Pisgat Zeev und Mount Herzl fünfundzwanzig Straßenbahnzüge verkehren, die jeweils 500 Passagiere fassen.
Schmulik Elgarbly hält das Projekt für rentabel, allerdings unter zwei Bedingungen: „Die Sicherheit muss gewährleistet sein, vor allem darf die Bahn nicht Ziel von Selbstmordanschlägen werden. Und die Strecke muss so verlaufen, dass sie möglichst viele Einwohner bedient – wir rechnen mit 150 000 Fahrgästen pro Tag. Deshalb fährt sie durch jüdische Wohngebiete (das ist die politisch korrekte Bezeichnung für die Siedlungen in Ostjerusalem) wie Pisgat Zeev und arabische Gebiete wie Shuafat. Heute bestehen dafür zwei getrennte Autobusverbindungen, aber für zwei Straßenbahnen hat Jerusalem nicht genug Raum. Wir bauen jetzt eine Straßenbahn für Friedenszeiten.“
Natürlich wurden gegen dieses Projekt zahllose Bedenken geltend gemacht, aus den Reihen der Politik, aber auch von Stadtplanern. Der wichtigste Einwand: Die Trasse verdrängt zum Teil die Fernstraße Nr. 60. Damit wird nicht nur die Verbindung zwischen dem Norden und Süden des Westjordanlands unterbrochen, die Palästinenser verlieren auch eine wichtige Verkehrsader innerhalb der Stadt. „Wir werden unsere Dienste beiden Bevölkerungen Jerusalems anbieten“, versichert der Sprecher der Bahngesellschaft.
Aber Zweifel sind angebracht. So mag der geplante Fahrpreis von 5,80 Schekel (1,20 Euro) den Israelis angemessen erscheinen, für die Palästinenser jedoch, die jetzt für die Fahrt mit dem Kleinbus 3,50 Schekel zahlen, dürfte das teuer sein. Und wie werden sich wohl die Siedler unter den Fahrgästen verhalten, wenn Araber zusteigen? In einem Gespräch haben wir sogar den Vorschlag vernommen, abwechselnd Bahnen für die eine und die andere Gruppe fahren zu lassen.
An der Haltestelle Shuafat-Nord wollen die Planer einen „Pendlerparkplatz“ für jene einrichten, die mit dem Auto aus den Vorstädten kommen. Das sind hier allerdings überwiegend Palästinenser. Als wir mit dem israelischen Projektleiter im Allradfahrzeug die Strecke abfahren, will Schmulik Tsabari gar nicht gewusst haben, dass ein großer Teil der künftigen Kunden aus Ras Chamis und den Flüchtlingslagern von Shuafat und Anata kommen wird –also von jenseits des Sperrwalls. Derzeit gibt es hier einen Durchlass – aber wie lange noch? Schon jetzt wird dieser Checkpoint, vor allem in der Hauptverkehrszeit, immer wieder von der Armee geschlossen, damit die Siedler freie Fahrt haben.
Wer also soll hier sein Auto abstellen – sofern das Park-and-Ride-System überhaupt eingerichtet wird? „Der Baugrund – fünfzig Dunum, das entspricht fünf Hektar – gehört dutzenden palästinensischen Familien. Und die Gemeindeverwaltung blockiert die Verhandlungen“, erklärt der Rechtsanwalt Mahmud al-Maschni. „Dennoch will man versuchen, die Parzellen, die in einem Landschaftsschutzgebiet liegen, zu ‚Baugrundstücken‘ zu erklären. Die Stadt soll einen Teil bekommen, um Haltestelle und Parkplatz zu bauen, auf dem übrigen Gelände sollen die Eigentümer Wohnhäuser und ein Einkaufszentrum bauen dürfen. Aber die haben nicht einmal das Geld, um die deutlich höheren Steuern auf Bauerwartungsland zu zahlen. Nach den gesetzlichen Vorschriften bekämen sie im Fall der Enteignung 60 Prozent des Grundstückswerts – zurzeit macht man ihnen das großzügige Angebot von 25 Prozent!“
Nichts ist geklärt. Viele schließen daraus, dass die Bahnen beim ersten Zwischenfall nicht mehr in Shuafat halten werden, Sicherheit verpflichtet. Beziehungsweise werde die Trasse entlang einer besser gesicherten „Umgehungsroute“ verlaufen. Dabei muss man aber bedenken, dass für die schon gebaute Infrastruktur bereits erhebliche Kosten entstanden sind.
Der wesentliche Punkt liegt jedoch woanders: Nach internationalem Recht ist die geplante Streckenführung illegal. Indem sie das Zentrum Westjerusalems mit den israelischen Siedlungen in Ostjerusalem verbindet (zunächst mit French Hill und Pisgat Zeev, dann mit Neve Yakoov und nach Fertigstellung der acht geplanten Linien mit vielen anderen Siedlungen) unterstützt diese Straßenbahn die israelische Siedlungspolitik.
Später Protest von palästinensischer Seite
Das grundsätzliche Verbot solcher Siedlungstätigkeit ist in der 4. Genfer Konvention (vom 12. August 1949) festgelegt und seither vom UNO-Sicherheitsrat unzählige Male bestätigt worden – zuletzt in der Resolution 465 vom 1. März 1980: „Alle Maßnahmen, die Israel trifft, um den physischen Bestand, die Bevölkerungszusammensetzung, die institutionellen Strukturen oder den Status der palästinensischen Gebiete (…) einschließlich Jerusalems, oder Teile derselben zu verändern, sind rechtlich unwirksam.“ Die internationale Gemeinschaft dürfe daher „Israel keinerlei Unterstützung gewähren, die direkt den Siedlungen zugute kommt“.
Besser spät als nie: Nach langem Schweigen erhoben die Palästinenser Protest. Am 17. Oktober 2005 trug Präsident Mahmud Abbas das Problem seinem französischen Amtskollegen vor, dem die Sache deutlich unangenehm war. Vier Wochen später, nachdem die Vereinigung für französisch-palästinensische Solidarität (AFPS) eine breite Kampagne gegen das Straßenbahnprojekt gestartet hatte, versuchte Außenminister Philippe Douste-Blazy, in einem Brief an den AFPS-Vorsitzenden Bernard Ravenel, es möglichst allen Seiten recht zu machen: „Die Beteiligung privater Unternehmen an diesem Projekt, die aus einer internationalen Ausschreibung hervorgeht, sollte in keiner Weise als Zeichen eines Abrückens von der bekannten Haltung Frankreichs in der Jerusalemfrage verstanden werden.“
Der Minister betont, dass Paris nach wie vor den im Teilungsplan von 1947 vorgesehenen internationalen Status Jerusalems wünsche: „Frankreich und die Europäische Union haben seit langem eine klare Position bezogen: Die Siedlungsaktivitäten Israels in den seit 1967 besetzten Gebieten sind illegal, und der Verlauf des Sicherheitswalls, den Israel jetzt baut, verstößt gegen internationales Recht.“1
Dem damaligen palästinensischen Außenminister Nasser al-Kidwa war diese Klarstellung nicht genug. Er machte in einem Brief vom 6. Januar 2006 den Generaldirektor von Alstom, Patrick Kron, darauf aufmerksam, dass die Beteiligung des Unternehmens an dem Projekt „nicht nur eine wirtschaftliche Angelegenheit ist, sondern zugleich eine sehr weit gehende Unterstützung Israels bei der Verfolgung seiner illegalen Siedlungspolitik in und um Ostjerusalem bedeutet und als Beitrag zu deren Legitimierung gesehen werden muss“.
Dies widerspreche „den von Frankreich seit langem vertretenen Grundsatzpositionen“. Ähnliches hörten wir auch in Jerusalem von Fuad Hallak und Wassim H. Chasmo, die der PLO-Verhandlungsdelegation angehören: „Letztlich wird diese Straßenbahn Westjerusalem mit allen jüdischen Siedlungen in Ostjerusalem verbinden und damit zur Festschreibung der Besatzung beitragen. Aber ohne Ostjerusalem kann es keinen palästinensischen Staat geben.“
Inzwischen hat auch die Arabische Liga reagiert. Auf ihrem Gipfel in Khartum im März 2006 „verurteilte“ sie den „illegalen“ Bau der Bahnlinie und drohte Alstom und Connex mit „Maßnahmen“, falls sich die Unternehmen nicht „umgehend zurückziehen“. Die „befreundete französische Regierung“ wurde aufgefordert, „zu diesem Problem eine Haltung zu zeigen, die mit ihren Verpflichtungen und dem internationalen Recht übereinstimmt“.
Noch nie gab es eine so deutliche Diskrepanz zwischen den offiziellen und inoffiziellen Äußerungen der französischen Diplomatie. „Business is business“, meinte der Wirtschaftsattaché der französischen Botschaft in Tel Aviv.2 Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Zumal die Baumeister des Straßenbahnprojekts in Jerusalem (Auftragsvolumen 400 Millionen Euro) – zu Unrecht, wie man am 31. Dezember 2006 erfuhr – damit rechneten, mit dem Bau einer U-Bahn in Tel Aviv beauftragt zu werden (Auftragsvolumen: eine Milliarde).
Doch es gibt immer noch das Gesetz: „Jeder Staat muss sich für die Handlungen der großen Unternehmen seines Landes verantworten, wenn er nicht alles unternommen hat, um sie von Verstößen gegen internationales Recht abzuhalten“, erklärt die Juristin Monique Chemillier-Gendreau. Das wusste natürlich auch ein Vertreter des französischen Konsulats in Jerusalem, als er uns versicherte, weder Alstom noch Connex seien von der französischen Gesellschaft für Auslandshilfe (Coface) durch Kredite oder Investitionsgarantien unterstützt worden.
Ein Diplomat in Paris wird, unter dem Schutz der Anonymität, etwas deutlicher: Das Außenministerium habe „die Unternehmen stets davon abbringen wollen, an diesem Projekt teilzunehmen“. Mag sein – aber wieso war dann bei der offiziellen Vertragsunterzeichnung im Büro von Ministerpräsident Ariel Scharon auch der französische Botschafter Gérard Araud anwesend? Darauf weiß ein anderer Diplomat eine Antwort. Er bestätigt, dass der Außenminister „immer wieder deutliche Vorbehalte gegen die Beteiligung französischer Unternehmen“ geäußert habe, und zwar wegen der möglichen Konflikte vor Ort: „Es könnte daraus eine Krise vom Ausmaß des Karikaturenstreits entstehen.“ Außerdem verletze Frankreich damit internationales Recht. „Das wird die Straßenbahn der Apartheid.“ Selbst die Experten, die mit der Beratung von Alstom und Connex betraut waren, hätten „Zweifel“ geäußert – das bestätigen auch die jüngsten Reaktionen aus beiden Firmen.3
Dennoch wurde der Deal gemacht. Unser Diplomat sieht die Gründe im politischen „Klima der Jahre 2004–2005, als die Versöhnung mit Tel Aviv anstand“. Natürlich dürfe das nicht ein „Freibrief für jede Art von Idiotie sein. Und diese Straßenbahn ist absoluter Schwachsinn!“ Die persönliche Haltung des damaligen Botschafters Gérard Araud habe dabei eine große Rolle gespielt – er habe sich als „Architekt dieser politischen Wende verstanden. Es war sicherlich seine Idee, bei der Vertragsunterzeichnung dabei zu sein.“
Wenn die Straßenbahn eine gute Verkehrslösung im Interesse der Einwohner Jerusalems sein soll, warum hat die israelische Regierung dann das Projekt nicht mit den palästinensischen Behörden erörtert? Dass sie es nicht einmal versucht hat, bringt sie in den Verdacht, darin nur ein neues Mittel zur lokalen und internationalen Stützung ihrer Politik der Besatzung, Besiedlung und Annektion zu sehen. So ist die Abbildung Herzls auf der Werbetafel für die Straßenbahn wohl ein Lapsus: Künder der Moderne heißt es – aber kennt man ihn nicht vor allem als Begründer des Zionismus?
Fußnoten: