09.02.2007

Mord am Dakar-Niger-Express

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Mord am Dakar-Niger-Express

Folgen einer Privatisierung im Senegal von Vincent Munié

Ein Jahrhundert, nachdem die Weißen die Direktionsgebäude des berühmten Dakar–Niger-Expresses in Thiès bauen ließen, sitzen in den Räumen nun andere Weiße, diesmal Kanadier. Die Züge sind noch nie so schlecht gefahren. Die Schienen wurden seit ihrer Verlegung nicht ein einziges Mal erneuert. Die Bettung hält nicht mehr, die Schwellenschrauben haben sich gelöst, zahlreiche Schwellen sind geborsten, vor allem aber „knicken“ die Schienen. Das heißt, sie dehnen sich hitzebedingt so stark aus, dass sie sich wellen und aus ihren Bundmuttern lösen.

Infolgedessen entgleisen Züge. Kein Tag, an dem sich nicht ein Drehgestell querlegt, eine Lokomotive aus den Schienen springt, sich eine Weiche nicht stellen oder eine Zisterne nicht öffnen lässt. Die Spitzengeschwindigkeit des Zugs liegt bei 30 Stundenkilometern, aber nur auf dem kurzen Abschnitt zwischen Guinguinéo und Thiès. Für die 160 Kilometer lange Strecke von Tambacounda bis nach Kidira braucht er schon 16 Stunden.

Die Sitze sind zerschlissen; es gibt keine Toiletten; die Hitze steigt auf 45 bis 48 Grad. Alle haben Durst. Zudem geschieht es gar nicht so selten, dass ein Zug entgleist. Deshalb muss man stets rund zwölf Stunden zusätzlich einzukalkulieren – die Zeit nämlich, die das Aufgleisungsteam braucht, um die Waggons wieder auf die Schienen zu setzen, mit einfachen Wagenhebern.

Dabei haben die Passagiere viel bezahlt: Ein Sitzplatz kostet 35 000 afrikanische Francs, rund 55 Euro. Während der drei Reisetage wird der Zug von der diskreten Gesellschaft der Schwarzfahrer bevölkert. An jedem Bahnhof springen sie ab, bevor der Zug hält, und springen erst nach der Abfahrt wieder auf. Der Vorteil: Es ist kostenlos. Der Nachteil: Es ist extrem gefährlich.

Dakar, im Dezember 2006. Beim „Treffen der Eisenbahnen Afrikas“ kamen afrikanische Gewerkschaften zusammen, die gegen die Privatisierungen der Bahn überall auf dem Kontinent kämpfen. Die Eisenbahner der Linie Dakar–Bamako stehen dabei in vorderster Front – seit 2003 bekämpfen sie die französisch-kanadische Bahngesellschaft Transrail, an die ihre historische Strecke verkauft wurde.

Die Politik der neuen Eigentümerin ist eine Katastrophe für Land und Leute: Der Personenverkehr wurde vernachlässigt, Lohnniveau und Sozialleistungen gesenkt, 632 Arbeitsplätze abgebaut, die Gewerkschaften unterdrückt, zugesagte Investitionen nicht getätigt. Gegen die Streiks und Demonstrationen im März und Juli 2006 wurde mit Aussperrungen, Entlassungen, Drohungen hart durchgegriffen. 21 senegalesische und malische Eisenbahner, darunter der Gewerkschaftsführer Pierre Ndoye aus Dakar, konnten die Arbeit bisher nicht wiederaufnehmen.

Die Geschäftsführung von Transrail versuchte vergeblich, sich die unterschiedliche Gesetzeslage in Senegal und Mali zunutze zu machen, um die Arbeiter zu spalten. Doch der Verband der senegalesischen Eisenbahner (Fetrail) und die Gewerkschaft der Eisenbahner Malis (Sytrail) schlossen sich zu einem Bündnis für die Rückgabe und Weiterentwicklung des Schienennetzes (Cocidirail) zusammen.1

Kurz vor der senegalesischen Präsidentschaftswahl am 25. Februar, bei der sich der 80-jährige Abdoulaye Wade um eine zweite Amtszeit bewirbt, ist „der Zug“ wieder zu einem Politikum geworden. Gewerkschafter monieren die „kolossalen Profite“ der Transrail und die Selbstherrlichkeit der weißen Ausländer in den Direktionsbüros. Der Regierung werfen sie vor, „vor denen in die Knie zu gehen“. Die Parteien stehen unter Zugzwang und konkurrieren mit Entwicklungsplänen.2 Der senegalesische Minister für Infrastruktur, öffentliche Arbeiten und Transport, Habib Sy, initiierte eine Prüfung, um „langfristige Lösungen zu finden, die in der Lage sind, aus der Bahn einen Motor der wirtschaftlichen Entwicklung zu machen“3 .

Nur noch wenige Züge fahren auf der Strecke Dakar–Niger. Die Zeit kolonialer Pracht ist vorbei für die 1 259 Kilometer lange Schmalspurbahn, die die senegalesische Hauptstadt via Bamako mit Koulikoro in Mali verbindet. Abgesehen von einem täglichen Güterzug macht sich der berühmte Dakar–Niger-Express heute nur noch einmal in der Woche auf den Weg – und das jedes Mal mit ein paar Tagen Verspätung. Er durchquert eine Welt aus verfallenen Waggons, stillgelegten Bahnhöfen und kaputten Lokomotiven. Jeder Aufenthalt dauert mehrere Stunden. Als die Bahn 2003 privatisiert wurde, hatte der Staat seit Jahren nichts mehr in das Schienennetz investiert. Pierre Ndoye, der entlassene Führer der Gewerkschaft Fetrail, fragt, „ob nicht absichtlich alles der Verwahrlosung preisgegeben wurde, um die Privatisierung unumgänglich zu machen“.

Mit dem Verfall der Bahn geraten viele ins Abseits: die Händler der informellen Märkte um die Bahnhöfe herum, die Landfrauen, die ihre Produkte mit dem Zug auf die Märkte brachten, und natürlich die Eisenbahner.

Vom Kriegsinstrument zum Wirtschaftsmotor

Um 1870 propagierte Louis Faidherbe, der Gouverneur der französischen Kolonie Senegal, eine transsaharische Eisenbahnlinie. Diese Bahn, ein Produkt der imperialen Interessen Frankreichs, hatte zunächst einen strategischen Zweck: als Truppentransportmittel. Der erste Streckenabschnitt von Dakar bis Saint-Louis, der Ende des 19. Jahrhunderts vollendet wurde, ermöglichte die endgültige Niederschlagung des Aufstands von Lat-Dior im Kajoor. Die transsaharische Bahn sollte auch der kolonialen Expansion der Briten dienen, die in Sierra Leone, Liberia und Nigeria saßen. Fertiggestellt wurde sie 1923 unter äußerst schwierigen Arbeitsbedingungen – von burkinischen Arbeitern, die wie Sklaven gehalten wurden.

Es gab auch noch einen ökonomischen Zweck: Die tief ins Landesinnere reichende Verkehrsverbindung ermöglichte es, Rohstoffe zum Hafen von Dakar zu befördern. Die Strecke nach Kaolack war für Erdnüsse gedacht. Wirtschaftliche Beziehungen wurden auch zwischen entlegenen Gebieten möglich. Da die Bahn alle möglichen Geschäfte an die Bahnhöfe zog, konnten die Regionen tatsächlich unmittelbar von einem sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung profitieren. 1940 war der Dakar–Niger-Express ein florierendes Geschäft, die Speerspitze des Baumwoll- und Erzhandels in Französisch-Westafrika: 1946 arbeiteten 8 000 Eisenbahner über die gesamte Strecke verteilt.

Der Eisenbahnbetrieb wurde nach kolonialen Grundsätzen organisiert; Weiße konnten für die gleiche Tätigkeit das Doppelte verdienen wie Schwarze. Deren armselige Behausungen waren nicht zu vergleichen mit den Dienstvillen der Toubabs – so der Wolof-Ausdruck für Weiße – in der Ballabey-Siedlung von Thiès, dem Hauptdepot des Netzes. Dort formierte sich um 1930 die „Gewerkschaft der eingeborenen Arbeiter der Dakar–Niger-Linie“ (STIDN).

Der Zorn entlud sich sich erstmals 1938, dann noch einmal 1946. Ein am 21. Oktober 1947 begonnener Streik legte für sechs Monate das gesamte Bahnnetz lahm. Die Beschäftigten forderten lediglich „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“. In Französisch-Westafrika, wo politische Parteien bis 1954 verboten waren, bedeutete für Senegalesen und Malier diese schlichte Forderung einen ersten Schritt auf dem Weg in die Unabhängigkeit.4 Die Streikenden erhielten breite und organisierte Unterstützung – nach sechs Monaten musste die französische Bahndirektion den Forderungen nachgeben.

Aus dem Vehikel der französischen Kolonialträume wurde der Schrittmacher für die Unabhängigkeit eines Volkes. Die Eisenbahn war von da an senegalesisch und malisch und sollte im Dienst der Bevölkerung und ihres Wohls stehen. Im Jahr 1960 erklärte Leopold Senghor, der Präsident des unabhängigen Senegal, Zugverbindungen zur öffentlichen Aufgabe.

Nach 1980 aber begann der allmähliche Verfall: Es wurde nicht mehr investiert. Durch die Konkurrenz der Lastwagen stand die Rentabilität der Bahn in Frage. 2003 stimmen die Regierungen von Mali und Senegal der von der Weltbank geforderten Privatisierung zu. Nach erfolgter Ausschreibung erwarb das französisch-kanadische Konsortium Canac-Getma die Konzession für 25 Jahre; damit verbunden war die Verpflichtung, den Reiseverkehr aufrechtzuerhalten. Die neuen Besitzer gründeten die Transrail und entließen umgehend 632 Eisenbahner, schlossen zwölf Bahnhöfe und entzogen den Anwohnern damit die Existenzgrundlage. Da sich die Profitabilität des Verkehrsmittels auf diese Weise erhöht hatte, hatten es die Konzessionäre mit weiteren Investitionen nicht mehr eilig. Für die Erneuerung der Maschinen oder die Instandsetzung der Gleise in den höher gelegenen Regionen gaben sie – anders als vor der Privatisierung angekündigt – kaum etwas aus.

Seither schreiben es die Lokomotivführer einer „Glückssträhne“ oder einem „Wunder“ zu, wenn eine Fahrt ohne Zwischenfall verläuft. Dennoch schafft es jeden Tag ein Zug mit 1 000 Tonnen Fracht durch das marode Netz. So werden rund 360 000 Tonnen im Jahr befördert, und das von Transrail gesteckte Ziel von 380 000 Tonnen wird nur knapp verfehlt. Ein Zug am Tag genügt also, egal wie schnell er fährt. Die Rentabilität des Unternehmens ergibt sich aus einer einfachen Gleichung: Monopol + moderate Ziele + minimale Investitionen + branchenübliche Sozialpolitik = ein gewisser Ertrag.5

Auch die Bahnen anderer westafrikanischer Staaten wurden privatisiert: Elfenbeinküste und Burkina Faso (Sitarail, Bolloré-Gruppe), Kamerun (Camrail, Bolloré-Gruppe), Gabun (Setrag, Eramet-Gruppe) und Togo (Togorail, West African Cement – Wacem). Canac-Getma hat eine gute strategische Ausgangsposition für die Gründung einer transafrikanischen Eisenbahn (das Projekt Africarail).

Vielleicht lässt sich eines Tages in Richtung Niger ein neues Eldorado finden? Spekulieren kostet nichts. Und dann könnte man aus dem Transport von Erz zur Küste Kapital schlagen und die Investitionen der Canac-Getma hätten sich wirklich gelohnt.

Um der untragbaren Situation ein Ende zu machen, haben Cocidirail und die westafrikanischen Aktivisten auf dem Weltsozialforum im Januar 2006 in Bamako die Wiederverstaatlichung gefordert.6 Denn wenn nichts geschieht, wird der „Express“ über kurz oder lang verschwinden.

Mit diesem Problem hat nicht nur der schwarze Kontinent zu kämpfen. Solche Forderungen werden auch in Europa erhoben. Der Unterschied: Afrika bleibt der Kontinent der alten Pfründe und der organisierten Plünderung. Man stelle sich einmal vor, eine internationale Institution würde die Privatisierung der Strecke zwischen Nantes und Toulouse fordern und dem Käufer selbst dann freie Hand lassen, wenn seine Geschäftsstrategie den Interessen der Bevölkerung und denen der Nation zuwiderliefe. Was würde man sagen, wenn ein chinesisches Unternehmen die Konzession bekäme und jedes Gespräch mit den Gewerkschaften ablehnte?

In unserem Fall hat sich ein kanadischer Investmentfonds eine Geldanlage mit 25-jähriger Laufzeit gesichert und – mithilfe der Weltbank, im Einvernehmen mit der senegalesischen Regierung von Abdoulaye Wade und der malischen Regierung von Amadou Toumani Touré – ein Schienennetz unter den Nagel gerissen, das im Prinzip wirtschaftlich gesund und der Stolz zweier Nationen war. Bislang haben es die Regierungen von Senegal und Mali aber unterlassen, Transrail an ihre Verpflichtungen zu erinnern.

Fußnoten:

1 www.cocidirail.info. 2 Vgl.: Le Quotidien, Dakar, 4. Dezember 2006. 3 Walfadjri, Dakar, 7. Dezember 2006 4 Vgl. Ousmane Sembène, „Gottes Holzstücke“. Roman aus Senegal und Mali (von 1960), Frankfurt am Main (Lembeck) 1988. 5 Cocidirail spricht von einer Milliarde CFA-Francs – 1,5 Millionen Euro – Gewinn pro Monat. 6 www.fsmmali.org/article148.html?lang=fr. Aus dem Französischen von Bettina Engels Vincent Munié ist Dokumentarfilmer und Autor von „La voie est libre“ (Der Weg ist frei), einer Produktion von France 3 und Les Poissons volants, 2006.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2007, von Vincent Munié