09.02.2007

Pakistan steht vor der Wahl

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Pakistan steht vor der Wahl

Präsident Musharraf will den Bruch mit den Islamisten nicht wagen von Jean-Luc Racine

In Pakistan ist 2007 ein Wahljahr. Die Amtszeit von Präsident Pervez Musharraf läuft im Herbst aus, gleichzeitig sind das nationale Parlament und die Provinzversammlungen neu zu wählen.

Wie demokratisch diese Wahlen immer sein mögen, das dreifache Plebiszit wirft die grundlegende Frage nach dem Umgang der Militärregierung mit der parlamentarischen Opposition auf. Ist es nicht an der Zeit, dass der Staatschef, falls er denn wiedergewählt wird, die Uniform des Generalstabschefs der Streitkräfte ablegt und die demokratische Opposition rehabilitiert, deren Führer alle im Exil sind?

Hinzu kommt, dass zur Opposition im Parlament auch die Kräfte des politischen Islam gehören, die als Fassade eines bewaffneten radikalen Islamismus fungieren. Dieser wurde, nachdem die Militärs ihn lange Zeit instrumentalisiert hatten, zur Zielscheibe der präsidialen Rhetorik, da General Musharraf seit Jahren für eine „aufgeklärte Mäßigung“ im Dienste eines „fortschrittlichen und dynamischen islamischen Staates“ plädiert.

Dies führt zu einer zweiten Frage: Wie wird sich das komplizierte Verhältnis zwischen den Mullahs und der Armee weiterentwickeln? Davon hängt sehr viel ab, denn die radikalen pakistanischen Islamisten agieren im unterschiedliche Maße sowohl im Kaschmir als auch in den Stammesgebieten entlang der afghanischen Grenze, wo die Taliban wieder erstarken.

Die jüngsten Zusammenstöße in Belutschistan machen zweierlei deutlich: Islamabad fällt es schwer, die Ungleichheiten zwischen den Provinzen auszugleichen. Auch das Spannungsverhältnis zwischen innenpolitischen Gegebenheiten und regionalen Projekten ist ein heikler Punkt. Die größten Hürden gibt es bei den Plänen für eine transnationale, über Iran und Afghanistan führende Gaspipeline sowie beim neuen Tiefwasserhafen von Gwadar im Südwesten des Landes, der Chinas Tor zum Indischen Ozean werden soll.

Über all dem lastet der Schatten Washingtons, das ständig Musharrafs herausragende Rolle im „Krieg gegen den Terror“ hervorhebt, diesen aber auch drängt, entschiedener gegen al-Qaida und die Taliban vorzugehen.

Wegen dieser inneren und äußeren Herausforderungen lehnen General Musharraf und viele seiner Gefolgsleute eine Trennung von ziviler und militärischer Macht ab: Der Präsidenten-General sei der rechte Mann am rechten Platz, denn nur die Armee könne die Lage in den Griff bekommen. Diese Sicht wird von manchen ausländischen Politikern geteilt. Doch für die kleine antiislamistische Gruppe der pakistanischen Liberalen, die für eine wirkliche parlamentarischen Demokratie kämpft, ist die Armee nicht nur ungeeignet, die Probleme zu lösen, sie verhindert sogar jede Lösung.

Der afghanische Widerstand gegen die sowjetische Okkupation und später die Rebellenbewegung im Kaschmir waren für Pakistan die Chance, eine aktivere Rolle in der Region zu spielen, um nicht zwischen Indien und Afghanistan eingeklemmt zu werden. Als „Frontstaat“ zur UdSSR gestattete Pakistan den USA, den afghanischen Widerstand wirksam zu unterstützen. Als diese Gruppen begannen, sich nach dem Sieg über die Sowjets 1989 zu befehden, unterstützte Islamabad den Paschtunen Gulbuddin Hekmatjar gegen die proindischen Tadschiken von Ahmed Schah Massud. Die Förderung der Taliban, die 1996 in Kabul an die Macht kamen, öffnete Pakistan neue Perspektiven. Zur selben Zeit konnten die pakistanischen Geheimdienste mit der Entsendung von Kämpfern des pakistanischen Dschihad die Rebellion im Kaschmir anheizen und damit einen beträchtlichen Teil der indischen Streitkräfte in einen „schmutzigen Krieg“ hineinziehen.

Der 11. September 2001 durchkreuzte diese Strategie, die auf einer zweifachen Instrumentalisierung des radikalen Islam beruhte. General Musharraf begriff schnell, was in Afghanistan auf dem Spiel stand und wie riskant es wäre, sich der Regierung Bush entgegenzustellen (siehe Kasten). Er schloss sich also dem „Krieg gegen den Terror“ an und ließ die Taliban fallen, die sich weigerten, Ussama Bin Laden auszuweisen oder gar auszuliefern. Er bildete seinen Generalstab um, verurteilte den Extremismus und ließ in den folgenden Jahren hunderte von Al-Qaida-Kämpfern festsetzen. Die USA konnten führende Mitglieder fassen, darunter Khalid Scheich Mohammed, den mutmaßlichen Organisator des 11. September.

2004 erhob George W. Bush Pakistan in den Rang eines „Hauptverbündeten außerhalb der Nato“. Zugleich erwartete die US-Regierung von Islamabad noch mehr Beistand, nicht nur bei der Jagd auf Bin Laden und Mullah Mohammed Omar, den Kopf der Taliban. Washington wie Afghanistans Präsident Hamid Karsai sprechen von einem Zusammenhang zwischen den mangelnden Erfolgen der Operation „Enduring Freedom“ und der Durchlässigkeit der langen und gebirgigen (übrigens von Kabul nie anerkannten) pakistanisch-afghanischen Grenze.

General Musharraf entschloss sich 2004 zu einer Militäroffensive im südlichen Waziristan, einem der pakistanischen „Stammesgebiete unter Bundesverwaltung“ (Federally Administered Tribal Area, Fata). Die Operation entwickelte sich zu einem Guerillakrieg zwischen der 80 000 Mann starken Bundesarmee, die 800 Gefallene zu beklagen hatte, und verschiedenen Milizgruppen (afghanische Taliban, Neo-Taliban der pakistanischen Stämme, ausländische Kämpfer aus dem Dunstkreis der al-Qaida). Die Abkommen, die 2004 und 2005 zwischen der Regierung und den Stammesführern in Südwaziristan, später auch in Nordwaziristan geschlossen wurden, konnten den Konfliktherd nicht befrieden.

Im Streit um die über die pakistanische Grenze – aus den Stammesgebieten und aus Belutschistan – einsickernden Kämpfer verschärft sich der Ton zwischen Islamabad und Kabul. Auch die US-Armee stellt fest, dass die Taliban im Südosten Afghanistans wieder stärker werden, obwohl die Nato zusätzliche Einheiten in die Grenzbezirke geschickt hat1 . Inzwischen befürchten Washington und die Nato sogar eine „Frühjahrsoffensive“ der Taliban.

Auch in Pakistan wird die fortschreitende Radikalisierung der Stammesgebiete mit Unruhe beobachtet. Das Regime, das einerseits den Druck aus Washington, andererseits eine stark antiamerikanische Stimmung im Lande verspürt, hat an den Kosten seiner repressiven Politik in den Stammesgebieten schwer zu tragen. Die ziemlich erfolglosen Operationen sind zuweilen sehr umstritten, so etwa der Luftangriff vom 30. Oktober 2006 auf das Stammesgebiet von Bajaur (achtzig Tote in einer Madrasse)2 , ausgerechnet am Tag einer vereinbarten Verhandlungsrunde. Die Vergeltung kam am 8. November, als bei einem Selbstmordattentat in einer Kaserne der unter Bundesverwaltung stehenden Nordostprovinz fünfunddreißig junge Rekruten starben.

Die Regierung ist bei ihren Verhandlungen mit den Stammesführern auf die Vermittlung der islamistischen Parteien angewiesen, insbesondere auf die Jamaat-e-Ulema-e-Islami (Gemeinschaft Islamischer Gelehrter) von Fazlur Rahman, der Oppositionsführer im Parlament und bekennender Taliban-Sympathisant ist. Die Gewalt gegen pakistanische Bürger schadet dem Ansehen der Regierung und bleibt zudem wirkungslos gegen die Talibanisierung der Stammesgebiete. Es ist zu befürchten, dass sie auch die grenznahe Nordwestprovinz erfasst, wo die Islamisten der Muttahida Majlis-e-Amal (Vereinigte Aktionsfront, MMA) regieren.

Die Krise in Belutschistan hat ebenfalls mit der Stammesproblematik zu tun, unterliegt aber einer anderen Logik. Die Provinz ist die größte und am dünnsten besiedelte Region Pakistans. Sie liefert einen Großteil des im Lande geförderten Erdgases, doch sie fühlt sich von der Zentralregierung und dem reichen Punjab ausgebeutet. Wiederholt kam es in Belutschistan zu Aufständen (1958 bis 1960, 1973 bis 1977), die blutig niedergeschlagen wurden.3 Der 2002 begonnene Bau des Öl- und Containerhafens von Gwadar und mehrerer zusätzlicher Garnisonen heizte die Verbitterung der autonomistischen Organisationen an. Diesen schlossen sich auch die Führer großer Stämme an, die früher zu den Hauptstützen des pakistanischen Regimes gezählt hatten.

Die Tötung des zu den Rebellen übergelaufenen früheren Gouverneurs Nawab Akbar Khan Bugti am 26. August 2006 war für Islamabad womöglich ein Pyrrhussieg, da sie nicht nur die Aufständischen (wie die Befreiungsarmee Belutschistans), sondern auch die politischen Belutschenparteien radikalisierte, die eine größere Autonomie der Provinz anstreben.

Zurzeit behindert die Belutschistanfrage auch die großen Projekte, die Pakistan wirtschaftlich voranbringen sollen, also den Hafenbau in Gwadar, wo chinesische Ingenieure entführt wurden, und die Pläne für eine Gaspipeline, die von Iran über Pakistan nach Indien führen soll.

1999 brach General Musharraf an der Waffenstillstandslinie zwischen den beiden Teilen Kaschmirs im Bezirk Kargil einen Krieg vom Zaun, womit er die zwischen Neu-Delhi und Islamabad begonnenen Gespräche platzen ließ. Es war der erste offene – wenngleich begrenzte – Krieg zwischen zwei neuen Atommächten. Nach dem gescheiterten Gipfeltreffen in Agra im Juli 2001 und dem Terroranschlag auf das indische Parlament im darauf folgenden Dezember herrschte zehn Monate lang erneut eine akute Kriegsgefahr.

Zwar hat General Musharraf im Januar 2002 in einer „historischen“ Rede den Dschihad verurteilt, doch die seit langem aufgebaute Infrastruktur des Geheimdienstes ISI (Inter-Services Intelligence), die der subversiven Intervention im indischen Teil Kaschmirs diente, wollte er nicht antasten. Zum Hauptinstrument des Geheimdienstes wurden dabei die beiden Gruppen Lashkar-e-Taiba (bewaffneter Arm der mächtigen Markaz-Dawa-al-Irshad, die sich nach ihrem Verbot in Jamaat-ud-Dawa umbenannte) und Jaish-e-Muhammad.

Doch Pakistans Spielraum wurde zunehmend enger: Nach dem 11. September war es Delhi ein Leichtes, Islamabad den Vorwurf zu machen, dass es in Kaschmir mit Mitteln des „grenzüberschreitenden Terrorismus“ einen Stellvertreterkrieg führt. Nach fast fünfzehn Jahren Kaschmiraufstand war auch offensichtlich, dass Indien sich keine militärische Lösung aufzwingen ließ. General Musharraf schlug deshalb 2003 vor, entgegen der alten pakistanischen Politik „die Resolutionen der Vereinten Nationen beiseite zu lassen“, die eine Referendumslösung der Kaschmirfrage forderten. Stattdessen dringt er auf einen „komplexen“ Dialog, bei dem alle indisch-pakistanischen Streitigkeiten auf den Tisch kommen sollen. Das erboste eine im Dunstkreis von al-Qaida angesiedelte und von einigen Unteroffizieren unterstützte Gruppe der Dschihadisten. Im Dezember 2003 entging der pakistanische Präsident nur knapp zwei Attentaten. Im Februar 2004 wurden nach sorgfältiger Vorbereitung die Gespräche mit Indien wieder aufgenommen, die seit 2005 als „irreversibel“ gelten.

Taktische Spiele in der Kaschmirfrage

Eine schnelle, vertraglich abgesicherte Lösung der Kaschmirfrage ist gleichwohl nicht zu erwarten. Indien würde vielleicht eine Festschreibung des Status quo akzeptieren, lehnt aber jegliche Neuaufteilung ab, die das Tal von Srinagar ganz oder teilweise pakistanischer Kontrolle oder einem gemeinsamen Mandat unterstellen würde. Islamabad hingegen plädiert für ein beiderseitiges Nachgeben, will aber immer noch nicht die Waffenstillstandslinie anerkennen, die ein Ergebnis der Kriege von 1948, 1965 und 1971 ist.

Die mögliche Lösung wäre eine größere Autonomie des indischen Teils Kaschmirs, begleitet vom einer wesentlichen Truppenreduzierung nach Abzug der Dschihadisten, freiem Straßenverkehr über die Waffenstillstandslinie und sogar gemeinsame Konsultationsorgane im indischen und im pakistanischen Kaschmir. Heimliche Verhandlungen laufen mit den kaschmirischen Separatisten der Hurriyat Conference und sogar mit einer kaschmirischen Untergruppe der Hisb-ul-Mudschaheddin. Die schweren Attentate von Bombay im Juli 2006 (mit 100 Toten) zeigen, dass der terroristische Druck den indisch-pakistanischen Dialog zwar belasten, aber nicht beenden kann.

In Kaschmir überrascht General Musharraf immer wieder mit neuen Vorschlägen. Doch sein Aktivismus kann die Besorgnis in Neu-Delhi, Washington und Kabul nicht zerstreuen, wo man sich fragt, wie eng die Beziehungen zwischen Generalstab, Geheimdiensten und Extremistengruppen wirklich sind. Man zweifelt zwar nicht an der persönlichen Einstellung des Generals, wenn dieser von „bigotten Obskurantisten“ spricht, die „ein schlechtes Bild des Islam und Pakistans“ abgeben, man fragt sich aber immer öfter, ob er den politischen Willen und das nötige Durchsetzungsvermögen hat, um die Extremistengruppen zu zerschlagen.

Die Vermutung, dass Musharraf sich im Hinblick auf Kaschmir und Afghanistan einen Handlungsspielraum erhalten will, mag erklären, warum den Dschihadisten Zügel anlegt werden, ohne dass man sie verjagt. Der Druck der Taliban mag durchaus willkommen sein, wenn Islamabad registriert, wie Indien sich mit personalstarken Konsulaten und Entwicklungsprojekten in Afghanistan breitmacht. Das grundlegende Problem ist allerdings, dass der Extremismus nicht nur ein Exportprodukt ist.

Der radikale Islam hat Pakistan seit langem mit seinen Netzen überzogen. Er agiert in einem diffusen Umfeld an vielen Fronten: Sunnitische Milizen kämpfen gegen die schiitische Minderheit und greifen dabei auch deren Moscheen an; die Predigerbewegungen haben sich ein regelrechtes Imperium geschaffen und mobilisieren weiterhin für den Dschihad in Kaschmir; neue Kämpfergruppen werden von Leuten gegründet, die früher in Afghanistan waren und dort mit Al-Qaida-Gruppen in Berührung kamen; schließlich verüben die Terroristen, die nach der Wende von 2001 aus diesen Milieus kamen, auf pakistanischem Boden neue Anschläge, und zwar gegen Ausländer (2003 auf französische Ingenieure in Karatschi) wie gegen pakistanische Militärs. Bei Aiman al-Sawahiri, dem zweiten Mann der al-Qaida, steht Pakistans Präsident seit langem auf der Abschussliste.

Bei den Wahlen von 2002 behinderte und spaltete das Regime die Parteien der parlamentarischen Opposition (die Muslimliga von Nawaz Scharif und die Pakistanische Volkspartei von Benazir Bhutto). Dadurch wurde, vielleicht stärker als beabsichtigt, der Aufstieg der Islamisten der Muttahida Majlis-e-Amal (Bündnis Vereinigte Aktionsfront, MMA) gefördert, die heute in der Opposition sitzen. Die wichtigsten Gruppierungen der MMA sind die Jamaat-e-Islami unter Qasi Hussain, die in der Kaschmirfrage unnachgiebig ist, und die Jamaat-e-Ulema-e-Islami unter Fazlur Rahman, der bezüglich Kaschmir flexibler ist, aber mit den Taliban nicht brechen will. Die MMA regiert in der Nordwest-Grenzprovinz, in Belutschistan bildet sie mit der Pro-Musharraf-Fraktion der Muslimliga eine Koalition.

Jamaat-e-Islami wie auch Jamaat-e-Ulema-e-Islami predigen einen rigiden, rückwärtsgewandten Islam und widersetzen sich jeder Liberalisierung des Rechts. Was Letztere angeht, hat ihnen General Musharraf mehrfach nachgegeben. Doch im November 2006 ließ er ein „Gesetz zum Schutz der Frauen“ verabschieden, das die Vergewaltigungsprozesse der Zuständigkeit islamischer Gerichte entzieht (vor denen vier männliche Zeugen das Verbrechen zu bestätigen hatten) und sie an normale Strafgerichte überträgt. Mit dieser halbherzigen Maßnahme wird allerdings der repressive Apparat der vom früheren Militärdiktator Muhammed Zia-ul-Haq 1979 erlassenen „Hudud-Verordnungen“4 nicht völlig abschafft.

Unter Experten gehen die Ansichten sowohl zum bewaffneten Islamismus als auch zu den Verbindungen zwischen Armee und Mullahs auseinander. Manche werfen General Musharraf vor, schlicht ein doppeltes Spiel zu betreiben: Zwar verbiete er die Extremistengruppen, lasse aber ihre Neugründung zu. Zwar predige er „aufgeklärte Mäßigung“, aber mit der Reform der Madrassen komme er nicht voran; außerdem zeige er sich der MMA gegenüber kompromissbereit. Andere meinen, eine zu starke Betonung des Gewichts des radikalen Islam nütze dem Militär, das sich in Zeiten des „Krieges gegen den Terror“ als einzig mögliches Bollwerk gegen die Ultras präsentieren möchte.

Eine andere Schule meint dagegen, der Extremismus bestehe und verbreite sich nur deshalb, weil die Armee nicht entschlossen handle und ihr Chef ein „Meister der halbherzigen Maßnahmen und ein Atatürk der Armen“5 sei. Wieder andere meinen, nur General Musharraf und ein hinter ihm stehender Generalstab könne Pakistan aus den strukturellen Widersprüchen herausführen, in denen es seit fünfundzwanzig Jahren gefangen sei.

Im Juli 2006 forderte eine Gruppe von Persönlichkeiten, darunter Generäle der Reserve, die Trennung von militärischer und ziviler Macht: General Musharraf solle die Uniform ablegen, falls er sich wieder zur Wahl stellen wolle. Den Rat wird der Präsident kaum befolgen, denn nur an der Spitze der Militärhierarchie verfügt er über eine Hauptstütze der Macht, mit der er sich regelmäßig berät: die Konferenz der Befehlshaber des Armeekorps.

Die Armee bleibt in jedem Fall am Drücker

General Musharraf ist es gelungen, die großen politischen Kräfte, die das Land von 1988 bis 1999 regierten, zu spalten und eine Reihe von Gruppierungen hinter sich zu bringen, als da sind: ein beträchtlicher Teil der Muslimliga von Nawaz Scharif, Teile der Abgeordnetenfraktion der Pakistanischen Volkspartei von Benazir Bhutto, außerdem das im Sindh mächtige Muttahida Quami Movement, die Partei der Muhajir, der nach der Teilung aus Indien eingewanderten pakistanischen Bürger. Doch diese Koalition ist vor allem ein Zweckbündnis, und die Oppositionskräfte sind im Parlament keineswegs hoffnungslos in der Minderheit.

Die Presse arbeitet weitgehend unbeschränkt und mischt sich kräftig ein. Im Juli 2006 haben Benazir Bhutto und Nawaz Scharif, die sich einst spinnefeind waren, im Exil eine „Charta der Demokratie“ unterzeichnet.6 Doch die Chancen einer Opposition sind höchst ungewiss, zumal sie sich – nach einem Sieg über Musharraf – auch stets mit der Armee arrangieren müsste. Diese Ungewissheit ist ein Nährboden für Gerüchte. So wird behauptet – und sofort dementiert –, es gebe Absprachen zwischen dem heutigen Präsidenten und Benazir Bhutto, insgeheim sogar mit Fazlur Rahman, dem Führer der Jamaat-e-Ulema-e-Islami, was die islamistische Opposition im Parlament spalten würde.

Mit der Ankündigung, die Präsidentschaftswahl vor den Parlamentswahlen abzuhalten, gab die Regierung im Dezember 2006 ein klares Signal: Sein politisches Schicksal soll nicht von neuen Parlamenten entschieden werden. Das bedeutet, dass die drängenden Fragen – etwa nach der Aufwertung der Regionen und anderer Verfassungsreformen, die auch von der Regierung nicht verschwiegen und in der Presse diskutiert werden, womöglich einem „Pragmatismus“ geopfert werden, der die Armee in ihren Machtbefugnissen und Privilegien bestärkt.

Die Diskrepanz zwischen einer boomenden Wirtschaft (mit einem durchschnittlichen Wachstum von 7 Prozent zwischen 2004 und 2006) und dem ungewissen politischen Status quo spitzt sich also zu. Das Land mit seinen mittlerweile 160 Millionen Einwohnern hat die sozialen Belange viel zu lange vernachlässigt. Ein klares Symptom ist der Bankrott des staatlichen Unterrichtswesens7 , während das Wirtschaftswachstum dazu genutzt wird, die Militärausgaben (20 Prozent des Gesamtbudgets) stärker zu erhöhen als die Mittel für das Gesundheitswesen und die regionale Entwicklung.

Die Machtzirkel – Militärs, Technokraten, Großbürger – leben weit abgehoben vom einfachen Pakistaner. Zwar hat sich in einigen Bereichen (Alphabetisierung, Schulbesuch, Impfquote) der Sozialindex seit 2000 verbessert, doch in vielem bleibt das Land laut dem Weltbank-Länderbericht für 2006, „hinter Ländern mit einem vergleichbaren Pro-Kopf-Einkommen zurück“. Dies gilt vor allem für ländliche Gebiete.8 Auch die Opposition würde, wenn sie wieder ans Ruder gelangen sollte, die Politik der Liberalisierung nicht radikal ändern, obwohl diese nach demselben Weltbankbericht, „keine der Höhe des Wirtschaftswachstums entsprechende Sozialpolitik hervorgebracht hat“.

Fußnoten:

l Vgl. Syed Saleem Shahzad, „Die Rückkehr der Taliban“, Le Monde diplomatique, September 2006. 2 Koranschule. 3 Vgl. Selig S. Harrison, „Reiches Belutschistan, arme Belutschen“, Le Monde diplomatique, Oktober 2006. 4 Ergänzend zum bestehenden Gerichtswesen führte dieses Gesetz islamische Gerichte ein, die bei bestimmten Vergehen (insbesondere Ehebruch, Alkoholgenuss und Vergewaltigung) Strafen wie Auspeitschen, Amputation und Steinigung verhängen können. Nach diesem Gesetz kann eine Frau, die eine Vergewaltigung nicht nachweisen kann, des Ehebruchs angeklagt werden. 5 Hassan Abbas, „Pakistan’s Drift into Extremism. Allah, the Army, and America’s War on Terror“, M. E. Sharpe, Armonk, N. Y., 2004, S. 236. 6 Beide verpflichten sich, mit dem Militärregime keinen Kompromiss zu suchen und im Falle einer Rückkehr an die Macht die Verfassungsänderungen rückgängig zu machen, die General Musharrafs Machtstellung als Präsident gestärkt haben. 7 Vgl. William Dalrymple, „Was lehren Pakistans Koranschulen?“, Le Monde diplomatique, März 2006. 8 World Bank, Pakistan Country Overview 2006. Aus dem Französischen von Josef Winiger Jean-Luc Racine ist Forscher am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und am Centre d’étude de l’Inde et de l’Asie du Sud, EHESS. Er ist Mitautor von „Pakistan. Contours of State and Society“, Karatschi (Oxford University Press) 2002, und Autor von „Cachemire. Au péril de la guerre“, Paris (Autrement) 2002.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2007, von Jean-Luc Racine