09.02.2007

Selbstkritik und Mut zur Nähe

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Selbstkritik und Mut zur Nähe

von Kofi Annan

Die Strömungen im Bosporus sind stark und gefährlich. An der Oberfläche fließen sie von Nord nach Süd und am Boden der Meerenge in die Gegenrichtung. Doch über Jahrhunderte haben die Türken die Strömungen genutzt, um auf dieser Wasserstraße zwischen Europa und Asien, zwischen der islamischen Welt und dem Westen zu navigieren. Und sie haben es dabei zu Wohlstand gebracht. Deshalb empfinde ich es als besonders passend, dass wir gerade hier zusammenkommen, um den Bericht der High Level Group der Allianz der Kulturen vorzustellen.1 Und in der Tat: Wenn wir Brücken zwischen den Kulturen bauen wollen, dann machen wir den Anfang wohl am besten in der Stadt, die im Wortsinne eine Brücke zwischen den Kontinenten geschlagen hat.

Ich möchte den Ministerpräsidenten Tahip Erdogan und Rodriguez Zapatero meinen besonderen Dank aussprechen, dass sie diese Allianz der Kulturen initiiert und gefördert haben.2 Aber ich möchte auch allen Mitgliedern der High Level Group für die Zeit und Energie danken, die sie in den letzten zwölf Monaten für den Bericht erübrigt haben.

Der Bericht betont zu Recht, dass die bewusste Anerkennung von Unterschieden – der Ansichten, der Kultur, des Glaubens, der Lebensweise – seit jeher den Fortschritt der Menschheit beflügelt hat. Das erklärt zum Beispiel, warum in Europa die Iberische Halbinsel ausgerechnet während des „Dunklen Zeitalters“ eine Blütezeit erlebte, die auf dem Zusammenwirken muslimischer, christlicher und jüdischer Traditionen beruhte. In späteren Zeiten florierte das Osmanische Reich nicht nur dank seiner Armeen, sondern weil es zugleich ein Reich der Ideen war, in dem die muslimischen Künste und Techniken durch jüdische und christliche Einflüsse bereichert wurden.

Ein paar hundert Jahre später ist unser eigenes Zeitalter der Globalisierung traurigerweise durch wachsende Intoleranz, Extremismus und Gewalt gegen den anderen gekennzeichnet. Mehr Nähe und bessere Kommunikationswege haben oft nicht zu wechselseitigem Verstehen und zu Freundschaften geführt, sondern zu erhöhten Spannungen und zu gegenseitigem Misstrauen. Inzwischen empfinden viele Menschen, vor allem in den Entwicklungsländern, das „Global Village“ als Angriff auf ihre Kultur und als ökonomischen Druck. Durch die Globalisierung fühlen sie sich in ihren Werten und in ihrem Geldbeutel bedroht.

Die Anschläge vom 11. September 2001, Krieg und Aufruhr im Nahen und Mittleren Osten, aber auch unüberlegte Worte und Zeichnungen haben diese Wahrnehmung noch verstärkt und die Spannungen zwischen verschiedenen Völkern und Kulturen angeheizt. Das alles hat das Verhältnis zwischen den Anhängern der drei großen monotheistischen Religionen belastet.

Ausgerechnet heute, wo aufgrund der internationalen Migration häufiger denn je Menschen unterschiedlicher Konfession oder Kultur als Mitbürger zusammen leben, übernehmen viele die Vorurteile und Stereotype, die der Idee vom „Clash of Civilizations“ zugrunde liegen. Manche Gruppen scheinen einen neuen, diesmal globalen Religionskrieg vom Zaun brechen zu wollen – und ihnen macht es die mangelnde Sensibilität, ja der Hohn, den andere für ihren Glauben und ihre heiligen Symbole übrig haben, nur leichter.

Die Idee einer Allianz der Kulturen kommt also genau zum richtigen Zeitpunkt. Dabei ist diese Expertengruppe nicht in die Falle getappt, die angebliche Unterteilung der Welt in klar unterschiedene und getrennte „Kulturen“ zu akzeptieren. Diese Auffassung gilt zu Recht als anachronistisch. Wir leben heute eben nicht mehr in verschiedenen Kulturen, wie unsere Vorfahren das noch getan haben.

Migration, Integration und technologische Entwicklungen haben unterschiedliche Rassen, Kulturen und ethnische Gruppen enger zusammenrücken lassen, haben alte Barrieren beiseite geräumt und neue Realitäten geschaffen. Wir leben so nah beieinander wie nie zuvor, sind ständig unterschiedlichen Einflüssen und Ideen ausgesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Dämonisierung des „anderen“ nur der Weg des geringsten Widerstands ist. Stattdessen jedoch täte es uns besser, wenn wir uns eine ordentliche Portion Selbstbeobachtung verordneten. Auch dieser Bericht hier belegt, dass sich die gegenwärtige Unzufriedenheit in der islamischen Welt zu einem Großteil aus Unzulänglichkeiten der muslimischen Umma selbst speist. Und mit seiner als Doppelmoral wahrgenommen Haltung zu Demokratie und Menschenrechten fordert der Westen die Kritik geradezu heraus.

Auch im 21. Jahrhundert hat uns das Bedürfnis, andere anzuklagen und auf unsere Recht zu pochen, fest im Griff. Unsere Selbstdarstellungen sind zum Gefängnis geworden, sie lähmen den Dialog und behindern das Verstehen. So sehen viele Menschen in aller Welt, und insbesondere Muslime, den Westen als Bedrohung ihrer Überzeugungen und Werte, ihrer ökonomischen Interessen und politischen Bestrebungen. Was nicht in dieses Bild passt, wird ignoriert oder als unglaubwürdig zurückgewiesen. Umgekehrt lehnen viele Menschen im Westen den Islam als eine Religion des Extremismus und der Gewalt ab, obwohl es eine lange Geschichte der Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen gibt, in der Handel, Kooperation und kultureller Austausch mindestens so wichtig waren wie Konflikte.

Wir müssen es schaffen, diese Ressentiments zu überwinden und Vertrauen zwischen beiden Gemeinschaften aufzubauen. Der erste Schritt sollte klarmachen, dass das Problem nicht der Koran oder die Thora oder die Bibel ist. Denn wie ich schon oft betont habe, ist nicht der Glaube das Problem, es sind vielmehr die Gläubigen und ihr Verhalten zueinander.

Wir müssen immer wieder die allen Religionen gemeinsamen Grundwerte hervorheben: Mitgefühl, Solidarität, Achtung der Person, die goldene Regel „Verhalte dich so, wie du es von anderen dir gegenüber erwartest“. Gleichzeitig müssen wir von Stereotypen, Verallgemeinerungen und Vorurteilen wegkommen und dürfen nicht zulassen, dass Verbrechen, die Einzelne oder kleine Gruppen begehen, unser Bild von einem ganzen Volk, einer ganzen Region oder Religion prägen.

Umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegen, welchen Nutzen Migranten ihren neuen Heimatländern bringen können – nicht nur als Arbeiter, sondern auch als Konsumenten und Unternehmer und durch ihren Beitrag zu kultureller Vielfalt und Dynamik. Aber dieser Nutzen kommt nicht allen gleichermaßen zugute, und häufig nehmen ihn die Einheimischen nicht wahr – vor allem, wenn sie durch die Immigranten ihre materiellen Interessen, ihre Sicherheit und ihre gewohnte Lebensweise bedroht sehen.

Insbesondere in Europa haben die Regierungen nur zögernd die Notwendigkeit begriffen, gezielte Strategien für die Integration der Neuankömmlinge und ihrer Kinder zu entwickeln, zumal wenn sich die neuen Bürger von den alten durch ihre Religion oder ihre Hautfarbe unterscheiden. Oder sie gehen einfach davon aus, dass die Zuwanderergruppen sich der festgefügten nationalen Identität des Aufnahmelandes anpassen. Stattdessen sollten sie lieber darüber nachdenken, welche Werte und welche Kultur in einem demokratischen Staat alle in ihm lebenden Gemeinschaften teilen sollten. Auch dieses Land hier ist auf dem Weg in die EU immer wieder auf derartige Hindernisse gestoßen, wobei hinter den Einwänden häufig eine Vorstellung von europäischer Identität zum Vorschein kommt, die Muslime explizit oder implizit ausschließt.

All das hat zur Folge, dass viele Migranten der zweiten und dritten Generation in Ghettos aufwachsen, dass sie eine hohe Arbeitslosen-, Armuts- und Kriminalitätsrate aufweisen und dass ihre „indigenen“ Nachbarn ihnen mit einer Mischung aus Angst und Verachtung begegnen.

Die Überwindung gesellschaftlicher Intoleranz ist zum Teil eine Frage des rechtlichen Schutzes. Das Recht auf freie Religionsausübung – und auf Nichtdiskriminierung aufgrund der Religion – ist seit langem im Völkerrecht und auch in vielen nationalen Gesetzgebungen verankert. Aber rechtliche Regelungen sind nur ein Anfang. Jede Strategie des Brückenschlags zwischen den Kulturen muss vor allem auf Bildung setzen, nicht nur Islam oder Christentum im Schulunterricht behandeln, sondern alle Religionen, Traditionen und Kulturen. Denn dadurch werden falsche Bilder und Verzerrungen als das erkennbar, was sie sind. Auch müssen wir die Möglichkeiten für junge Menschen verbessern und ihnen überzeugende Alternativen zu den Sirenenklängen aus Hass und Extremismus bieten. Wir müssen ihnen eine echte Chance geben, sich für eine bessere Weltordnung einzusetzen, damit sie diese nicht kaputt machen wollen.

Wir müssen die Meinungsfreiheit sichern und zugleich mit unseren Brüdern und Schwestern in den Medien darauf hinarbeiten, dass diese Freiheit nicht genutzt wird, um Hass zu verbreiten oder Menschen zu demütigen. Wir müssen ihnen klarmachen, dass Rechte auch Verantwortung bedeuten und mit Sensibilität ausgeübt werden sollten, erst recht wenn es um Symbole und Traditionen geht, die anderen heilig sind. Hier sollten vor allem die politisch Verantwortlichen mit gutem Beispiel vorangehen, indem sie Intoleranz und Extremismus deutlich verurteilen. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Verbot jeglicher Diskriminierung in Gesetze einfließt und diese auch praktisch wirksam werden.

Aber die Verantwortung der Politiker bedeutet nicht, dass wir keine haben. Wir alle gestalten – mit unserem individuellen Verhalten – das politische und kulturelle Klima unserer Gesellschaften mit. Wir müssen fortwährend bereit sein, Stereotype und Zerrbilder zu korrigieren und uns für die Opfer von Diskriminierung einzusetzen.

Dies alles sind wichtige Lehren für die Beziehungen innerhalb der Gesellschaften wie auch zwischen ihnen. Aber wie der Bericht zu Recht hervorhebt, wird sich nur wenig ändern, wenn das herrschende Klima von Ängsten und Verdächtigungen immer wieder durch politische Ereignisse aufgeheizt wird, zumal wenn dabei muslimische Völker als Opfer von Militäraktionen nichtmuslimischer Mächte gesehen werden, was etwa für die Iraker, die Afghanen, die Tschetschenen und – wohl am stärksten – für die Palästinenser gilt.

Wir hätten es vielleicht lieber, wenn wir den arabisch-israelischen Konflikt nur als einen von vielen Regionalkonflikten betrachten könnten. Aber das ist er eben nicht. Kein anderer Konflikt hat eine symbolisch und emotional derart aufgeladene Bedeutung, auch für Menschen, die weit vom Schauplatz entfernt leben. Solange die Palästinenser der Besatzung und damit tagtäglich einer frustrierenden und erniedrigenden Behandlung unterliegen und solange Israelis in Bussen und Diskos in die Luft gesprengt werden, so lange werden sich die Emotionen überall und immer wieder neu entzünden.

Wir mögen es als unfair empfinden, dass bessere Beziehungen zwischen Bürgern innerhalb europäischer Länder – oder auch zwischen zwei Ländern wie zum Beispiel Kanada und Indonesien – zur Geisel eines Problems werden, das zu den kompliziertesten der ganzen Welt gehört. Und ganz gewiss darf man das Fehlen einer Lösung dieses Problems nicht als Ausrede für die Vernachlässigung andere Konfliktfelder benutzen. Aber eine Verbindung besteht, wir können sie uns nicht fortwünschen.

Meines Erachtens ist es unerlässlich, an beiden Fronten gleichzeitig zu arbeiten. Wir müssen die gesellschaftliche und kulturelle Verständigung zwischen den Völkern verbessern und zugleich die politischen Konflikte lösen, im Mittleren Osten wie anderswo.

Im Istanbuler Archäologischen Museum gibt es eine steinerne Inschrift, deren Replik – als Geschenk des türkischen Volkes – auch in New York vor dem Sitzungssaal des UN-Sicherheitsrats zu sehen ist. Es handelt sich um den Text des Friedensvertrags, der 1279 v. Chr. nach der blutigen Schlacht von Kadesch zwischen Hethitern und Ägyptern geschlossen wurde. Dieser Vertrag war damals ein Meilenstein, weil er eine lange Phase des Misstrauens und kriegerischer Auseinandersetzungen beendet hat. Er ging weit über die Einstellung der Kampfhandlungen hinaus und verpflichtete beide Seiten auf gegenseitigen Beistand und Kooperation. Damit verkörperte er im Wortsinne eine Allianz zwischen zwei großen Kulturen.

Lassen wir uns am heutigen Tag von diesem alten Vertrag inspirieren und unsere eigene Allianz zwischen den Zivilisationen und Kulturen, zwischen religiösen und ethnischen Gemeinschaften neu begründen. In diesem Geist, und mit großer Dankbarkeit für die geleistete Arbeit, nehme ich Ihren Bericht entgegen.

Fußnoten:

1 Die High Level Group besteht aus 18 angesehenen Wissenschaftlern, Politikern und Geistlichen, die unterschiedliche Kulturen repräsentieren. Die bekanntesten Mitglieder sind der ehemalige iranische Staatspräsident Chatami, der ehemalige spanischen Ministerpräsident Felipe Gonzáles, die britische Autorin Karen Armstrong und der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu. 2 Erdogan und Zapatero haben die Idee zur „Allianz der Kulturen“ am 21. September 2004 dem UN-Generalsekretär vorgetragen. Kofi Annan erklärte sie am 14. Juli 2005 zur UN-Initiative. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Kofi Annan war von 1996 bis 2006 Generalsekretär der Vereinten Nationen.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2007, von Kofi Annan