11.03.2011

Die UCK vor Gericht

zurück

Die UCK vor Gericht

Aufarbeitung des schmutzigen Kriegs im Kosovo von Jean-Arnault-Dérens

Am 27. Oktober 1999 versuchten der 50-jährige Lehrer Budimir Baljosevic und vier seiner Freunde aus dem Serben-Getto von Orahovac/Rahovec1 zu fliehen. Zu diesem Zeitpunkt stand das Kosovo bereits seit Monaten unter der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen und der Kontrolle der Nato-Friedenstruppe KFOR. Agron N., ein ortsansässiger Rom, der bereits viermal Serben aus Orahovac geschleust hatte, bot sich an, die Gruppe nach Rozaje in Montenegro zu bringen – für damals 1 200 D-Mark pro Person. Der hohe Preis schien angemessen, denn Agron N. arbeitete damals für das Kosovo-Schutzkorps (TMK), eine von der Nato eingerichtete Truppe zur Resozialisierung der Guerillakämpfer der „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UCK). Der Maurer Agron war damals auf der Baustelle eines neuen TMK-Stützpunkts in der benachbarten Stadt Djakovica/Gjakovë beschäftigt. Dorthin führte er die fünf Serben, und hier verliert sich ihre Spur.

„Ich wartete auf meinen Schwager, der mitfahren wollte“, berichtet Agron N., der sich seit einigen Monaten „aus Sicherheitsgründen“ im serbischen Novi Pazar aufhält. „Die Serben blieben im Auto. Als ich wieder aus dem Haus kam, schrie irgendwer, ich solle in Deckung gehen. Eine Gruppe Unbekannter entführte die Serben, und seitdem hat man nie wieder von ihnen gehört.“ Baljosevics Bruder stellte immer wieder Nachforschungen an, ohne Ergebnis. „Ich habe mit italienischen KFOR-Offizieren und UN-Polizisten gesprochen, aber nie etwas erfahren.“

Die Entführung der fünf Serben war keine Ausnahme. In seinem kleinen Café in Velika Hoca, einer serbischen Enklave bei Orahovac, hat Negovan Mavric ein Büro für den Verein der Angehörigen von Vermissten eingerichtet. Er zeigt die Namensliste der Toten und Verschwundenen. Die sterblichen Überreste von 19 Serben, die 1998 und 1999 entführt wurden, hat man gefunden. Aber 55 Serben und 9 Roma gelten im-mer noch als vermisst. Am 12. Mai 1998 wurde zum ersten Mal ein serbischer Zivilist getötet – damals begann der Kampf zwischen der serbischen Polizei und der UCK-Guerilla um die Region Orahovac, in der zu dieser Zeit viele Serben lebten. Die letzte bekannte Entführung datiert vom 28. Juli 2000, als das internationale Protektorat Kosovo bereits über ein Jahr bestand.

Heute wächst wieder Wein an den Hängen um Velika Hoca, am Horizont ragen die Bergketten an der albanischen Grenze auf: Das Shar- und das Pashtrik-Gebirge, die Has-Berge und, weiter nördlich Richtung Montenegro, die „verfluchten Gipfel“ der Prokletijë Planina. Einst wohnten Albaner und Serben in Orahovac/Rahovec friedlich zusammen, doch seit Juni 1999 hatte sich die Zahl der serbischen Einwohner auf etwa 1 000 verringert. 700 in Velika Hoca und 300 im Getto von Orahovac. Bevor sie aus den gemischt bevölkerten Dörfern Zociste, Opterusa oder Retimlije vertrieben wurden, lebten in der Region fast 10 000 Serben.

Die meisten Entführungen gab es, als die UCK im Juli 1998 für einige Zeit die Gemeinde Orahovac besetzt hielt. Damals wurde eine große Gruppe serbischer Zivilisten aus dem Dorf Retimlije in den UCK-Stützpunkt im Nachbardorf Semetiste verschleppt. Die Frauen kamen nach vier Tagen durch die Vermittlung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) wieder frei, aber die Männer kehrten nie wieder zurück. Einige wurden unter den 21 Leichen identifiziert, die im April 2005 aus einem Massengrab im einige Kilometer entfernten Dorf Volljak/Volujak geborgen wurden.

Auch Olgica Bozanic, die aus Orahovac nach Belgrad geflüchtet ist, arbeitet für den Verein der Angehörigen von Vermissten. Sie hat zehn Verwandte verloren: ihre beiden Brüder, Onkel und Neffen. Über das Schicksal eines der Verschwundenen konnten ihre früheren Nachbarn berichten, Albaner, die selbst monatelang wegen angeblicher Kollaboration mit Serbien von der UCK in Haft gehalten wurden. Sie erzählten, dass die Serben aus der Region Orahovac zunächst in ein Hauptlager der UCK gebracht worden seien. Nach Kriegsende habe man sie in das Dorf Deva in den Has-Bergen an der albanischen Grenze überstellt. Dort hatte die UCK nach 1999 offenbar einen früheren Militärstützpunkt der jugoslawischen Armee in ein Haftlager umgewandelt. Später brachte man die Überlebenden aus Orahovac nach Kukës in Albanien und dann in den Küstenort Durrës.

Die albanischen Augenzeugen berichteten, dort habe man sie 2001 in einem UCK-Gefängnis noch lebend gesehen. Doch muss man befürchten, dass die meisten der während des Kriegs verschleppten Serben bereits im Kosovo ermordet wurden. Auch die Spur derjenigen, die nach Ankunft der Nato-Truppen entführt wurden, verliert sich, obwohl ihre Deportation nach Albanien seit langem als wahrscheinlich gilt.

Im Herbst 1999 begann Sefko Alomerovic, der Vorsitzende des Helsinki-Komitees für Menschenrechte in der Region Sandschak Novi Pazar, diesen Fragen nachzugehen. Doch seine Aufzeichnungen sind heute unauffindbar, und Alomerovic selbst ist 2003 verstorben. In einem Interview aus dem Jahr 2000 hat er noch bestätigt, dass es ihm gelang, fünf Gefangenenlager innerhalb des Kosovo zu besuchen – provisorische Einrichtungen in Garagen oder Lagerhallen am Stadtrand, in denen je zehn bis fünfzig Menschen interniert waren. Diese Lager standen offenbar unter der Leitung von Alush Agushi, genannt „Kommandant Mala“, einem Vertrauten des UCK-Führers Ramush Haradinaj.2

Manche Familien hätten versucht, ihre Angehörigen freizukaufen. Über Vermittler wurden zwar erhebliche Summen transferiert, aber nach Auskunft der Angehörigenvereinigung kam es in keinem einzigen Fall tatsächlich auch zu einer Freilassung. Nur durch einen Gefangenenaustausch mit in Serbien inhaftierten Albanern sollen Serben freigekommen sein, 800 bis Ende des Jahres 2000.

Eine Mauer des Schweigens

Aber auch dafür gibt es keine sicheren Beweise. Andere Quellen behaupten, viele Serben seien hingerichtet worden, nachdem Belgrad 2001 im Rahmen einer Amnestie die mutmaßlichen albanischen Anhänger der UCK frei gelassen hatte. Sefko Alomerovic war auch der Erste, der von einem mutmaßlichen illegalen Organhandel sprach: UCK-Gefolgsleute sollen serbische Gefangene nach Albanien deportiert, sie dort getötet und ihre Organe an internationale kriminelle Netzwerke verkauft haben.

Die internationalen Organisationen im Kosovo, allen voran die damals vom ehemaligen französischen Außenminister Bernard Kouchner geleitete UN-Mission Minuk, wiesen Alomerovics Behauptungen zurück. Untersuchungen zu den Vorwürfen wurden nicht eingeleitet. Alomerovic, bekannt für seinen langjährigen Kampf gegen das Milosevic-Regime, sprach damals von einer „Mauer des Schweigens“3 , nachdem die KFOR erklärt hatte, im Kosovo gebe es kein einziges Gefangenenlager. Auch Carla Del Ponte, die ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), berichtet in ihren Memoiren von dieser „Mauer des Schweigens“, auf die sie bei ihren Nachforschungen über verschwundene serbische Zivilisten und den vermuteten illegalen Organhandel stieß.4

Der Schweizer Politiker und ehemalige Staatsanwalt des Kantons Tessin, Dick Marty, ging im Auftrag des Europarats all diesen Fragen nach (siehe Kasten). Nach der Veröffentlichung seiner Untersuchungsergebnisse im Dezember 2010 gab Marty zahlreiche Interviews, in denen er bestätigte, dass „jeder im Kosovo“ vom Verschwinden serbischer Zivilisten gewusst habe und davon, dass vermeintliche albanische Kollaborateure während des Kriegs festgehalten worden seien.5

Die in Prishtina erscheinende Tageszeitung Bota Sot berichtete seit 1999 immer wieder von Morden an Sympathisanten der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK), der Partei des verstorbenen Expräsidenten Ibrahim Rugova. Für Bajrush Morina, Chefredakteur von Bota Sot, besteht kein Zweifel: „Seit 1999 wurden im Kosovo 3 000 Menschen umgebracht, und nur 600 Fälle wurden aufgeklärt. Man sprach dann immer von Blutrache, aber tatsächlich handelte es sich meistens um politische Morde.“

Auch seine Zeitung geriet ins Visier der mörderischen Fanatiker: Zwei Journalisten wurden umgebracht, und Morina selbst bezahlte für längere Zeit einen privaten Personenschutz. Weil Bota Sot Verbindungen zur LDK pflegte, wurde die Glaubwürdigkeit der Zeitungsberichte allerdings immer wieder infrage gestellt.

Die Journalisten von Bota Sot berichteten regelmäßig über Gefangenenlager im Kosovo und Albanien, in denen die UCK angebliche albanische Serben-Kollaborateure festhielt. Am 28. Februar 2011 wurde am Gericht Mitrovica das von der EU-Rechtshilfemission Eulex eingeleitete Verfahren gegen zwei ehemalige UCK-Kommandanten eröffnet: Sabit Geci und Riza Aljaj werden angeklagt, im albanischen Lager Cahan schwerste Verbrechen begangen zu haben. Doch ob es im Lager Cahan nach Kriegsende auch serbische Gefangene gab, die als „Nachschub“ für den Organhandel dienten, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen.

Das entlegene Bergdorf Cahan liegt direkt an der Grenze zum Kosovo. Während des Kriegs diente es der UCK als logistische Basis und Sammelstelle für Kriegsfreiwillige. Der australische Arzt Craig Jurisevic, der sich damals der UCK anschloss, berichtet, dass sogar Angehörige von US-Spezialeinheiten in Cahan aufgetaucht seien.6 Bedri Cahani, der starke Mann im Ort, erzählt heute freimütig, dass die Dorfbewohner lange vom Zigarettenschmuggel gelebt hätten. Im Herbst 1997 habe er selbst dann das Angebot der UCK angenommen, ihre Kämpfer bei Nacht über die Gebirgspässe zu führen.

Der Stützpunkt der Guerilla war eine 1992 aufgegebene Kaserne der albanischen Armee, die heute noch am Ortseingang steht. Der Weg nach Cahan führt von der Ortschaft Kruma über zehn Kilometer entlang einer schlechten Bergpiste. Dick Marty berichtet, dass auch die Kaserne am Ortseingang der UCK als Gefangenenlager gedient habe.

Der anonyme Hauptzeuge Z. im Prozess gegen Geci und Aljaj war zweieinhalb Monate in der „Hölle von Cahan“ eingesperrt. Er berichtet von systematischer Folter. Manche Gefangene wurden Opfer sexuellen Missbrauchs, andere mussten Scheinhinrichtungen erdulden. Allerdings weiß er nichts von serbischen Inhaftierten: „Ich war vermutlich länger als jeder andere in Cahan, aber ich habe dort nur Albaner gesehen.“ Z. erzählt, dass im Lager mehrmals die „hohen Tiere“ der UCK aufgetaucht seien, unter anderem auch Hashim Thaci, der heutige Ministerpräsident des Kosovo.

Wie Z. waren zu Beginn des Kriegs im Frühjahr 1999 alle Gefangenen in Cahan Mitglieder in Rugovas LDK. Sie hatten sich vor den serbischen Truppen in die albanischen Städte Kukës und Kruma geflüchtet und gerieten dort in Gefangenschaft. Einige gehörten der Gruppierung Fark (Bewaffnete Kräfte der Republik Kosovo) an, eine Guerillatruppe der Rugova-Anhänger, die ohne großen Erfolg gegen die UCK angetreten war.

In seinem Bericht für den Europarat verwies Dick Marty auf die entscheidende Rolle einer Fraktion innerhalb der UCK, der „Drenica-Gruppe“, und nannte die Namen von Hashim Thaci, Azem Syla, Xhevat Haliti, Kadri Veseli, Fatmir Limaj, Sabit Geci und Riza Alija. Diese UCK-Kommandanten verband nicht nur ihre gemeinsame Herkunft aus Drenica. Sie gehörten auch alle der Volksbewegung des Kosovo (LPK) an, einer marxistisch-leninistischen Untergrundorganisation, die dem stalinistischen Regime des albanischen Diktators Enver Hoxha die Treue hielt.

Diese Bewegung war von albanischen Emigranten in der Schweiz gegründet worden, verfügte aber auch über ein weit gespanntes Netz von Untergrundkämpfern im Kosovo. Auf ihre Initiative entstand 1996 die UCK als Zusammenschluss von Freischärlern, die im Kosovo, und vor allem in der Region Drenica, bereits aktiv waren. Der Berühmteste dieser Kämpfer, der bis heute im Kosovo verehrte „legendäre Kommandant“ Adem Jashari, wurde von der serbischen Polizei am 6. März 1999 erschossen.

Sein Cousin Gani Geci, auch er ein Kämpfer der ersten Stunde, entkam 2001 mit knapper Not einem Attentat. Er ist Thacis Demokratischer Partei des Kosovo (PDK), der direkten Nachfolgepartei der LPK, nie beigetreten. Geci stammt aus einer Familie von bajraktar – den traditionellen albanischen „Dorfwächtern“ aus der Zeit des Osmanischen Reichs – im Dorf Llausha in der Drenica. Lange war er in Rugovas LDK aktiv, später für eine Splittergruppe der Partei, für die er in der vergangenen Legislaturperiode einen Sitz im Parlament des Kosovo errang.

„Wir hielten stets zu Ibrahim Rugova. Von der LPK und selbst von der Fark hatten wir vorher noch nie etwas gehört“, erklärt Gani Geci beim Gespräch in der oda, dem traditionellen Empfangszimmer in seiner nach dem Krieg wieder aufgebauten Luxusvilla. „Für uns war die UCK das Bündnis aller Kämpfer. Als die LPK-Aktivisten aus der Schweiz kamen, nahmen wir sie freundlich auf – sie hatten Geld und versprachen, Waffen zu besorgen. Aber wir hatten schnell begriffen, dass es ihnen nur um die Macht ging. Gegen die Serben haben sie jedenfalls nie gekämpft – das haben sie der Nato überlassen. Sie kämpften nur gegen andere Albaner, um die Macht nicht teilen zu müssen. Seit Kriegsende behandeln sie das Kosovo wie ihre Pfründe.“

Diese Einschätzung bestätigt weitgehend auch ein kürzlich freigegebener Nato-Bericht von 2003. Dort wird ein Mitglied der „Drenica-Gruppe“, Xhevat Haliti, als der Pate des Kosovo beschrieben, der die illegalen Geschäfte kontrolliert – vom Schwarzmarkt über den Drogenhandel bis zur Prostitution. Haliti, ein hochrangiger LPK-Funktionär, war früher auch als Mitarbeiter der Sigurimi bekannt, des albanischen Geheimdienstes in der Hoxha-Ära. Der Marty-Bericht beschreibt ihn als einen der Chefs der „Drenica-Gruppe“. Dieses Netzwerk ist fast identisch mit den Führungsstrukturen der LPK und ihrer Nachfolgepartei, der heutigen Demokratischen Partei des Kosovo (PDK) von Hashim Thaci.

Als ein wirksames Machtinstrument der PDK hat sich der mittlerweile offiziell aufgelöste Geheimdienst „Shërbimi Informativ i Kosovës“ (Shik) erwiesen. Ende 2009 sorgte der ehemalige Shik-Agent Nazim Bllaca für einen Skandal, als er öffentlich bekannte, einen albanischen Kollaborateur der serbischen Polizei ermordet zu haben. Im Januar 2011 gab Bllaca, der unter Polizeischutz auf seinen Prozess wartet, der Tageszeitung Koha Ditore ein Interview, in dem er erklärte, der Shik habe schon „in den ersten Monaten nach der Einrichtung des internationalen Protektorats 600 Menschen ermorden lassen – 1 000 innerhalb eines Jahres.“

Nach und nach wird immer häufiger darüber berichtet, wie UCK-Leute gewaltsam gegen Albaner vorgingen, die der Kollaboration mit Serbien verdächtigt wurden oder einfach nur eine unliebsame politische Position vertraten. Über das Schicksal der „verschwundenen“ Serben mag allerdings noch immer niemand reden. Z. berichtet, wie er nach Kriegsende aus dem Lager Cahan nach Prizren im Kosovo verlegt wurde: „Ich verbrachte einige Tage im Keller eines Hauses, zusammen mit einem Rom und sieben älteren Serben. Außer mir gab es noch einen weiteren albanischen Gefangenen aus Cahan; die Wärter zwangen uns, die Serben zu verprügeln. Als ich später von deutschen KFOR-Soldaten befreit wurde, hatte man die Serben schon an einen unbekannten Ort gebracht.“

Fußnoten: 1 Der erste ist der serbische, der zweite der albanische Name. 2 Ramush Haradinaj, ein früherer UCK-Kommandant in Westkosovo, war zwischen Dezember 2004 und März 2005 Ministerpräsident des Kosovo. Er befindet sich heute in Haft im internationalen Gefängnis im holländischen Scheveningen und verteidigt sich in einem Berufungsverfahren unter anderem wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). In erster Instanz wurde er freigesprochen, nachdem eine Reihe von Belastungszeugen ermordet worden oder nicht zur Verhandlung erschienen waren. Haradinaj ist noch immer Vorsitzender der Partei Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK), die im kosovarischen Parlament vertreten ist. 3 Siehe Vanja Mekterovic und Vladimir Radomirovic, „Kosovo: L’Archipel des camps de l’UCK“, Le Courrier des Balkans, 17. April 2000, balkans.courriers.info. 4 Carla Del Ponte, „Im Namen der Anklage: Meine Jagd auf Kriegsverbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit“, Frankfurt a. M. (Fischer Tb.) 2010. 5 Martys Bericht: assembly.coe.int/CommitteeDocs/2010/20101218_ajdoc462010provamended.pdf. 6 Craig Jurisevic, „Blood on my hands. A surgeon at war“, Melbourne (Wild Digo Press) 2010.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Jean-Arnault-Dérens ist Chefredakteur des Courrier des Balkans (balkans.courriers.info). Von ihm erschien zuletzt: „Voyage au pays des Gorani (Balkans, début du XXIième siècle)“, gemeinsam mit Laurent Geslin, Paris (Cartouche) 2010.

Die Vorgeschichte

Das überwiegend von Albanern bewohnte Kosovo litt in den 1990er Jahren unter den Repressionen des serbischen Regimes in Belgrad. Unter der Führung von Ibrahim Rugova begann zunächst ein gewaltloser Widerstand gegen die serbische Herrschaft. Rugovas „Demokratische Liga des Kosovo“ (LDK) bekam jedoch seit Anfang 1998 Konkurrenz durch die bewaffnete Guerillaorganisation „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UCK).

Von März bis Juni 1999 bombardierte die Nato Serbien und Montenegro. 800 000 Albaner wurden damals von der serbischen Armee aus dem Kosovo nach Albanien, Mazedonien und Montenegro vertrieben. Etwa 10 000 Kosovaren sollen damals ums Leben gekommen sein. Am 10. Juni zog sich Serbien aus dem Kosovo zurück, eine internationale Schutztruppe (KFOR) mit UN-Mandat rückte ein, und die zivile Verwaltung wurde einer zeitlich begrenzten UN-Mission (Minuk) übertragen. Serben und Roma sahen sich Verfolgungen ausgesetzt. Gleichzeitig stellte sich die LDK gegen die ehemaligen Untergrundkämpfer der UCK, aus deren politischem Flügel die von HashimThaci geführte „Demokratische Partei des Kosovo“ (PDK) hervorging. Am 17. Februar 2008 verkündete das Kosovo seine Unabhängigkeit. Serbien erkannte den neuen Staat nicht an, und auch international fand er nur begrenzte Unterstützung.

Der Marty-Report

Am 25. Januar 2011 entschied der Europarat, den Spuren nachzugehen, die Dick Marty mit seiner Untersuchung über „Menschenrechtsverletzungen und illegalen Organhandel im Kosovo“ gelegt hat. Der Schweizer Abgeordnete Marty berichtet unter anderem über eine „kriminelle Vereinigung“, die er „Drenica-Gruppe“ nennt, weil die meisten ihrer Mitglieder aus der gleichnamigen Region in Zentralkosovo stammen. Hashim Thaci, 1994 Mitbegründer der Guerillaorganisation UCK und derzeit Ministerpräsident des Kosovo, soll ihr Anführer sein. Marty verweist darauf, dass die UCK während des Kriegs von Albaniens Streitkräften und dem albanischen Geheimdienst „Shërbimi Informativ i Shtetit“ (Shish) unterstützt wurde. Auch westliche Geheimdienstler, die 1999 in Albanien stationiert waren, hätten mit der UCK zusammengearbeitet.

Die kriminellen Aktivitäten der UCK (Schmuggel, Waffen- und Drogenhandel) seien nach Kriegsende fortgesetzt worden. Marty zitiert Berichte westlicher Geheimdienste, in denen Hashim Thaci als „Unterweltboss des Kosovo“ bezeichnet wird. Dieser sei zwar die bekannteste Figur der „Drenica-Gruppe“, doch die Anführer Azem Syla und Xhevat Halili seien nach Martys Informationen mindestens genauso wichtig.

Die „Drenica-Gruppe“ hat ein regelrechtes System von Gefangenenlagern in Albanien errichtet. Manche der nahe der Grenze zum Kosovo gelegenen Lager, wie Cahan, Kukës und Bicaj, waren vor allem für die albanischen „Verräter und Kollaborateure“ bestimmt, die dort „verhört“ wurden. Eine zweite Kategorie von Gefangenen, vor allem Serben, wurde während der Haft in Albanien ermordet. Die dritte Kategorie von Gefangenen wurden nach Martys Bericht Opfer des illegalen Organhandels. Sie waren in einem Lager in Fushë-Krujë interniert, in der Nähe von Tiranas Flughafen, von wo die Organe ausgeflogen wurden. Dieses Schicksal soll allerdings nur „eine Handvoll“ Gefangene erlitten haben, die durch mehrere Lager und Selektionen geschleust worden waren.

Eine Schlüsselrolle in dem illegalen Handel mit Organen soll der Arzt Shaip Muja gespielt haben, der im Kosovokrieg die Feldlazarette für die UCK betreut hat und heute Regierungsberater für Gesundheitsfragen ist. In einem Interview mit der taz vom 26. Januar 2011 bestreitet Muja, dass dieser Organhandel überhaupt jemals stattgefunden hat. Er habe bereits eine Klage wegen Rufschädigung gegen Marty eingereicht und ist zuversichtlich, dass er den Prozess gewinnen wird.

Mujas Name taucht allerdings auch in Berichten über die Medicus-Klinik auf, einer Privatklinik in Prishtina, die dem Urologen Lutfi Dervishi gehört, der ein Schwager von Azem Syla ist, einem Onkel von Ministerpräsident Thaci. Die Medicus-Klinik war vermutlich noch bis 2008 ein weiteres Zentrum im illegalen Organhandel. „Freiwillige“ ließen sich hier gegen Geld eine Niere entnehmen. Die Abnehmer sollen aus Deutschland, Kanada und Israel stammen.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2011, von Jean-Arnault-Dérens