11.03.2011

Praktische Fragen der Religion

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Praktische Fragen der Religion

Die erste Auslandsreise als US-Außenministerin führte Hillary Clinton am 18. Februar 2009 nach Indonesien. Mit ihrem Besuch in Südostasien signalisierte sie das gewachsene Interesse der USA an der Region und speziell an dem Land, in dem der neue Präsident Barack Obama einen Teil seiner Jugend verbracht hatte. In einer Tischrede vor akademischen Größen und politischen Aktivisten in Jakarta pries Clinton den mehr oder minder erfolgreichen Übergang zur Demokratie, den das Land seit dem Sturz von Präsident Suharto im Jahr 1998 vollzogen hat: „Wenn Sie wissen wollen, ob eine Koexistenz von Islam, Demokratie, Modernität und Frauenrechten möglich ist, dann schauen Sie sich Indonesien an.“

Die US-Außenministerin würdigte damit den indonesischen Islam, den Experten als „zivilen“ oder pluralistischen Islam bezeichnen und zu dessen Selbstverständnis die Vereinbarkeit mit der Demokratie gehört. Einen solchen Islam vertreten auch die beiden größten religiösen Organisationen Indonesiens: die Nahdlatul Ulama mit ihren 40 Millionen Mitgliedern und die 30 Millionen Mitglieder zählende Muhammadiyah.1

Dass die meisten Indonesier nicht in einem strikt islamischen Staat leben wollen, wurde im Juli 2009 deutlich, als sie Präsident Susilo Bambang Yudhoyono schon im ersten Wahlgang eine weitere Amtszeit bis zum Jahr 2014 beschert haben. Die konservative islamistische Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei (PKS) war damals mit ihrem Vorhaben, eine Beteiligung an der Macht zu erreichen, schmählich gescheitert.2

Um den Einfluss des Islam im bevölkerungsreichsten islamischen Land der Welt zu ermessen, darf man nicht nur auf die Parteien und ihre Wahlerfolge starren. Auf lokaler Ebene gibt es in Indonesien so viel Korruption, Armut und Staatsversagen, dass viele Muslime sich die Lösung ihrer sozialen Probleme von der Religion versprechen.3 Von einem zügigen und entschlossenen Aufbruch in Richtung eines säkular-liberalen Systems kann insofern nicht die Rede sein. Und obwohl der „zivile Islam“ auf dem Vormarsch ist und den konservativen Parteien die Wähler weglaufen, spielen die konservativen Kräfte im öffentlichen Leben nach wie vor eine große Rolle. Insgesamt ist Indonesien deutlich konservativer geworden, als man das vor zehn, fünfzehn Jahren gedacht hätte.

Indonesien ist allerdings kein Land des Islam, sondern ein Land mit verschiedenen Spielarten des Islam. Nicht die Konflikte zwischen Muslimen und Christen prägen das öffentliche Leben, sondern die zwischen Muslimen und Muslimen. Dabei stehen sich meistens progressive und konservative Vertreter des Islam gegenüber, die nicht über theologische Grundsätze streiten, sondern über ganz praktische Fragen wie zum Beispiel: Darf ein Muslim seine Religion aufgeben? Dürfen Muslime zu Ketzern erklärt werden? Welche Rechte haben religiöse Minderheiten in einem mehrheitlich muslimischen Land? Darf es eine indonesische Ausgabe des Playboy geben? Soll es Christen erlaubt sein, überall, also auch in muslimischen Gemeinden, zu missionieren und Kirchen zu bauen? Wie soll die Rolle der Frauen in Gesellschaft aussehen? Sind Grundsätze, die im Koran vor mehr als tausend Jahren niedergelegt wurden, für Frauen von heute noch verbindlich?

Welche Entwicklung der Islam weltweit nehmen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie Indonesien mit diesen Fragen und Problemen umgeht, meint Abdullahi An-Na’im von der Emory University in Atlanta, Georgia. Dass die Religion in Indonesien „geschmeidiger“ ist als anderswo, erklärt der progressive Islamwissenschaftler und Rechtsprofessor unter anderem mit der geografischen Lage. Von seiner Peripherie, wo der Islam auf andere Kulturen und Weltanschauungen treffe, werde die Kraft zum Wandel ausgehen.

Zur islamischen „Peripherie“ gehören für An-Na’im neben Indonesien auch Nigeria und der Sudan, aus dem seine Familie stammt. Die Muslime dieser Grenzzone, die sich zwischen dem Äquator und dem zehnten nördlichen Breitengrad erstreckt, könnten den Herausforderungen, die das moderne Leben für die Inhalte und Praktiken ihres Glaubens bedeutet, anders begegnen als die Bevölkerung in der Kernregion des konservativen Islam, auf der arabischen Halbinsel. Im Nahen Osten, glaubt An-Na’im, „ist der Islam zu satt und selbstzufrieden – zu arrogant, um sich auf diese schwierigen Fragen einzulassen.“

Von den weltweit 2,6 Milliarden Muslimen leben nur 20 Prozent im Nahen und Mittleren Osten, die übergroße Mehrheit der restlichen 80 Prozent dagegen im unterentwickelten globalen Süden. Dank ihrer schieren Masse, hofft An-Na’im, werden die offener denkenden Muslime der Grenzzonen die nötige Kraft entwickeln, um dem konservativen arabischen Kern die Kontrolle über den Islam zu entwinden. Eine verwegene Hoffnung – und eine hohe Wette mit 500 Millionen Mitspielern.

Umgekehrt begründen konservative christliche Kreise ihre Hoffnung, dass das Christentum insgesamt wieder konservativer werde, mit der zunehmenden Zahl der Christen in eben diesen Regionen. Zahlen sind Fakten, aber nicht die einzigen, von denen die Zukunft der großen Weltreligionen abhängt. Der Islam wird sich ebenso wie das Christentum und andere Religionen auch künftig auf unvorhersehbare Weise verändern und in neue Strömungen auffächern.

In den Randzonen des Glaubens – aber nicht nur hier – wird der Anspruch, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, folglich immer wieder Gegenbewegungen anstoßen. Dafür ist Indonesien, wie auch das benachbarte Malaysia, ein gutes Beispiel: Erst als hier konservative Muslime versuchten, ihre Deutung des Islam auch der öffentlichen Sphäre aufzudrücken, wachte die „schweigende Mehrheit“ auf und war zunehmend bereit, für die Offenheit und Redefreiheit einzutreten, die sie als selbstverständlich vorausgesetzt hatte.

Vielleicht kommt jede konservative religiöse Erweckungsbewegung früher oder später an einem Punkt an, wo ihre gemäßigten Gegenspieler aufwachen. „Die moderaten Kräfte können es sich nicht mehr leisten zu schweigen“, sagt Zainah Anwar, die sich als Gründerin der malaysischen NGO „Sisters in Islam“ seit langem für die Rechte der Frauen einsetzt. Das gleiche Gefühl beschleicht derzeit auch viele Christen in den USA, und zwar Anglikaner, Katholiken und Protestanten. E. Griswold

Fußnoten: 1 Die Muhammidiyah (arabisch für „Anhänger des Mohammed“) und die Nahdlatul Ulama („Wiedererwachen der islamischen Rechtsgelehrten“) sind islamische Bewegungen. Politisch vertreten ist die erste durch die PAN und die zweite durch die Nationale Erweckungspartei (PKB). Beide Parteien zusammen erhielten bei den Parlamentswahlen 2009 nur 11 Prozent der Stimmen. 2 In der ersten Runde der Parlamentswahlen vom April 2009 erhielt die PKS nur 7,9 Prozent der Stimmen, bei den Präsidentschaftswahlen unterstützte sie den Amtsinhaber Yudhoyono. 3 Siehe Robin Bush, „Expressing Islam: Religious Life and Politics in Indonesia“, Singapore (Institute of Southeast Asian Studies) 2008. Robin Bush ist der Repräsentant der Asia Foundation in Indonesien, einer NGO mit Sitz in Washington, die in 21 asiatischen Ländern vertreten ist. Siehe: asiafoundation.org.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2011, von E. Griswold