Vor der großen Revolte
In den Fabriken gab es seit Jahren soziale Kämpfe von Raphaël Kempf
Jetzt reicht’s aber! Wir können doch nicht ewig feiern. Wir müssen unser Land aufbauen, wir müssen arbeiten!“ Mohammed Farid Saad sitzt hinter dem Steuer und schimpft auf die Gaffer, die die Straße blockieren und ihn am Weiterfahren hindern. Für sie geht eine lange Festnacht auf dem Kairoer Tahrirplatz zu Ende. Sie singen und trommeln auf mehr oder weniger improvisierten Instrumenten. Am Morgen des 12. Februar erwacht Ägypten aus einer 30 Jahre währenden Nacht. Husni Mubarak ist am Vortag nach Scharm al-Scheich abgereist, die Macht wurde an den Hohen Militärrat übergeben. Die Hauptforderung der Demonstranten ist erfüllt: Der Raïs ist weg, die Revolution scheint am Ziel.
Farid Saad hat eine kleine Fabrik für Industrieleim in einem der ärmeren Viertel der Kairoer Altstadt. Als er an diesem Morgen nach der Revolution schließlich dort ankommt, arbeiten die 15 Beschäftigten – die meisten sind Frauen – schon eine Weile. Der Chef freut sich über die Revolution. Er glaubt, dass Ägypten in Zukunft solider regiert und besser organisiert sein wird und dass seine Beschäftigten bessere Arbeit leisten werden. Und er hofft, dass es weniger Korruption geben wird. Früher musste er den staatlichen Inspektoren ein Bakschisch geben, wenn sie kamen, um wieder einmal die sanitären Anlagen und die Arbeitsbedingungen zu kontrollieren. Auch seine Angestellten freuen sich über den Sturz des Raïs. Sie erwarten vor allem höhere Löhne. Derzeit bekommen sie monatlich etwa 500 ägyptische Pfund (umgerechnet rund 62 Euro), das ist nicht einmal die Hälfte der 1 200 Pfund, die die ägyptische Linke als Mindestlohn fordert.
Die Forderung nach dem Mindestlohn kam allerdings nicht vor im „Programm“ der Revolution, das der Schriftsteller Chalid al-Chamissi, Autor des Erfolgsromans „Im Taxi“1 zusammenfasst: „Die Revolution hatte klare Ziele: die Demokratisierung des politischen Lebens in Ägypten, den Sturz Mubaraks, eine Verfassungsreform, die Auflösung des Parlaments und die Durchführung von richtigen Wahlen.“ Doch auch al-Chamissi weiß, wie wichtig die sozialen Bewegungen waren, vor allem die Arbeiterstreiks der letzten Jahre, bei denen es weniger um politische als vielmehr um soziale und wirtschaftliche Forderungen ging. „Es gibt eine Kontinuität zwischen diesen Bewegungen und der Revolution von 2011.“
Am 11. Februar, kurz vor der Nachricht von Mubaraks Rücktritt, saßen ein paar Intellektuelle in einem kleinen Café in der Nähe des Tahrirplatzes zusammen und diskutierten die Situation. Alaa Shukrallah, ein etwa 50-jähriger Kinderarzt, Veteran der Studentenproteste und Aktivist in mehreren Nichtregierungsorganisationen, las aus der Zeitung eine Liste der Betriebe und Unternehmen vor, in denen Arbeiter gestreikt haben: Eisenbahner, Erdölarbeiter, Angestellte des Landwirtschaftsministeriums, Beschäftigte eines Wasserwerks und eines Busunternehmens … Seit einigen Tagen hatten sich Arbeiter und Angestellte der Protestbewegung angeschlossen. Vielleicht waren sie dem „Appell an unsere Kameraden, die ägyptischen Arbeiter“ vom 9. Februar gefolgt, in dem zehn linke Organisationen soziale Gerechtigkeit, einen angemessenen Mindestlohn und Gewerkschaftsfreiheit gefordert hatten. Er klingt fast etwas pathetisch: „Ägyptische Werktätige, ihr seid ein Teil dieser großen Volksrevolution, eure Kämpfe der letzten Jahre haben der Revolution den Boden bereitet.“
Streiks für den Mindestlohn
Der Anwalt Khaled Ali, Direktor des Ägyptischen Zentrums für wirtschaftliche und soziale Rechte, ist anderer Meinung: Die Bewegung des 25. Januar sei nicht von der Arbeiterschaft ausgegangen, weil diesen die dafür notwendigen organisatorischen Strukturen fehlten. „Aber es war eine wichtige Etappe“, meint er, „als auch die Arbeiter zu protestieren anfingen und den politischen Forderungen der Revolution zusätzlich eine wirtschaftliche und soziale Stoßrichtung gaben.“
Ganz anders sehen es die jungen Leute aus der Mittelschicht, die bei Facebook sind und von der Presse als die Helden dieser Revolution gefeiert werden. Der dreißigjährige Ingenieur Ahmed Maher, Koordinator der Bewegung 6. April, behauptet, „die Arbeiter haben bei der Revolution überhaupt keine Rolle gespielt“. Seine Bewegung, die ausschließlich politische Forderungen stellt, hatte großen Anteil an der Umwälzung. Bereits 2009 und 2010 hatte sie – jeweils am 25. Januar, dem „Tag der Polizei“ – zu Demonstrationen aufgerufen, um eine politische Liberalisierung zu fordern. Die Demonstration am 25. Januar 2011 war der Anfang vom Ende des Regimes.
Ihren Namen verdankt die Bewegung einem Streikaufruf vom 6. April 2008. Er kam von den Arbeitern der größten Fabrik des Landes, der Misr Spinning and Weaving Company in Mahalla al-Kubra.2 Damals hatten sich junge Kairoer mit den Arbeitern zusammengetan und beschlossen, auf Facebook die „Bewegung der Jugend des 6. April“ zu gründen. Die verabschiedete sich jedoch alsbald von den sozialen Forderungen und konzentrierten sich ganz auf das Thema Demokratie.
Die Kämpfe der Arbeiter haben in den letzten Jahren eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben auf alle Bereiche übergegriffen und in Ägypten eine neue Diskussionskultur entstehen lassen, bei der Kritik geäußert werden kann und Forderungen gestellt werden. „2010 verging kein Tag, an dem es nicht mindestens drei Protestaktionen gab“, erzählt Khaled Ali. Und für Kamal Abbas, Leiter des Gewerkschaftsnetzwerks CTUWS (Center for Trade Unions and Workers Services), haben „diese Bewegungen die Überzeugung wachsen lassen, dass es möglich ist, zu kämpfen“.
Obwohl der Militärrat kurz zuvor ein Ende der sozialen Proteste gefordert hatte, wurde am 16. Februar 2011 in der Misr Spinning and Weaving Company die Arbeit niedergelegt. Wie die Demonstranten auf dem Tahrirplatz haben die Arbeiter auf dem Betriebsgelände Zelte aufgestellt und dort geschlafen. An den Wänden kleben Plakate mit ihren Forderungen. Die wichtigste: Der unter Korruptionsverdacht stehende Chef der Firma, Mohsin al-Gilani, soll zurücktreten. Und die Arbeiter wehren sich gegen die Ungleichheit im Unternehmen: Sie beschweren sich zum Beispiel darüber, dass die Führungskräfte Wohnungen gestellt bekommen, die sie fast nichts kosten, während sie selbst sich in der Stadt Mietwohnungen zu Marktpreisen suchen müssen.
Der 39-jährige Mohammed El Metwally Igazy arbeitet seit 15 Jahren in der Fabrik und verdient etwa 500 Pfund im Monat. Er fordert, dass endlich der vom Verfassungsgericht beschlossene Mindestlohn von 1 200 Pfund bezahlt wird. Tatsächlich hatte auch das zentrale Verwaltungsgericht am 30. März 2010 entschieden, dass der Staat einen Mindestlohn festlegen müsse, der ein würdiges Leben ermöglicht. Die Entscheidung wurde von der Regierung allerdings nicht umgesetzt, und so bleibt der Mindestlohn von 1 200 Pfund weiter das zentrale Thema der sozialen Auseinandersetzungen. Auch die Arbeiter in Mahallah konnten ihre Forderung nach dem Mindestlohn nicht durchsetzen. Und doch hat sich ihr Einsatz gelohnt: Nach drei Streiktagen gab es am 19. Februar Verhandlungen zwischen der Unternehmungsführung, dem Militärgouverneur und einer Arbeiterdelegation. Der Militärgouverneur verkündete unter dem Beifall der Arbeiter, dass der Firmenchef zurückgetreten und durch den bekannten und allgemein geschätzten Ingenieur Ahmed Maher ersetzt worden sei. Die Arbeiter betonen zwar, dass ihre Aktion nichts mit der Revolution auf dem Tahrirplatz zu tun habe, doch es bleibt der Eindruck, dass dieser Streik, wie viele andere, ohne die Revolution nicht stattgefunden hätte.
Nach Mubaraks Sturz rechneten viele mit einem Rückgang der sozialen Proteste. Die Bevölkerung wollte schnell wieder zum Alltag zurück. Stattdessen gab es jedoch schon wenige Tage später zahlreiche Streiks und Proteste. Inzwischen werden in jedem Betrieb, jedem Ministerium und jedem Unternehmen Forderungen aufgestellt. In der Erdöl- und Stahlindustrie, bei der Post und den Krankenwagenfahrern häufen sich Streiks und Proteste. In vielen Fällen geht es um die Absetzung des Unternehmens- oder Fabrikdirektors oder eines Ministers. Auch die Polizisten haben vor dem Innenministerium im Stadtzentrum von Kairo und in anderen Großstädten des Landes für Lohnerhöhungen demonstriert.
Nach Mubaraks Sturz erwartet das Volk, dass der Reichtum umverteilt wird, und selbst die Taxifahrer sind überzeugt, dass das Geld bald kommen wird. Ein Slogan auf dem Tahrirplatz lautete schließlich: „Husni Mubarak, sag uns, wo unser Geld ist!“ Auf den „Diskussionsseiten“ der Zeitungen antworten die Experten, es sei noch zu früh, die Umverteilung müsse Schritt für Schritt geschehen. Zwei Ökonomen behaupten gar, die Streiks der Arbeiter seien eine Gefahr für die ägyptische Wirtschaft.4 Doch kaum jemand hört auf diese Warnungen.
In jedem Betrieb ein kleiner Mubarak
Der Staatsbetrieb Nasr Asmida in der Nähe von Suez stellt Pestizide und Düngemittel her – und er floriert. Es gibt viele Arbeiterwohnungen, ein Krankenhaus und Löhne, die über den anderswo geforderten 1 200 Pfund liegen. Trotzdem haben am 13. Februar 200 Angestellte an einer Kundgebung teilgenommen. Ihre Hauptforderung betrifft Firmenchef Adel al-Mouzi, den sie wegen Bestechlichkeit vor Gericht sehen wollen. Vor der Revolution war es schon wegen der Agenten des Staatssicherheit sehr schwierig, etwas zu unternehmen. „Jetzt können wir demonstrieren“, erzählt der Techniker Nabil Fahmy. „Heute herrscht Freiheit, die Armee beschützt uns. Vor der Revolution haben nur ganz wenige Menschen den Mund aufgemacht, heute können wir reden, uns hinsetzen und über die Probleme des Unternehmens diskutieren.“
Am 19. Februar haben die Anwälte des Ägyptischen Zentrums für wirtschaftliche und soziale Rechte von der Armeeführung verlangt, einen Maximallohn festzusetzen. Denn auch den sieht die ägyptische Verfassung vor, damit die Schere zwischen Arm und Reich nicht zu sehr auseinanderklafft. Chalid al-Chamissi ist überzeugt: „Die Revolution ist nicht zu Ende, sie fängt gerade erst an.“
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz