Rebellion, Kritik, Aufklärung
Die innere Freiheit des Islam von Charlotte Wiedemann
Wo rührt das her, diese Bereitschaft zum Umsturz? Dieses jähe Außerkraftsetzen von Angst, Hemmungen und lang eingeübter Demut? Die Befähigung zur Revolte wurde Muslimen nicht zugetraut, gelten sie doch als Gefangene einer religiösen Gefühls- und Geisteswelt, die mit Unterdrückung besser harmoniere als mit Freiheitsdrang. Die Regime, die nun stürzen, passten zum herkömmlichen Bild des Islam weitaus besser als die Umstürzler. Auch der dumpfe bewaffnete Dschihadismus fügte sich in dieses Raster: eine reaktionäre Revolte, extrem patriarchalisch. Und nun ein geradezu anti-autoritärer arabischer Bildersturm. Passen Islam und Emanzipation womöglich doch zusammen?
Ein befriedigtes „Allahu Akbar“ beim Anblick einer brennenden Polizeiwache – Religion ist bei den jüngsten Erhebungen immer dabei, als Triebkraft, Ermunterung, Rückversicherung.1 Doch sie definiert nicht das Ziel der Erhebungen. Damit haben sich die neuen Bewegungen von der Dominanz des islamistischen Diskurses befreit – und doch sind sie in einem entscheidenden Punkt seine Kinder: in ihrem unbedingten, fast skrupellosen Verlangen nach Gerechtigkeit. Die Aufständischen haben die Gewissheit, dass Gott, der Islam und seine Werte auf ihrer Seite stehen beim Sturz eines Präsidenten – das versteht sich für Muslime, zumal für sunnitische, keineswegs von selbst.
Über Jahrhunderte haben sich sunnitische Rechtsgelehrte den Kopf zerbrochen über die Frage, ob einem ungerechten Herrscher zu gehorchen sei. Sie blieben, wie öfter, auf komplizierte Weise uneins. Erst in den vergangenen Jahrzehnten hat sich unter dem Einfluss populärer islamistischer Prediger ein radikalerer Konsens herausgebildet, nicht in den Gelehrtenstuben, sondern auf der Straße und vor den Fernsehschirmen: Ungerechte Herrschaft müsse von keinem Muslim anerkannt werden. Diese wirkmächtige Prämisse macht nun für konservative Bevölkerungsteile all jene sozialen Tabubrüche verzeihlich, die von den Jungen, Vorpreschenden im Moment der Revolte begangen werden. „Allah hat uns den Rap gegeben, damit wir uns von Unrecht befreien können“, sagt der 22-jährige tunesische Rapstar Hamada Ben-Amor („El Général“). Natürlich weiß er, dass er seine Stücke selber schreibt. Aber so erklärt er die Akzeptanz durch seine religiöse Familie.
Zugleich haben die Revolten den Geist vieler Muslime aus einer verhängnisvollen, falschen Alternative befreit: Als könne, wer berechtigterweise antiwestlich ist, kein Demokrat sein, sondern allenfalls Islamist. Demokratie ist kein westlicher Wert, sondern genauso ein arabischer oder muslimischer. Dies auf großer Bühne gesehen zu haben, wird gegen Islamismus resistenter machen.
Mit seinem Gottesverständnis, seiner Universalität und seinen Gleichheitsidealen steht der Islam emanzipatorischem Denken nicht prinzipiell im Wege. Trotzdem wirkt das islamische Menschenbild widersprüchlich: Der Islam ermuntert zur Freiheit und betont zugleich so sehr den Gehorsam. Zunächst die freiheitliche Seite: Ein transzendentes Verständnis von Gott, dessen „Einheit“ (tauhid) im Mittelpunkt des Glaubens steht – keineswegs nur als Absage an die christliche Dreifaltigkeitskonstruktion, sondern theosophisch verstanden als Einheit des Universums. Der Mensch ist Teil davon, er hat göttliche Attribute, braucht keine Popen für sein Heil, liegt nicht von Erbsünde verschmutzt im Staub eines irdischen Jammertals. Das häufige Gebet soll helfen, dessen gegenwärtig zu sein, sich von kleinlichen Abhängigkeiten zu lösen und – Allahu Akbar, Gott ist größer als alles – innere Freiheit zu gewinnen. So klar, so einfach, so schön ist der Islam.
Doch gleich daneben Enge und Kleingeistigkeit: Wie ein Kind, das sich ständig selbst gefährdet, wird der Gläubige eingehegt von Regeln, umstellt von Verboten. Mit der Erlahmung kreativen religiösen Denkens im Laufe der Jahrhunderte wirkte die Religion immer mehr wie eine Anleitung zur Unmündigkeit. So entstand das Bild vom Muslim als unfreiem Menschen: der sich keine Entscheidungsfreiheit zubilligt, kein Selfmanagement zutraut; der nicht neben einem Mädchen sitzen darf, weil ihn sonst die Begierde übermannt. Ein Mensch, der sich nicht erproben, sich nicht korrigieren kann.
Vor allem in der jungen Generation, aufgeputscht von Gerechtigkeitsidealen und eingesperrt in patriarchale Strukturen, hat dieser Zwiespalt enormen psychischen Sprengstoff produziert. Die Aufstände könnten nun der Beginn einer neuen Selbstermächtigung der Individuen sein, die Befreiung aus einer auch selbst verschuldeten Unmündigkeit. Weniger in Libyen, doch in Tunesien, Ägypten, Jemen und Bahrain gibt die Rolle der Zivilgesellschaft Anlass zu dieser Hoffnung. Wer morgens zur Revolte geht, kommt abends verändert nach Hause zurück. Im Aufstand beteten Frauen neben Männern, nicht hinter ihnen. Noch weiß niemand, was aus all dem folgt.
Die FDP unter den Religionen
Revolte und Fatalismus: Zu jeder Unterdrückung gehört ein Selbstbild des Unterdrückten. Dass der Muselmane besonders schicksalsergeben sei, ist nicht nur ein westliches Stereotyp. Während des Osmanischen Reichs und der nachfolgenden kolonialen Besatzungen nahm Untertanenbewusstsein Zuflucht bei einem irrigen, keineswegs genuin islamischen Begriff göttlicher Vorherbestimmung: kismet, nicht zu ändern. „Herabwürdigend“ sei dieser Fatalismus, klagte der indische Philosoph Muhammad Iqbal schon 1930; Iqbal, der als geistiger Begründer Pakistans gilt, war mit Sigmund Freud vertraut. Er rief die Muslime auf, die Rolle der Persönlichkeit wieder zu entdecken; der Islam wolle „die Macht, frei zu handeln, als konstanten und uneingeschränkten Faktor im Leben des Ego“.
Wenn maghrebinische Blogger heute jubeln: „Es lebe die Revolution, es lebe die Freiheit, es lebe der Islam“, erinnert das ein wenig an Impulse im Iran der 1970er Jahre. Ali Schariati, ein junger Soziologe, an der Sorbonne promoviert, hatte damals immensen Einfluss auf die gebildete Jugend; ohne ihn wäre die spätere Revolution nicht denkbar gewesen. Schariati verlangte den radikalen Ausstieg aus der Selbstknechtung: Schluss mit religiöser Unterwürfigkeit! Erlösung nicht durch rituelle Selbstgeißelung, sondern durch Kampf, Kritik, Aufklärung. Schariati hatte Sartre gelesen, übersetzte Frantz Fanon ins Persische. Ein Muslim des 20. Jahrhunderts, schrieb er, atme intellektuell „innerhalb des Dreiecks Sozialismus, Existenzialismus, Islam“. Die Revoltierenden von heute springen kürzer, aber sie springen mit einem ähnlichen Selbstbewusstsein: Islam und Freiheit passen zusammen.
Ungeachtet der jeweiligen Doktrinen ist die Geschichte des Islam reich an Aufständen. Sie beginnt bereits kurz nach dem Tod des Propheten mit der Rebellion derer, die später Schiiten genannt werden: gegen einen ihrer Ansicht nach unrechtmäßigen Anführer der Gemeinschaft. Im Zeitraffer erscheint die islamische Sozialgeschichte ruhelos, selbstquälerisch, aufrührerisch – und dabei sisyphosgleich immer als ein Streben nach Ordnung, nach einer geordneten Gemeinschaft. Fitna, das ist im Arabischen der Bürgerkrieg, der Bruderzwist, aber auch der Unfrieden, den verführerische Frauen anrichten könnten.
Legendär einige große antikoloniale Revolten. Der Mahdi-Aufstand ab 1881 gegen die britisch-ägyptische Herrschaft im Sudan gilt als erste erfolgreiche Erhebung auf afrikanischem Boden. Ihr Anführer Muhammad Ahmad hatte sich zum Mahdi, zum religiösen Erlöser erklärt. Die Rebellion währte 18 Jahre, führte zur Eroberung weiter Landesteile. Ungefähr zur selben Zeit, von ganz anderer Art, die Tabakrevolte in Iran: Der damalige Schah hatte den Briten das Monopol im iranischen Tabakhandel überlassen; schiitische Geistliche riefen dazu auf, den Tabakkonsum einzustellen – die erste Fatwa im Dienste antiimperialistischer Verbrauchermacht. Der Umsatz brach ein, den Briten wurde die Lizenz wieder entzogen.
Im muslimischen Afrika richten sich ab dem späten 17. Jahrhundert Dschihad-Bewegungen gegen feudale Willkür und die mangelnde islamische Moral der Herrscher. Die Forderung nach Gerechtigkeit mit religiösem Purismus zu verbinden, ist kein so neues Phänomen. In Ostafrika wird im frühen 20. Jahrhundert die Konversion zum Islam ein Akt passiven Widerstands gegen die Kolonialherrschaft. In den folgenden Jahrzehnten bekommt der Islam unter Schwarzen in den USA eine besondere Aura: als Bezugspunkt der radikalsten Bürgerrechtler. Malcolm X schließt sich 1948 im Gefängnis der Gruppe „Nation of Islam“ an. Gegen Martin Luther Kings christlich-gewaltlosen Ansatz propagierte er die Selbstbehauptung der Schwarzen mit allen Mitteln. „Immer wenn ich eine Religion sehe, die mich nicht für mein Volk kämpfen lassen will, sage ich: zur Hölle mit dieser Religion. Deshalb bin ich ein Muslim.“
Die antirassistischen Prinzipien des Islam wurden vielfach geschändet, zumal von Arabern: Jahrhundertelang handelten sie mit schwarzen Sklaven. Dennoch haben die islamischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsideale für die meisten Muslime nichts an Strahlkraft verloren, und man kann unter erbärmlichsten Umständen auf einen armen Mann treffen, der leuchtenden Auges den Prophetensatz zitiert, die Menschen seien gleich „wie die Zähne eines Kamms“.
Freiheit und Gehorsam, Gleichheit und Differenz, das sind die Dichotomien des Islam. Die Mekka-Pilger, ledig aller Attribute von Status und Herkunft, baden in einem Meer der Gleichheit – das reale Saudi-Arabien ringsum ist eine extrem hierarchische Gesellschaft, voller Verachtung für seine acht Millionen Gastarbeiter. Der Islam ist entstanden als eine Religion der Händler, er billigt das Reichwerden, liebt Unternehmertum und Mittelstand, er ist sozusagen die FDP unter den Religionen, und bei den ägyptischen Muslimbrüdern sind nicht zufällig viele Ärzte. Sie werden sich nun mühen müssen, für die sozialen Forderungen des Volksaufstands Antworten zu finden, die über ihre Wohlfahrtsideologie hinausgehen. In der Vergangenheit hatten die Muslimbrüder den Slogan vom „Sozialismus des Islam“ geprägt: Er sei in der Religion bereits eingebaut, mit der Pflicht zu Almosen und Abgaben; so werde Harmonie zwischen den Klassen erreicht.
Algerien hatte bereits 1988 seine Jugendrevolte, noch ohne Facebook, doch die Ziele waren nicht so sehr verschieden von den heutigen Aufständen. Die Islamisten gerierten sich damals als Träger des sozialen Protests und betrogen dann bitter alle Hoffnungen. Unter algerischen Jugendlichen, die heute allem und jedem misstrauen, haben Versuche der Selbstverbrennung eine düstere Alltäglichkeit. Die Revolte sei die Weigerung, „als Ding behandelt zu werden“, schrieb Albert Camus, in Algerien geboren. Für diese jungen Algerier ist der Akt der Selbstzerstörung anscheinend die einzige Möglichkeit, sich für einen Moment als autonomes Subjekt zu empfinden.
In der europäischen Linken sind praktizierende Muslime selten. Außerhalb Europas stehen sie jedoch mit größter Selbstverständlichkeit in sozialen Kämpfen. So war es schon in Ägypten unter Mubarak: Die Facebook-Gruppe „6. April“, die zum Tahrirplatz mobilisierte, erinnerte mit ihrem Namen an das Datum eines großen Textilarbeiterstreiks in der Stadt Mahalla. In Mali kämpfen Arbeiter durch monatelange Besetzungen gegen Privatisierungen. Im Senegal erheben sich seit zwei Jahren in der Hauptstadt Dakar regelmäßig ganze Stadtviertel gegen die miserable Stromversorgung. Imame, früher im Senegal eher herrschaftstreu, setzten sich an die Spitze einer Demonstration.
Und natürlich gibt es Muslime, die für eine andere Weltordnung eintreten – bloß werden solche Aktivisten durch den hiesigen Blick meist ihres Muslimseins entkleidet: Sie sind „Afrikaner“, Vertreter des Südens. Der überhebliche Säkularismus der Linken sortiert sich gern einen Islam zurecht, der mit Fortschritt nicht kompatibel ist. Die Revolten in Nordafrika haben diese Stereotype beschämt.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin, zuletzt erschien von ihr: „Ihr wisst nichts über uns! Meine Reisen durch einen unbekannten Islam“, Freiburg (Herder) 2008.
© Le Monde diplomatique, Berlin